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Ernährung & Konsum

Die Milchindustrie steckt in der Krise

Die Milchindustrie steckt in der Krise. Nun geht die Milchlobby in die Offensive und fordert mehr Geld vom Staat. Doch das stösst auf Widerstand. Von Tobias Sennhauser (TIF).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Die Milchindustrie steckt in der Krise. „Mit der neuen Agrarpolitik erhalten viele Milchproduktionsbetriebe seit 2014 massiv weniger Direktzahlungen“, klagt Kurt Nüesch, Direktor der Schweizer Milchproduzenten (SMP). Die Rede ist von bis zu mehreren Zehntausend Franken pro Jahr. „Viele dieser Betriebe haben keine realistischen Möglichkeiten, diese Einbussen zu kompensieren“, so Nüesch.

Hinzu kommt seit anfangs Jahr die Frankenstärke. Das habe die Situation auf den (Export-)Märkten weiter verschärft und viele MilchproduzentInnen in existenzielle Nöte gebracht, wie SMP in einer Mitteilung schreibt.

Doch auch die Politik müsse handeln, um eine massive Wertschöpfungsvernichtung in der Milchwirtschaft abzuwenden. „Die einen werden die Milchproduktion einstellen, andere werden die Intensität und Effizienz der Produktion noch stärker ausreizen müssen, um zu ‚überleben'“, fürchtet Nüesch und fordert mehr Geld vom Staat.

„Subventionen führen zu Mehrproduktion“

Dafür hat Felix Schläpfer von der Denkfabrik Vision Landwirtschaft kein Verständnis. „Es gibt kein Recht, zu einem garantierten Preis beliebig viel Milch abzusetzen“. Für ihn sind die Probleme der Milchindustrie selbstverschuldet. Die Ursache des Preiszerfalls sei die Überproduktion: „Seit Jahren liegt der Brutto-Selbstversorgungsgrad bei den Milchprodukten bei 120 Prozent“.

Tatsächlich brach die Milchindustrie 2014 alle Rekorde. Mit über 3.5 Mio Tonnen erreichte die Produktion einen Höchststand. Auch die Käseproduktion erzielte mit über 185.000 Tonnen einen Bestwert. Dabei gibt es in der Schweiz immer weniger Milchbauern. In den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der Milchbetriebe um 60% reduziert. Und der Trend hält an: Jährlich schliessen rund 1.000 Betriebe ihre Stalltüren. Im Jahr 2000 gab es noch rund 48.000 Milchbetriebe, 2013 gerade noch rund 35.000.

„Die Hauptursache für die Überproduktion sind die Subventionen“, sagt Felix Schläpfer. Für ihn widersprechen die Direktzahlungen in diesem Ausmass dem Verfassungsauftrag der Agrarpolitik. Jährlich gelangten gegen 50.000 Tonnen Stickstoff über importierte Futtermittel in die Schweiz, wovon der grösste Teil davon in die Umwelt gehe. „Insbesondere flüchtiges Ammoniak belastet Wälder, Moore und andere naturnahe Ökosysteme viel stärker, als gesetzlich zulässig wäre“, kritisiert der Agrarexperte.

Qualitätsmerkmal Swissness

Kalb von der Mutter getrennt, im „Iglu“ | Foto © Klaus Petrus

Die Milchproduktion zu drosseln ist für Kurt Nüesch (SMP) indes keine Option. „Wenn in der Schweiz weniger Milch produziert wird, werden einfach mehr Milchprodukte importiert“, sagt Nüesch. Um die Krise zu bewältigen, will er stattdessen den Konsum ankurbeln.

Dazu lanciert Swissmilk, die SMP-Marketingorganisation, eine mehrmonatige, schweizweite Marketingoffensive. Ein Swissness-Projekt soll es richten: Milchprodukte sollen künftig einen eigens kreierten Milch-Sammelpunkt tragen, der für Merchandising im Swissness-Look eingesetzt werden kann. Die SMP hoffen auf die Solidarität der ganzen Branche.

Mit Swissness wird besondere Qualität in Sachen Tierschutz suggeriert. Zu unrecht: in der Schweiz leben rund 60% der Milchkühe in Anbindehaltung. Das Gesetz schreibt bloss an 90 Tagen Auslauf vor. So hat eine Kuh in Anbindehaltung während 275 Tagen gerade mal zwei Quadratmeter zur Verfügung. Der Bewegungsmangel führt oft zu Fuss- und Gelenkkrankheiten.

Die Mechanismen der Milchindustrie unterscheiden sich international kaum. Auch hierzulande sind die Hochleistungstiere permanent schwanger, um den Milchfluss aufrecht zu halten. Frisch geborene Kälber werden gleich nach der Geburt von den Kühen separiert und in „Kälberiglus“ gesperrt. Nach einem Bruchteil der eigentlichen Lebenserwartung werden 4 von 5 Kühen aus gesundheitlichen Gründen geschlachtet.

Lovely ist fit, die Milchindustrie ist fett

Die Milchpropaganda wird durch Steuermillionen mitfinanziert. SMP erhält dieses Jahr für Milchwerbung CHF 7.1 Millionen an Bundesgeldern. Das bestätigt das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf Anfrage von tier-im-fokus.ch (TIF). „Die Marketingoffensive der SMP findet im Rahmen der ordentlichen Absatzförderung statt“, erklärt Patrick Aebi, Leiter Fachbereich der Qualitäts- und Absatzförderung. Ob es wegen der Frankenstärke allenfalls eine zusätzliche Förderung seitens des Bundes geben könnte, sei offen.

Felix Schläpfer hält Werbung mit Steuergeldern für verfehlt. „Aus Sicht einer gesunden und ökologisch verträglichen Ernährung essen wir schon heute zu viele Milchprodukte“, so der Agrarexperte. Die Bundesmillionen kommen Lovely, die sportliche Heldin der Milchwerbung, zugute. Sie klettert, dribbelt oder räkelt sich auf der Yogamatte. Doch für Schläpfer ist die Computerkuh eine schlechte Botschafterin. „Schade, dass die Schweizer Milchwirtschaft nicht ebenso fit ist, sondern vielmehr übergewichtig und gefrässig, am Tropf der Staates“, so Schläpfer.

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