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Ernährung & Konsum

Mit Insekten am Status Quo festhalten

Gemäss der Welternährungsorganisation FAO steuern wir auf eine Ernährungskrise zu. Essbare Insekten sollen uns retten. Forschung und Lobbying sind bereits lanciert. Von Tobias Sennhauser (TIF).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Insektendegustation im Berner Bundeshaus: die Nationalrätin Isabelle Chevalley servierte den ParlamentarierInnen Mehlwurm-Burger, Grillen-Pastete und Larven-Zitronencake. Dazu brauchte die grünliberale Politikerin eine Bewilligung. „Meine KollegInnen nahmen die Idee mit Wohlwollen zur Kenntnis“, erklärt Chevalley auf Anfrage von tier-im-fokus.ch (TIF). Sie würden nicht verstehen, wieso die Vermarktung verboten ist. Daran arbeitet Chevalley schon länger. Im März 2014 wollte sie in einer Interpellation vom Bundesrat wissen, warum es in der Schweiz verboten ist, Insekten zu verkaufen.

Ernährungssicherheit gefährdet

Mit ihrem Anliegen ist die Politikerin nicht allein. Ende 2013 sorgte die Welternährungsorganisation (FAO) mit einer Publikation für Aufsehen. Die FAO fürchtet eine Ernährungskrise, es brauche Innovationen: industriell produzierte Insekten. Wenn die Landwirtschaft in der gegenwärtigen Form verbleibe, prognostiziert die FAO Düstereres: Bis 2050 dürfte die Weltbevölkerung auf 9 Milliarden angewachsen sein, die Nahrungsmittelproduktion muss sich nahezu verdoppeln. Die sogenannte Nutztierhaltung weise zwar kurzfristig hohe Produktivität auf, das aber zu massiven ökologischen Kosten. Diese sind bereits heute deutlich erkennbar. Knapp 20% der anthropogenen Treibhausgase gehen auf ihr Konto. Die Gülle verseucht das Grundwasser mit Schwermetallen. 70% der weltweiten Fischbestände sind überfischt. In Insekten sieht die FAO dagegen grosses Potential und verweist etwa auf ihre effiziente Futterverwertung. Im Vergleich zu Rindern schneiden Insekten 12 Mal besser ab. Der Grund ist ein biologischer: Insekten sind Kaltblüter und brauchen keine Energie für den Wärmehaushalt. Zudem benötigen die Allesesser kein Kraftfutter, sondern können auf Bioabfällen gezüchtet werden. Auch könnte die Nutzung der Insekten der künftigen Wasserknappheit vorbeugen. Ein Kilogramm tierliches Protein benötigt 5-20 Mal mehr Wasser als 1kg Weizenprotein. Rechnet man das sogenannte virtuelle Wasser dazu, das auch den Wasserbedarf bei der Futtermittelproduktion berücksichtigt, benötigt ein Kilo Rindfleisch 22.000 Liter Wasser. Gemäss der FAO würden Insekten demgegenüber massiv besser abschneiden.

Technokratie und Massentierhaltung

Derzeit werden Insekten meist wild gefangen. Doch laut der FAO eignen sich Insekten auch für die intensive Haltung. Sie verweist auf die hohen Wachstumsraten von Insekten, kurze Generationenfolgen, die Fähigkeit in hohen Dichten existieren zu können sowie die hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten. Zwar räumt die FAO ein, dass die industrielle Zucht unbekannte Folgen haben könnte. Allfälliger Skepsis gegenüber hochgezüchteten Superrassen begegnet man jedoch mit technokratischem Eifer. Auch die InsektenforscherInnen Birgit Rumpold und Oliver Schlüter fordern in einem Paper Techniken zur Automatisierung von Aufzucht, „Ernte“, Verarbeitung sowie Verteilung, um die gegenwärtig hohen Produktionskosten zu drücken. Zudem brauche es mechanische Technologien zur Entsorgung toter Tiere sowie zur Entfernung von Flügeln, Beinen und Köpfen. Die Massentierhaltung bei Insekten stösst aber auch auf Ablehnung: „Wenn man Insekten im industriellen Maßstab züchtet, bedeutet das Abermillionen Tiere auf engstem Raum – was den Einsatz von Medikamenten sehr wahrscheinlich macht. Wir wissen nicht, von welchen Krankheiten diese Tiere alle befallen werden und welche Hygieneprobleme wir uns bei einer Massenproduktion einfangen“, sagt Wilhelm Windisch vom Lehrstuhl für Tierernährung an der TU München gegenüber Die Welt.

Insektenmehl als Tierfutter

Die FAO sieht Insekten nicht nur als Ergänzung für die menschliche Ernährung, sondern auch als ökologische Futtermittel-Alternative bei Hühnern und Fischen. Aquakulturen benötigen jährlich 20 Millionen Tonnen Fisch. Da sie die Nachfrage nach Wildfischen zusätzlich ankurbeln, sind Aquakulturen „ein Motor der Überfischung, keine Alternative“, wie Billo Heinzpeter Studer, Präsident von Fair Fish, im TIF-Interview erklärte. Nun könnte der Einsatz von Insektenmehl bei Aquakulturen die Nachfrage an Fischen senken. Auch das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) sucht zusammen mit Detailist Coop sowie Industrie und Landwirtschaft nach neuen Proteinquellen für Fischfutter. Der Berner Futtermittelhersteller Hofmann Nutrition AG verarbeite Larven der Fliege Hermetia illucens zu Mehl und fabrizierte daraus ein Experimentalfutter. Die Testergebnisse in der Walliser Fischzucht New Valfish SA waren positiv. Die sogennante Wachstumsperformance von Forellen sei mit herkömmlichen Futtermitteln vergleichbar. Mit dem Hermetiamehl will das FiBL die drohende Proteinlücke für die tierliche Ernährung schliessen. Das Futtermittel ist jedoch noch nicht marktreif. „In grösseren Mengen kann es im deutschsprachigen Raum noch nicht hergestellt werden“, erklärt FiBL-Projektverantwortlicher Andreas Starner auf Anfrage von TIF. Allerdings gäbe es in Kanada und Südafrika Firmen, die bereits wöchentlich im Tonnenbereich produzieren könnten.

Widersprüchliche Prognosen

Was die Legalisierung von Handel und Produktion von Insekten anbelangt, zeigt sich Nationalrätin Isabelle Chevalley optimistisch. „Das neue Lebensmittelgesetz verfügt über eine Definition von Lebensmitteln, die Insekten beinhalten kann“, meint Chevalley. Die Politikerin hofft, dass in der neuen Verordnung, die im Herbst in die Vernehmlassung kommt, Insekten explizit erwähnt werden. „Man kann also vernünftigerweise davon ausgehen, dass in einem Jahr die ersten Bewilligungen erteilt werden.“ Weniger zuversichtlich gibt sich Andreas Starner (FiBL): „Die Schweiz begrüsst die neue Entwicklung, wird aber den Entscheidungen aus Brüssel nicht vorweg greifen“, vermutet der Agrarwissenschaftler. Es brauche Forschungsergebnisse im Hinblick auf die Unbedenklichkeit von Tiergesundheit und Produktesicherheit, bevor eine Zulassung in Betracht gezogen werde. Auch der Bundesrat spricht in seiner Antwort an Chevalleys Interpellation von unbeantworteten Fragen hinsichtlich Hygiene und Gesundheit und fordert mehr Forschungsbemühungen.

Kulinarische Komfortzone

Egal ob Burger, Pastete oder Cake – alles, was Chevalley im Frühling im Parlamentsgebäude in Bern servierte, wäre problemlos auch vegan möglich gewesen. Anders als bei Insekten sind Produktion und Handel von Pflanzen legal. Im Gegensatz zu Insekten empfindet niemand Ekel vor Pflanzen. Zudem nehmen wir bei Pflanzen 100% der Kalorien auf, während bei Insekten durch die Verlängerung der Nahrungskette 50% verloren gehen. Nicht zuletzt behaupten verschiedene Medienhäuser, dass vegan ein Wachstumsmarkt sei. Wäre es aus diesen Gründen nicht einfacher und sinnvoller, die vegane Ernährung zu fördern? Darauf reagiert Chevalley ungehalten. „Ich bin keine Sektiererin“, wettert die Grünliberale. Sie wolle der Welt keine Ernährungsweise aufzwingen, selbst wenn diese Vorteile hat. „Mit Insekten können FleischesserInnen dazu ermuntert werden, ihren Fleischkonsum zugunsten von Insekten zu reduzieren“, so Chevalley. Aus ökologischer Sicht sei das zu befürworten. So richtig überzeugen Chevalleys Argumente indes nicht. Was die Förderung von veganen Alternativen mit Sektierertum zu tun hat, bleibt schleierhaft. Auch schneiden pflanzliche Nahrungsmittel ökologisch gesehen am besten ab. Vielleicht geht es Chevalley um etwas anderes: Insekten könnten liebgewonnene kulinarische Gewohnheiten erhalten und erfordern keinen Wandel des Konsumverhaltens, kurz: sie garantieren den Erhalt von Fleisch, Milch und Eiern. Da stören VeganerInnen, die den Status Quo in der Lebensmittelproduktion grundsätzlich hinterfragen und das Effizienzdenken bei Tieren ablehnen, freilich nur.
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5 Kommentare

Tobi
vor 8 Jahre

das freut mich! Alles Gute, Tobi

Renato Werndli
vor 8 Jahre

Eine Superzusammenstellung von Tobias, gratuliere. Ich hatte auf den kürzlichen Bericht der NZZ darüber mit einem Leserbrief reagiert, der aber wahrscheinlich nicht abgedruckt wurde: „Warum bloß muss der Mensch pietätlos zur Nahrungsbeschaffung den Umweg über das Tier machen? Erstens ist es auch bei Insekten durchaus möglich, dass sie Schmerzen empfinden, schließlich fliehen sie bei drohender Gefahr. Und zweitens gehen bei Insekten zwar nicht 90% der Kalorien verloren wie beim Fleisch aber immerhin noch 50%. Da ist es doch ethisch und ökonomisch logischer, Pflanzliches zu verspeisen statt sie den Insekten zu verfüttern um dann ihre Körper zu essen“. Ich hatte Mühe, darüber zu recherchieren, der Bericht von Tobias ist echt wertvoll. Danke.LG Renato

tobi
vor 9 Jahre

Louis,

1) kannst du das belegen?
2) nur weil in der veganen Bewegung sektiererische Strömungen existieren, heisst das noch lange nicht, dass dies auf die ganze Bewegung zutrifft. Im Sinne einer emanzipatorischen Tierrechtsbewegung lehne ich totalitär-religiöse Strömungen ab.

Louis Sewol
vor 9 Jahre

Im Artikel wird gegen Ende gefragt:
“ Was die Förderung von veganen Alternativen mit Sektierertum zu tun hat, bleibt schleierhaft.“
1. Veganismus operiert durchs Band mit getürkten Statistiken und Studien.
2. Viele sektiererische Vereinigungen und Kulte, wovon ich bloss Universelles Leben nennen möchte, gehen mit veganer Ernährungsweise hausieren.
Nur schon darum hat diese Förderung sektiererisches an sich.

Susanne Bonanomi
vor 9 Jahre

Absurde Entwicklung! Vegan ist die einzige konsequente Lösung für das Hungerproblem

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