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Politik & Gesellschaft

Der blinde Fleck der veganen Bewegung

Die vegane Bewegung hat in den letzten Jahren eine unglaubliche Entwicklung hingelegt. Gleichzeitig beschränkt sich die vegane Kritik weitgehend auf das Konsumverhalten und vernachlässigt dadurch andere, wichtige Bereiche, wie etwa die Politik und die Wirtschaft. Wie verhält sich die vegane Bewegung zur Ideologie des Individualismus und zu strukturellen Voraussetzungen?

Text: Tier im Fokus (TIF)

Viele Veganer*innen verweisen in ihrer Gesellschaftskritik primär auf die Verantwortung der Konsumierenden. Sie appellieren an die Menschen, kein Fleisch zu essen, keine Milch zu trinken, kein Leder zu kaufen und nicht in Zoos zu gehen. Sie vertreten die Auffassung, dass die Befreiung der Tiere vornehmlich eine Sache des Konsums sei. Mit dieser Auffassung aber begeben sich Veganer*innen in Komplizenschaft mit der neoliberalen (/kapitalistischen/bürgerlichen) Ideologie.

Angebot und Nachfrage?

Die Verbindung von Veganismus und Konsumkritik ist wie folgend: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Es gilt daher, die Konsumierenden dazu zu bewegen, weniger oder keine tierlichen Produkte zu konsumieren. Dieses Schema aber ist zu einfach, um der gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden. Es abstrahiert von den strukturellen Voraussetzungen ebenso wie von der Angebotsseite. Es lässt politische Entscheidungen, unternehmerische Kalkulationen und die Tatsache aussen vor, dass Bedürfnisse beeinflusst werden können (durch Werbung oder durch Produktplatzierungen in den Supermärkten).

Die Schweizer Landwirtschaft z.B. wird mit Milliarden Steuergeldern subventioniert. Insofern also wird das Angebot verzerrt, weil es bestimmten Anbietenden ermöglicht, billiger zu produzieren als auf einem «freien» Markt.

Eine Kritik, die alleine auf das Konsumverhalten abzielt, spiegelt kaum die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten wider. Von der Gewinnung der Rohstoffe, deren Bearbeitung, über den Transport bis zur Weiterverarbeitung, der Verpackung und schliesslich dem Verkauf und dem Kauf – die globalisierte Lebensmittelproduktion ist so komplex, dass die Reduktion auf Angebote und Nachfrage nicht angemessen ist.

Und auch die Idee, dass eine einzelne Person auf den Markt geht und dann bei einer Person einkauft und somit direkt das Angebot bestimmt, ist oft zu vereinfachend. Im heutigen Kapitalismus stehen sich nicht zwei einzelne Individuen gegenüber, sondern riesige, zum Teil globale Unternehmen. Diese produzieren auf kalkulierbarem Absatz, nicht auf direkte, einzelne Nachfrage. Es erfolgt eine Anpassung, wenn sich die Waren im Durchschnitt nicht mehr verkaufen lassen. Aber das ist eben nicht abhängig von einer einzigen Person, sondern von einer Masse. Das Individuum bekommt also erst dann eine Stimme, wenn aus individuellen Handlungen kollektive werden.

Warum (nur) Konsumkritik?

Die Beschränkung auf Konsumkritik ist vielmehr der Versuch, als Individuum noch Verantwortung übernehmen zu können. In einer Gesellschaft, in der die Individuen nicht darüber entscheiden können, was und wie produziert wird, ist es eine Erleichterung, Fleischesser*innen direkt die Verantwortung für die Zustände der Massentierhaltung zuschieben zu können. Das gilt für Landwirt*innen ebenso wie für Veganer*innen.

Schuldig an den Zuständen sind dann nicht mehr politische Entscheidungsträger*innen, Lobbyismus und Unternehmen, sondern nur jene, die konsumieren. Wer Fleisch kauft, töte direkt ein Tier, wer mit dem Auto fährt, vernichte direkt den Regenwald, wer billige T-Shirts kauft, versklave direkt Näherinnen in Bangladesch. Diese Vorwürfe verkennen die Komplexität der Warenproduktion. Und sie verkennen auch, dass es nicht die Menschen sind, die die Produktion in der Hand haben und darüber bestimmen, was und wie produziert werden soll.

Eine alternative Sichtweise zu mündigen und aufgeklärten Konsument*innen sind Konsument*innen, die kaufen, was ihnen vorgesetzt wird und die nicht darüber bestimmen können, was produziert wird. Der Einkaufskorb ist in dieser Lesart eben keine Wahl über die Bedingungen der Produktion. [1] In ihrer Konsequenz ist die blosse Kritik am Konsum eine Verbrüderung mit der neoliberalen Ideologie und der Ideologie des Individualismus.

Zumal die meisten Bürger*innen gar kein Interesse daran haben, dass sich die Bedingungen und das Angebot wirklich ändern, und diejenigen, die davon profitieren, sowieso nicht:
«Diesem Kompromiss ist auch die Idee geschuldet, man könne innerhalb des Systems und mit etablierten Handlungsmustern etwas ändern: weiter konsumieren, aber eben ‹ethische› Produkte. Aber es gibt kein richtiges Einkaufen im falschen Weltwirtschaftssystem. Der Kapitalismus lässt sich nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er inkorporiert alles, auch Protest und Kritik. Er macht sie zur Ware, konsumierbar, und stärkt sich damit selbst.» [2]

obstmarkt
Abstimmen beim Einkaufen? | Foto: Daria Shevtsova

Veganismus – mehr als nur eine Ernährung

Die vegane (und tierrechtlerische Bewegung) kann mit Recht als eine der erfolgreichsten (und eine der vielversprechendsten) des noch jungen 21. Jahrhunderts bezeichnet werden. Der Begriff Veganismus war vor 20 Jahren kaum bekannt, heute füllen Artikel über den Veganismus regelmässig die Zeitungen und Kommentarspalten. Aber dieser Erfolg hat seinen Preis: Veganismus wird mehrheitlich unter dem Aspekt der Ernährung diskutiert. Und er wird immer häufiger als Trend, Lifestyle und gesundheitliche Entscheidung deklariert und auf eine persönliche Entscheidung reduziert. Das ethische und tierrechtlerische Fundament rückt zunehmend in den Hintergrund.

Der Veganismus ist damit Teil einer Entwicklung, in der die Ernährung gesellschaftlich immer relevanter wird. Die Menschen sind übersättigt mit Nahrungsmittelangeboten. Es geht nicht mehr darum, dass etwas auf den Tisch kommt, sondern was auf den Tisch kommt. Die Menschen interessieren sich nicht mehr dafür, nur satt zu werden. Sie wollen auch noch gesund leben.

Sich über das Essen zu definieren, ist Teil einer individualistischen Ideologie. Auch wenn es verfehlt ist, die wachsende Bedeutung der Ernährung als Religionsersatz zu bezeichnen, so wird in unserer Gesellschaft Ernährung zunehmend individualisiert. Und die Unternehmen machen sich das zunutze und schreiben auf ihre Produkte «vegan», wenn sich dadurch der Absatz ankurbeln lässt. Dabei wäre es ganz besonders für Veganer*innen wichtig, mit der neoliberalen Ideologie zu brechen.

Die neoliberale Ideologie kennt die Freiheit nur als die Freiheit des Konsums und des Eigentums (an Produktionsmitteln). Das wusste schon Karl Marx: «Lassen Sie sich nicht durch das abstrakte Wort Freiheit imponieren. Freiheit wessen? Es bedeutet nicht die Freiheit eines einzelnen Individuums gegenüber einem anderen Individuum. Es bedeutet die Freiheit, welche das Kapital geniesst, den Arbeiter zu erdrücken» (MEW 4, 456). Antispeziesistisch gewendet: Freiheit wessen? Es bedeutet die Freiheit, welche die speziesistische Person geniesst, empfindungsfähige Tiere töten zu lassen und zu essen.

Vegane Burger in Fastfoodläden – eine gute Sache?

Kürzlich wurde bekannt, dass McDonald’s in Finnland einen veganen Burger anbieten möchte. In der veganen Szene waren die Reaktionen darauf meist: «Wie kann man nur McDonald’s unterstützen, McDonald’s ist böse!» oder «Klasse, Hauptsache den Tieren ist geholfen!». Beide Aussagen sind zu einfach. Zugegeben: McDonald’s ist eines der grössten fleischverkaufenden Unternehmen und eine Zuspitzung der Ideologie des Speziesismus. Aber das Problem ist nicht diese oder jene Firma, sondern das Problem ist ein System, in dem Tiere zu Waren und Produktionsmitteln degradiert werden.

Es ist  ein Schritt voran, wenn McDonald’s (oder andere Global Player) einen veganen Burger anbietet. Aber man sollte darüber auch nicht zu euphorisch sein: McDonald’s geht es nicht um das Tierwohl, sondern um Profit. Und Veganer*innen sind nur eine weitere Kundschaft, mit der man Geld verdienen kann. [3] Man sollte also weder in Jubelschreie verfallen mit dem Argument, am Ende zählt nur, dass weniger Tiere leiden müssen. Denn dafür sind die Auswirkungen weniger veganer Burger in Fastfoodketten viel zu gering und die «Hauptsache für die Tiere»-Einstellung führt allzu schnell in menschenverachtende und antiemanzipatorische Enstellungen.

Andererseits ist es auch zu verkürzt, nur die grossen Unternehmen abzulehnen. Denn nach dem Argument, dass diese hauptsächlich von Tierleid profitieren oder auch tierliche Produkte anbieten, dürfte man in keinem Supermarkt mehr einkaufen und in keinem Restaurant mehr essen.

System- statt Konsumkritik

Es wäre falsch, die Konsumebene komplett auszublenden. Aber man sollte den Anspruch des Veganismus und die Kritik am Speziesismus nicht darauf reduzieren. Anstatt sich also auf den Konsum und die Ernährung zu beschränken, sollten Veganer*innen die Leute für die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Tiernutzung sensibilisieren und nicht bloss jemanden anklagen, der/die Milch in seinen/ihren Kaffee gibt. Alleine an die Einzelnen zu appellieren bedeutet, die gesellschaftlichen Strukturen zu verkennen, die von den Konsumierenden nicht oder nur schwer beeinflusst werden können.

Zudem entschuldigt das das Handeln wirtschaftlicher und politischer Akteur*innen, die sich (angeblich) nur den Interessen der Bürger*innen unterordnen. Der Klimawandel ist dann keine Frage der Strom-, Öl- und Braunkohlekonzerne mehr, sondern abhängig davon, ob Einzelne mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Nachhaltigkeit ist keine staatliche Aufgabe mehr, sondern abhängig von Konsumierenden, die im Supermarkt keine Plastiktüten mehr kaufen sollen.

Es sollte nicht nur versucht werden, an Individuen zu appellieren und diese aufzuklären (obwohl das mit gesellschaftlichen Veränderungen Hand in Hand geht). Sondern auch, die politischen Entscheidungen zu beeinflussen, die Unternehmen zu sensibilisieren und am Gesetzgebungsprozess beteiligt zu sein.

Gerade die Schweiz bildet hier ein sehr gutes Beispiel. Im vergangenen Jahr lancierte Sentience Politics eine Initiative für Primatengrundrechte in Basel-Stadt. Jüngst folgte die nationale Volksinitiative zur Abschaffung der Massentierhaltung. Beide Initiativen sind nicht nur für Veganer*innen und Tierrechtler*innen relevant, sondern ebenso für Menschen anschlussfähig, die (noch) nicht komplett gegen die Tierhaltung sind. Freilich muss im Gegensatz zu anderen Ländern in der Schweiz erst mal öffentlich anerkannt werden, dass es auch hier Massentierhaltung gibt.

Es gilt aufzuzeigen, dass die Tiernutzung generell rückständig und nicht zukunftsorientiert ist. Aber dieses Bewusstsein ist nicht alleine durch einen Appell an das Konsumverhalten zu schaffen. Veganismus mag auf dem Teller beginnen, aber als Bewegung gehört er in die Parlamente und auf die Strassen.

Fussnoten

[1] In veganen Kreisen wird oft kolportiert, dass der Einkaufswagen ein Wahlzettel sei. Das ist nicht nur wirtschaftlich fragwürdig, sondern auch politisch: Wenn die einzige Möglichkeit, das System zu beeinflussen, individuelle Handlungen im Supermarkt sind, nicht aber politische Aktionen (angefangen von Demonstrationen über parlamentarische Vertreter*innen bis hin zu Volksinitiativen), ist das sehr bezeichnend. Wenn es im Feminismus einst hiess: «Das Private ist politisch», so heisst es heute im Veganismus: «Das Politische ist privat.»

Ich möchte anmerken, dass es mir hier um eine Beschreibung geht, nicht um eine Wertung. Wenn ich dafür plädiere, das Schema von Angebot und Nachfrage kritisch zu hinterfragen und in seiner Wirkung nicht zu überschätzen, dann geht damit nicht einher, den Veganismus aufzugeben (sondern andere Bereiche, wie politisches Handeln, stärker zu machen).

[2] Oder auch nicht, wenn es keine Aussicht auf Profit gibt: Bio- und Vegan-Zielgruppe zu klein für McDonald’s, Allgemeine Handels- und Gastronomie-Zeitung vom 8. Januar 2018.

[3] WELTRETTUNG IM SUPERMARKT – WIE ETHISCHER KONSUM EIN UNETHISCHES SYSTEM STÜTZT, Zeitschrift Luxemburg, Mai 2018.

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