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Haustiere im Porträt

Bertrand le Beau – der sanfte Prachtskerl

Ohne ihn versinken die Hühner im Chaos. Bert, der Hahn, hat Führungsqualitäten. Seine Ansprüche sind hoch – auch an sich selbst. Von Sarah Heiligtag.

Text: Tier im Fokus (TIF)

An einem Weihnachtsabend klingelte eine Dame aus dem Dorf an der Tür. Ein Hahn müsse gerettet werden. Ihre Tochter habe Eier ausgebrütet und dabei erstaunt festgestellt, dass zur Hälfte männliche Küken geschlüpft seien. Diese könne sie aber nicht brauchen, einer sei noch übrig: Bertrand le Beau. Den Hühnerdamen bei uns hätte kein schöneres Geschenk gemacht werden können. Es zeigte sich schnell, wie wichtig ein Hahn für ein Hühnervolk ist. So gingen die Hühner abends unkoordiniert in den Stall und schliefen wild durcheinander. Mit Bert entstand ein viel organsiertes soziales Gefüge. Abends übernahm er den Lockruf, mit einem Laut, der den Hühnerdamen entspricht. Bestimmte Hühnerdamen durften bei ihm schlafen. So zum Beispiel Pünktchen, die sich am Bein verletzt hatte und nicht mehr auf die Stange hüpfen konnte. Jede fand ihren Platz, langsam kehrte Ruhe ein.

Der emotionale Wächter

Bert nimmt seine Aufgabe als Wächter der Hennen sehr ernst, ist dauernd im Job, überall zur Stelle. Wir müssen schauen, dass er selber zu genügend Nahrung kommt. Oder dass er sich emotional nicht verausgabt, wenn mal etwas schief läuft. Ja, der Hahn hat nicht nur ein unglaubliches Spektrum an Lauten zur Kommunikation, sondern auch Emotionen jeder Couleur. Er vermag uns zu spiegeln, wie wir uns gerade fühlen. Unsicherheit taxiert Bert mit einem Angriff, Sicherheit mit freundlicher Ruhe, gespielten Mut entlarvt er schnell, Unwissenheit toleriert er grosszügig. Doch kann Bert auch ernst und nachdenklich sein, ja tief traurig. Wie als Pünktchen starb. Und als die Füchsin kam.

Ein Loch im Zaun

Während direkt neben dem Hof eine Baustelle war, passierte es, dass im Hühnerzaun ein Loch entstand. Eine Füchsin hat es vor uns gesehen und vom Hunger geplagt ein Massaker angerichtet. 7 Hühner und alle Enten hat sie damals umgebracht, wohl in einem Stress, möglichst viele zu bekommen. Doch im Wahn hat sie keines mitgenommen. Vielleicht auch deshalb, weil Bert seine Hennen heldenhaft verteidigt hat. Ringdialarm, die Wächterhenne, schrie währenddessen so laut, dass wir aufschreckten und einschritten. Bert war sichtlich geschockt und stand den ganzen Tag lang am selben Ort. Gegen Abend sank er immer mehr in sich zusammen. Am nächsten Tag hing sein Kopf zum Boden. Ihn aufzurichten war unmöglich, er sank immer wieder in sich zusammen. Genickbruch? Verletzungen des Rückgrats? Kaum vorstellbar, dass er die Fahrt zur Tierärztin überleben würde. Sie untersuchte ihn geduldig und sorgfältig. Diagnose: Schock, Frust, Trauer. Er hatte seinen Job nicht gut gemacht, er hatte nicht alle Hennen verteidigen können. Nun wollte er sich aufgeben. Welch starke Empfindungen so ein kleiner Paradiesvogel haben kann!

Komplexes Innenleben

Die nächsten Tage waren davon geprägt, dass Bert sich immer in die Ecke stellte, in sich zusammen sank und wir ihn zwangsernähren mussten. Wir konnten uns dabei beobachten, wie wir ihm zuredeten, dass er ein ganz toller sei und einen unglaublichen Kampf überstanden habe. Dass er seine verbleibenden Damen grandios beschützt habe, und dass er für sie bleiben müsse. Ohne ihn sei das Hennenleben ein paar feuchte Körner wert. Er schien zu lauschen. Am vierten Tag wagte er ein erstes leises Kikeriki. Langsam, wirklich sehr langsam, kam Bert ins Leben zurück. Alle, die ihn damals erleben konnten, waren tief beeindruckt von der Intensität seiner Gefühle und Reaktionen. Er hat uns einmal mehr erahnen lassen, wie komplex das innere Leben von Tieren wirklich ist. Sarah Heiligtag ist Philosophin, Heilpädagogin und Landwirtin. Vom Ethikunterricht durch Erleben überzeugt, gründete sie mit ihrem Mann den Hof Narr, ein Lebenshof, wo Ethik gelebt und gelehrt wird.
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