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Mensch & Tier

Die reale Wirkung des „Unrealistischen“

Der Tierethiker Jean-Claude Wolf hat für tier-im-fokus.ch (tif) einen provokativen Artikel verfasst. Darin erklärt er, weshalb wir einen Mittelweg brauchen zwischen traditionellem Tierschutz und der radikalen Forderung nach Abschaffung der Tierausbeutung. Wolfs Vorschlag: eine Moral des gut, besser, am besten. Was eine durchaus kontroverse Sache ist, wie der Kommentar von Martin Pätzold (maqi) zeigt.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Der vorliegende Artikel ist ein Kommntar zu Jean-Claude Wolfs Traditioneller Tierschutz, radikaler Tierschutz und der ethische Meliorismus.

Weitere Kommentare gibt es von Sebastian Leugger, Urs Müller und Gary Steiner.

Dass die Abschaffung (Abolition) der Tierindustrie, wie auch der Übergang der Menschen zum Veganismus, nicht sofort geschehen wird, ist richtig. Das betrifft die Strategie des Abolitionismus jedoch nicht. Denn es ist einmal zu unterschieden, wie sich sozialer und persönlicher Wandel vollzieht (nämlich nicht immer, aber meist graduell), und einmal, mit welchen Forderungen dieser Wandel am Besten einzuleiten und zu erreichen ist. Wie ich im Folgenden erläutere, sind jene Forderungen am Geeignetsten, die auf das Endziel fokussieren und Zwischenschritte deutlich kritisieren.

Dabei greife ich Jean-Claude Wolfs Ablehnung der Analogie mit historischen Befreiungsbewegungen in seinem Artikel Traditioneller Tierschutz, radikaler Tierschutz und der ethische Meliorismus auf und zeige, wieso die heutige Situation nicht viel anders ist und dass es die damalige Kompromisslosigkeit war, die den ethischen Fortschritt einleitete. Die Gemeinsamkeit liegt u.a. darin, dass Forderungen nur theoretisch realistisch sein müssen (was gegeben ist), ansonsten aber progressiv sein sollen, um die gesellschaftliche Debatte in Schwung zu bringen.

Probleme des Meliorismus sind seine psychologischen Auswirkungen. Da er die Stufen vor dem Veganismus nur mässig kritisiert, macht das es leichter, dort stehen zu bleiben. Im Weiteren weise ich den Vorwurf des Pessimismus und des Moralisierens des Veganismus zurück, sowie Wolfs Kritik, dass radikale Veganer und Tierrechtler ein schlechtes Bild abgeben. Schliesslich gehe ich darauf ein, warum man auch rationale Argumente nicht ausser Acht lassen darf, und umreisse die Perspektive der Umsetzung für eine abolitionistische Position.

Die Analogie mit der historischen Befreiungsbewegung

Die Analogie mit dem historischen Abolitionismus sei laut Wolf schwach. Ich denke dagegen, dass es genügend starke Parallelen gibt, um ihn zum Vergleich heranzuziehen. Dieser Vergleich stützt letztlich das Vorgehen des heutigen Abolitionismus.

Gegen die Analogie spricht laut Wolf die Tatsache, dass sich Menschen selbst befreien können, nichtmenschliche Tiere jedoch nicht; sie müssen „von aussen“ befreit werden. Das ist theoretisch gesehen richtig, hatte für die Praxis aber kaum Relevanz.

In der Jahrtausende währenden Geschichte der Sklaverei gab es unter den hunderten (oder eher tausenden) von Sklavenaufständen lediglich einen einzigen, der (zudem nur regional beschränkt) die Sklaverei auch tatsächlich beendete (Flaig 2009, 202). Alle anderen Aufstände haben, selbst wenn sie erfolgreich waren, das Gesamtsystem der Sklaverei nicht geändert. Auch wenn Sklaven bloss geflüchtet sind, war dies fast immer nur mit Hilfe „von aussen“ möglich. So war es die Underground Railroad, die in den USA den Grossteil aller Fluchten ermöglichte (Finzsch 2005, 553).

Dass nichtmenschliche Tiere „von aussen“ befreit werden müssen, spricht somit nicht gegen die Analogie, denn bei menschlichen Sklaven war es nicht viel anders. Daher ist es gerechtfertigt, die Tierrechtsbewegung selbst als „Befreiungsbewegung“ zu bezeichnen, nicht nur als Analogie zu anderen Befreiungsbewegungen.

Die Grenze des Gradualismus: festgefahrene Situationen

Wie Wolf herausstellt brauchen tiefgreifende Veränderungen Zeit und nicht selten haben nicht moralische, sondern ökonomische oder andere Faktoren einen grossen Anteil an der letztendlichen Umwälzung.

Während ökonomische Faktoren für viele gesellschaftliche Änderungen eine Voraussetzung sind, sind sie jedoch selten der Auslöser. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung wurde die Sklaverei in den Südstaaten der USA nicht wegen ihrer ökonomischen Ineffizienz (die dort seit spätestens 1850 bestand) abgeschafft. Im Gegenteil: Es wurde an dieser Praxis festgehalten, obwohl sie sich ökonomisch nicht mehr lohnte und für die Gesamtwirtschaft weniger Bedeutung hatte, als meist angenommen wird. Der Grund war in erster Linie der Rassismus in den Köpfen der Sklavenhalter (Finzsch 2005, 597f.; Rice 1975, 392). Dieser war so tief in ihrem Denken verwurzelt, dass selbst um an einer ökonomisch ineffizienten Praktik festzuhalten, ein Bürgerkrieg in Kauf genommen wurde.

Auch die Tierindustrie ist weitestgehend unökonomisch, das ist allgemein bekannt. Ob der Verlust bei der Umwandlung von pflanzlichem in tierliches Protein bei 90 Prozent oder – wie die Kritiker einwenden – teilweise nur noch bei 50 bis 80 Prozent liegt, sei dahingestellt, eine enorme und unnötige Verschwendung bleibt es allemal.

Dennoch nimmt die Produktion von Tierprodukten vor allem in den Schwellenländern weiter zu und stagniert in der westlichen Welt auf hohem Niveau. Der Grund besteht darin, dass es auch hier nicht primär um Wirtschaftlichkeit geht, sondern um Ideologie.

Der Anthropologe Nick Fiddes hat gezeigt, dass der Konsum von Tierprodukten bei vielen Menschen in Verbindung mit einem (meist nicht bewusst reflektierten) Machtgefühl steht (Fiddes 1993). Diese Macht nach aussen zu demonstrieren, bedeutet sein Sozialprestige zu steigern. Ökonomische sowie erst recht ökologische und ethische Argumente werden in diesem Fall schlichtweg ignoriert.

Deshalb ist zu erwarten, dass auch das Ende des Speziesismus nicht durch eine graduelle Verschiebung des ethischen common sense erreicht werden kann, wie Wolf vorschlägt, denn ein Teil der Gesellschaft ist für ethische und andere rationale Argumente nicht zugänglich und wird es nie werden. Das Ende des Speziesismus wird vermutlich eher durch eine Polarisierung der Gesellschaft in Befürworter und Gegner und die schliessliche machtpolitische Überwindung der prospeziesistischen Fraktion erreicht werden.

Wolf befürchtet in diesem Zusammenhang ein „Zerbrechen der Rechtsgemeinschaft“. Der Bürgerkrieg in den USA, der aus obiger Analogie in den Sinn kommen könnte, war jedoch eine Ausnahme; eine Überwindung durch legislative Mittel analog zur Überwindung der Sklaverei zu England und anderen Staaten ist auch im Fall der Tierindustrie wahrscheinlicher. Doch selbst wenn die Rechtsgemeinschaft zerbrechen würde, wäre das immer noch das kleinere Übel gegenüber dem grösseren, das darin bestünde, das Unrechtssystem bestehen zu lassen.

Die Antwort auf Wolfs Frage, „Sind es die Tiere wert, dass die Menschen ihnen ihren Rechtsfrieden opfern?“, lautet demnach: „Ja, wenn es nicht anders geht.“ Das Leben von Individuen ist wichtiger als gesellschaftliche Harmonie.

Fragen der Strategie

Die historische Situation ähnelt auch in weiteren Bereichen der heutigen. Die historischen Abolitionisten (die Immediatisten) stellten unter den Sklavereigegnern ebenfalls nur eine Minderheit dar, die Mehrheit (die Gradualisten) befürwortete eine „graduelle Emanzipation“ oder schärfere Gesetze und lehnte die Forderung nach totaler Abschaffung der Sklaverei als unrealistisch und übertrieben ab (Finzsch 2005, 103, 558).

Reformen wie z.B. das Verbot des Sklavenhandels von 1807/08 (England/USA) waren jedoch wirkungslos. Die transatlantischen Überfahrten von Sklavenschiffen erreichten trotz dieses Verbots und erst nach ihm ihren Höhepunkt (Flaig 2009, 206f.) und in den USA stieg die Anzahl der Sklaven trotzdem weiter an (Finzsch 2005, 122f.).

Die Erfolglosigkeit solcher Reformen bewirkte in England einen Strategiewechsel der „Society for the Mitigation and Gradual Abolition of Slavery“ („Gesellschaft für die Milderung und graduelle Abschaffung der Sklaverei“). Sie benannte sich in die nun abolitionistisch (immediatistisch) ausgerichtete „Anti-Slavery Society“ um. „Ihre Agitation ebnete in den folgenden Jahren den Weg zur vollständigen Aufhebung der Sklaverei in allen Territorien des britischen Empire durch den ‚Abolition of Slavery Act‘ im Jahr 1833.“ (Gestrich 2005, 240) In den USA befand sich die Antisklavereibewegung 1831 „auf einem absoluten Tiefpunkt“ und gewann durch das Auftreten Garrisons, der die Sklaverei kompromisslos und direkt kritisierte, an Dynamik (Finzsch 2005, 550).

Erfolgreich war diese Strategie, weil radikale Forderungen besser dazu geeignet sind, das Thema ins Bewusstsein der Menschen zu holen. Dadurch wird es zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion gemacht, die die notwendige Polarisierung bewirkt. Abgeschwächte Forderungen mögen zwar realistischer sein, sie können aber leichter ignoriert werden.

Radikale Forderungen als Leitfunktion

Der psychologische Erfolg radikaler Forderungen resultiert daraus, dass die meisten Menschen zu einem Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Positionen neigen. Als „angemessene Lösung“ bei einem gesellschaftlichen Konflikt wird man sich meist an der Mitte der beiden Positionen orientieren.

Soll das Ergebnis dieses Ausgleichs möglichst weit auf der eigenen Seite liegen, muss die eigene Position entsprechend möglichst „extrem“ sein. Begrenzt wird diese Extremheit dadurch, dass die Forderung theoretisch realistisch und damit glaubwürdig sein muss. Das ist bei der Abschaffung der Tierindustrie der Fall, weil sie ökonomisch nicht notwendig ist (sondern im Gegenteil verschwenderisch).

Gilt es einzelne Menschen vom Veganismus zu überzeugen, so ist das Prinzip im Grunde das gleiche. In diesem Fall hiesse das: Jeder Mensch kann sofort und ohne Umweg vegan werden.

Nun wissen wir, dass nicht jeder sofort vegan wird (obwohl es immer mehr Personen gibt, bei denen das der Fall ist). Aber es wäre jedem Menschen möglich und man kann begründen, weshalb es notwendig ist, vegan zu leben. Um die Leitfunktion im gesellschaftlichen Diskurs optimal zu erfüllen und beim Ausgleich das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, ist es nicht sinnvoll, hinter dieser Forderung zurückzubleiben.

Toleranz und Konsistenz

In der Praxis wurden bisher nur wenige Menschen sofort vegan. Daher – so könnte man einwenden – scheinen radikale Forderungen ungeeignet, weil vermutet wird, viele fühlten sich von diesem für sie nicht realistischen „sofort vegan“ abgeschreckt. Dieser Einwand ist deshalb unbegründet, weil der Satz nicht lautet: Jeder „muss“, sondern jeder „kann“ ohne Umwege vegan werden.

Wenn jemand denkt, dass er oder sie Zwischenschritte braucht, kann man das tolerieren, ohne deshalb von der abolitionistischen Position abzuweichen. Der entscheidende Unterschied ist, dass man Umwege nicht (im Vorhinein) gutheisst. Denn dann werden sie aus Bequemlichkeit auch in den Fällen gemacht, in denen sie gar nicht nötig wären. Toleriert man sie nur, macht jeder von sich aus nur so viele Zwischenschritte, wie für ihn wirklich notwendig und nicht so viele, wie für ihn bequem sind.

Werden dagegen – ganz im Sinne der moralischen Leiter des ethischen Meliorismus von Wolf – Positionen gutgeheissen, die eine Stufe „vor“ dem Veganismus liegen wie z.B. die vegetarische Ernährung, so widerspricht das der ethischen Konsistenz.

Denn wie erklärt man, dass das Ausbeuten und Töten von Rindern für das eine Tierprodukt (Fleisch) falsch ist, aber das Ausbeuten und Töten derselben Tiere für ein anderes Tierprodukt (Kuhmilch) in gewisser Weise richtig? Wie kann man also ethisch begründen, Vegetarier zu loben („Laktovegetarier sind besser“) oder gar zu sagen, „Menschen, die wenig Fleisch essen, sind gut“?

Etwas, das falsch ist, kann nicht gut sein. Auch wenn man diese Unterscheidung mit der praktischen Umsetzbarkeit begründen kann und selbst wenn diese Richtigkeit bzw. das Lob – wie in Wolfs ethischem Meliorismus – beschränkt und problematisiert wird, wäre eine solche Haltung für Tierrechtler ethisch nicht konsistent, sondern widersprüchlich. Damit verliert sie an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft und gerade darauf kommt es an.

Zwischenpositionen als Endzustand

Gut, besser, am besten? © tier-im-fokus.ch (tif)

Das Hauptproblem besteht im Phänomen des „Einnistens“. Die Positionen zwischen Durchschnittskonsum und Veganismus (also die Wenig-Fleischesser oder Vegetarier) werden oft nicht als Zwischenschritte gesehen, sondern als Endzustand: Die meisten Vegetarier werden nicht vegan, sondern sie bleiben Vegetarier.

Wolf will diesem Umstand dadurch entgegentreten, dass Veganer ständig als Vorbild präsent sind. Das reicht jedoch nicht aus. Jeder Veganer, der in seinem Freundes-, Familien- und Arbeitsumfeld Nicht-Veganer hat, wird bestätigen können, dass die Vorbildfunktion alleine wenig bewirkt. Das „blosse Wissen um die Existenz des moralisch Besseren“ ist eine Voraussetzung, sich zu ändern, es muss aber noch kein Grund sein.

Wenn Menschen vegan werden, kann das erklärt und beschrieben werden als Folge der Überwindung einer kognitiven Dissonanz (dazu allgemein Frey & Gaska 1993; spezifischer Kew 2010, v.a. 29-31). Ihr Verhalten (also der Konsum von Tierprodukten, die Leid und Tod der Tiere bedeuten) stimmt nicht mit ihrer Einstellung (nämlich Tiere vor Leid und Tod bewahren zu wollen) überein.

Um mit dieser Dissonanz, diesem Widerspruch leben zu können, gibt es Ausweichmöglichkeiten sowohl im Verhalten (z.B. der Kauf von vermeintlich tierfreundlicheren „Freiland“- oder „Bio“-Produkten) als auch im Denken (z.B. indem ignoriert wird, dass auch für die Produktion von vegetarischen Tierprodukten die Tiere leiden und getötet werden).

Der Grund, weshalb die Menschen eher versuchen, mit der kognitiven Dissonanz zu leben, statt ihr Verhalten zu ändern, liegt in ihrer Bequemlichkeit. Sich beispielsweise einzureden (und einreden zu lassen), die Haltungsbedingungen in der „Bio“-Produktion seien signifikant besser als in der konventionellen, erscheint einfacher, als die Ernährung auf vegan umzustellen.

Um Menschen zum Veganismus zu bringen, ist es deshalb nötig, ihr Ausweichverhalten als solches zu kritisieren: Es geht darum zu erklären, warum auch für die vegetarische Ernährung Tiere sterben und warum „Alternativ“- oder „Bio“-Produkte nicht besser sind. Damit wird es ihnen unmöglich gemacht, die Dissonanz weiterhin aufrechtzuerhalten, sodass ihnen nur übrig bleibt, ihr Verhalten zu ändern, das heisst: vegan zu werden.

Der Wolfsche Meliorismus jedoch würde das Aufrechterhalten der kognitiven Dissonanz durch das Lob der Zwischenpositionen unterstützen. Dagegen steht zwar das Korrektiv des leichten Tadels; es muss aber bezweifelt werden, ob dies ausreichend ist. Zur Überwindung des tief verankerten Speziesismus und der menschlichen Bequemlichkeit ist eine ethisch konsistente und stärker anspornende Forderung geeigneter.

Pessimismus, Verbote und Humanisierung

Ist die Orientierung am Veganismus pessimistisch? Redet er den Menschen ein, in „ihrem bisherigen (langen) Leben alles falsch gemacht“ zu haben?

Ich behaupte „Nein“, denn so wie ich und andere den ethischen Veganismus vertreten, ist er nicht moralisierend, sondern in Anlehnung an die Ethik/Moral-Unterscheidung von Schmidt-Salomon (2009) „ethisierend“.

Nach dieser Auffassung wird ethische Verantwortlichkeit betont und nicht moralische Schuld. Als in einer tief speziesistischen Gesellschaft aufgewachsen, kann man den Menschen keine Schuld für ihre Sozialisation zuschieben und sie für ihre nicht-vegane Vergangenheit verurteilen. Keiner ist seines Unveganismus „schuldig“, egal welchen Alters, und niemand muss sich deshalb schuldig fühlen oder gar „Busse tun“.

Vielmehr geht es darum, dass jeder für seine aktuellen bzw. zukünftigen Handlungen die Verantwortung übernimmt und bei seinen neuen Entscheidungen die Informationen über die Auswirkungen des Konsums von Tierprodukten berücksichtigen sollte, die ihm durch Tierrechtler gegeben werden oder er selbst ermittelt. Diese Form der Kritik ist konstruktiv und damit positiv, nicht vernichtend oder pessimistisch.

Veganismus ist nicht moralisierend, denn er kennt keine Gebote oder Verbote. Es gibt keine puristischen, quasireligiösen Verbote. So verbietet er z.B. nicht pauschal Tierprodukte. Auch menschliche Muttermilch ist ein Tierprodukt, trotzdem dürfen (und sollen) vegane Kinder gestillt werden; auch menschliches Blut ist ein Tierprodukt, trotzdem dürfen (und sollen) Veganer Blutspenden annehmen.

Auch ist der Veganismus nicht asketisch, es gibt keinerlei Beschränkung hinsichtlich „ungesunder“ (z.B. fettreicher) Nahrung. Er beruht dagegen auf ethischen Prinzipien. Nicht Tierprodukte sind „verboten“, vielmehr sollen Tierprodukte, deren Gewinnung Leid verursachen, vermieden werden (andere nicht). Nicht fettreiche oder zuckerhaltige Nahrung ist „verboten“, sondern diese Produkte sollen vermieden werden, wenn ihre Gewinnung Leid verursacht (sonst nicht). Daher gibt es auch veganen Käse, vegane Würstchen, veganes Eis usw. Dass es noch Potenzial für weitere Alternativprodukte gibt und Veganismus zurzeit eine gewisse Einschränkung nach sich zieht, ist eine Folge fehlender Angebote (die wiederum auf fehlende Nachfrage zurückgehen) und nicht das Resultat der Prinzipien des Veganismus.

Daher ist die Raucheranalogie von Wolf unpassend. Veganismus bedeutet nicht, etwas ersatzlos „aufzugeben“, was schwer sein kann. Vielmehr geht es (bis auf bestimmte Ausnahmen) darum, unvegane Produkte durch vegane Alternativen auszutauschen, was deutlich leichter ist. Nicht: „Trink keine Milch!“, sondern: „Trink Soja- oder Reis- oder Hafermilch!“ Nicht selten berichten Veganer darüber, wie sich mit dem Veganismus die Auswahl an Lebensmitteln und Gerichten, auf die sie zugreifen, vervielfacht hat.

Dass der Meliorismus den Wettbewerb stärker humanisiert als der Veganismus, gebe ich zu, doch sehe ich darin nicht fraglos einen Vorteil. Wie weiter oben dargelegt, braucht es einen Anreiz, sich zu ändern, weil es bequemer ist, es nicht zu tun. Der „Wettbewerb“ – eher: das Streben nach dem Besseren – bietet diesen Anreiz und den Grund, die Bequemlichkeit zu überwinden und überwinden zu wollen.

Der Wettbewerb ist hier (wie in der Wirtschaft) der Anreiz zur Verbesserung. Beachtet man dabei die Devise, nicht mit Schuld zu kritisieren, sondern mit Verbesserungsvorschlägen, die Zeit, die zur Umstellung gebraucht wird nicht gutzuheissen, aber zu tolerieren, droht auch kein „permanenter Kleinkrieg“. Auch „konditioniert“ kein Veganer Kinder „zum Ekel vor dem Genuss von ‚Tierleichen'“, sondern vermittelt ihnen ethische Vorstellungen und nimmt ihnen bestimmte Entscheidungen solange ab, wie sie sie nicht selbst treffen können.

Zur Kritik an Veganern

Dass Veganismus, wie Wolf betont, zu einer „subkulturellen Abschottung“ führe, mag in Einzelfällen zwar richtig sein, darf aber kaum dem Veganismus selbst angelastet werden. Denn der Grund hierfür ist die Differenz zur „Normalkultur“ und in diesem Zusammenhang nicht nur das Sich-Ausschliessen, sondern auch das Ausgeschlossenwerden.

Dieses Phänomen ist allen alternativen Lebensentwürfen mit einer grossen Differenz zum gesellschaftlichen Standard eigen. Der ethische Veganismus und damit auch die Tierrechtsposition ist jedoch betont nach aussen offen, schliesslich möchte man andere überzeugen. Und das wäre nicht möglich, würde man sich abschotten. Daher sind diese Tendenzen Einzelfälle und werden mit der voranschreitenden gesellschaftlichen Etablierung des Veganismus geringer. Mit welch grossen Schritten diese Entwicklung vorankommt, machen die letzten zehn Jahre deutlich: Die Auswahl veganer Produkte, Restaurants und die mediale Berichterstattung haben sich deutlich verbessert.

Die Lösung für das Problem einer möglichen „Abschottung“ besteht darin, Veganismus aktiv zu fördern und nicht nur nebenbei zu erwähnen. Sich durch Rückzug auf andere Positionen von ihm zu distanzieren, ist dabei nicht hilfreich.

Das gleiche gilt für die „Hypermoralisierung“ des Alltags. Das oft als übertrieben kritisierte Vermeiden von auch geringen Mengen tierlicher Produkte in Lebensmitteln (wie das Vermeiden eines Produkts, dessen Aroma auf Rinderfett beruht), dient nicht der Profilierung als „Über-Veganer“. Es geht darum, ein Problembewusstsein dafür zu wecken, wie stark unser Alltag mit Tierprodukten durchdrungen ist, und es sollen über Boykotte und Nachfragen die Firmen zur Änderung der Produktionsweise anregt werden. Diese Strategie hatte bereits Erfolg: Zahlreiche Produkte, bei denen nur kleine Änderungen des Produktionsprozesses nötig waren und vorgenommen wurden, können jetzt als vegan gelten und machen (Neu-)Veganern durch die grössere Auswahl das Veganwerden und Vegansein leichter. Das wäre nicht möglich gewesen, hätte man es abgelehnt, sich mit solchen „Kleinlichkeiten“ zu befassen.

Zur Kritik an Tierrechtlern

Wenn Tierrechtler als unter dem „Generalverdacht der Missachtung der bestehenden Rechtsordnung“ stehend gelten und ihre Aktionen als „terroristisch“ beschrieben werden – wie Wolf in seinem Artikel erwähnt –, so liegt dem eine fehlende Differenzierung zwischen Radikalismus und Militanz zugrunde.

Tierrechtler bzw. Abolitionisten sind radikal – und zwar im (wörtlichen) Sinn, da sie die Wurzel (lat. radix) der Probleme bekämpfen wollen und nicht bloss die Symptome –, aber nicht militant. Die militante Fraktion, die teilweise auch Nötigungen von Personen (Drohanrufe usw.) durchführt, bezeichnet sich zum einen häufig in betonter Abgrenzung von Tierrechtlern als „Tierbefreier“ bzw. „Liberationisten“, zum anderen ist sie nicht (oder nur selten) radikal, sondern wählt Ziele aus, die nur der Symptombekämpfung dienen. Viele der militanten Tierbefreier befürworten zusätzlich Reformismus. (Wobei andersherum nicht alle, die sich als „Tierbefreier“ bezeichnen, notwendigerweise militant sind; viele lehnen Nötigungen von Personen genauso ab.)

Die Medien berichten oft über militante Aktionen, weil das höhere Auflagen oder Quoten verspricht. Tierrechtler distanzieren sich indessen von Aktionen, die gegen Personen gerichtet sind, da das dem Tierrechtsgedanken widerspricht; sie distanzieren sich teilweise auch von Sachbeschädigungen, wenn der (infolge strategischer Ineffizienz geringe) Nutzen das schlechte Image nicht aufwiegen kann.

Tierbefreiungen hingegen sind fast immer positiv, weil sie (falls diese Aktionen von den Medien richtig dargestellt werden) Sympathien wecken und Aufklärungsarbeit leisten. Die normale Bevölkerung sympathisiert eher mit den geretteten Tieren und schämt sich der aufgedeckten Zustände, als dass sie geringfügige Gesetzesübertretungen kritisiert. Dass Tiere in der gegenwärtigen Gesellschaft als Eigentum behandelt werden, ist im Denken der meisten Menschen kaum präsent. Daher ist es fraglich, ob Abolitionisten „von der Mehrheit der Menschen als Feind der Eigentumsordnung wahrgenommen“ werden, wie Wolf behauptet.

Parteilichkeit und Verhalten

Wolf ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass Menschen parteiischer sind als sie es eigentlich sein wollen und dass sie nicht immer so handeln, wie sie es ihren Überzeugungen entsprechend müssten. Dass ich dies ebenfalls annehme, zeigt meine Argumentation mit der kognitiven Dissonanz, die den letzten Punkt stark unterstreicht (siehe oben).

Doch auch in diesem Fall ziehe ich andere Schlüsse als Wolf. Denn genauso wie es eine Tatsache ist, dass die meisten Menschen nicht völlig rational und unparteiisch handeln, ist es eine Tatsache, dass sie denken, sie würden es tun.

Wenn es darum geht, Motivation zu erzeugen (hier: sich zum Veganismus hin zu ändern), darf man bei der Suche einer geeigneten Strategie beide Tatsachen nicht aus den Augen verlieren. Das heisst einerseits, dass man sich auch an ihre Rationalität wendet (z.B. mit rationalen ethischen Argumenten), auf die logische und ethische Konsistenz der eigenen Position achtet und deshalb mögliche Umwege ihrer Umstellung nicht gutheisst (also Vegetarismus nicht fördert). Das heisst andererseits, dass man diese Umwege, wenn nicht vermeidbar, toleriert, man nicht mit Schuld argumentiert und die Umstellung zum Veganismus auf der praktischen Ebene durch Hilfestellung (wie durch Rezepte) erleichtert.

Perspektive der Umsetzung

Wandel erfolgt immer schrittweise, sowohl bei einzelnen Personen (vom Unveganer zum Veganer) als auch in der Gesellschaft (von der Tiersklaverei zu ihrer Abschaffung). Daher erscheint der Abolitionismus, der scheinbar keine Zwischenpositionen toleriert, intuitiv unrealistisch.

Dass er keine Zwischenschritte zuliesse, ist jedoch nicht richtig. Die Kritik der Zwischenschritte hat andere Gründe. Das Problem mit „Schritten in die richtige Richtung“ besteht nicht darin, dass es Schritte sind, sondern: dass es selten die richtige Richtung ist. Reformen, welche die Tierindustrie ökonomisch profitabler machen, weisen genauso in die falsche Richtung wie das Loben von Vegetariern, bei denen die Gefahr besteht, den Vegetarismus nicht als Übergang, sondern bequemen Endzustand anzusehen. Selbst wenn diese Veränderungen kleine Vorteile mit sich bringen können (wie das Tierleid zu reduzieren, was jedoch in beiden Fällen keineswegs immer der Fall ist), werden sie durch den Nachteil aufgewogen, die neue, weiterhin unbefriedigende Situation gefestigt zu haben. Das ist dann kein Fortschritt, sondern ein Nullsummenspiel.

Wenn der ethische Meliorismus oder Gradualismus abgelehnt wird, dann nicht, weil infrage gestellt wird, dass persönlicher und sozialer Wandel schrittweise erfolgt, sondern gerade deswegen. Der Wandel erfolgt schrittweise, egal, ob man kleine Schritte fordert (oder gutheisst) oder ob man sie bloss toleriert. Falls man solche Schritte fordert, bekommt man nur sie, nicht mehr, meist aber weniger. Wenn man aber mehr fordert (und die Forderung rein theoretisch realistisch ist), bekommt man vielleicht nur (aber immerhin) sie, möglicherweise auch ein wenig mehr.

Der historische Abolitionismus hat es gezeigt: Trotz radikaler Forderung war die Abschaffung der Menschensklaverei oftmals (aber nicht immer) graduell (Engerman 2008). Er hat aber genauso gezeigt, dass die Entwicklung in Richtung Abschaffung erst durch seinen Radikalismus vorangekommen ist; und dass die Beendigung der Sklaverei nur über die gemässigten Positionen teilweise nicht, teilweise nur langsamer erreicht worden wäre. Dieses Wissen gilt es zu nutzen.

Literatur

Engerman, S. (2008): Emancipation schemes. Different ways of ending slavery, in: Slave Systems. Ancient and Modern, ed. E. D. Lago und C. Katsari, Cambridge [u.a.], 265-282.

Fiddes, N. (1993): Fleisch. Symbol der Macht, 3. Aufl. (2001), Frankfurt/M.

Finzsch, N. (2005): Konsolidierung und Dissens. Nordamerika von 1800 bis 1865, Münster.

Flaig, E. (2009): Weltgeschichte der Sklaverei, München.

Frey, D. & Gaska, A. (1993): Die Theorie der kognitiven Dissonanz, in: Theorien der Sozialpsychologie, Band I: Kognitive Theorien, ed. A. Gaska und M. Irle, 2. vollst. überarb. und erw. Aufl., Bern [u.a.], 275-326.

Gestrich, A. (2005): Die Antisklavereibewegung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Unfreie Arbeits- und Lebensverhältnisse von der Antike bis in die Gegenart, ed. E. Hermann-Otto, Hildesheim [u.a.], 237-257.

Kew, Barry (2010): Brutalism – Sentimentalism and the ’sanity of temperament‘. Cognitive and cultural dissonance, in: Critical Society 2/2010, 26-34.

Rice, D. C. (1975): The Rise and Fall of Black Slavery, Baton Rouge.

Schmidt-Salomon, M. (2009): Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, 5., akt. und erw. Aufl. (2010), München [u.a.].

Martin Pätzold ist bei der Tierrechtsinitiative Maqi aktiv und studiert zurzeit an der Freien Universität Berlin. Von ihm stammt auch der Artikel „Mehr Auslauf, mehr Labels – mehr Tierwohl?“

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4 Kommentare

Robert Schneider
vor 8 Jahre

Google nach „Methylcobalamin“ als Lutschdingens. Das funktioniert bzgl. B12 immer, selbst bei schlechtem Intrinsicfaktor. Von dem üblicherweise verkauften Cyanocobalamin nehme ich Abstand, da es schlechter wirkt und auch im Verdacht steht, die Aufnahme hochwertigen B12s zu be- oder verhindern. Eisenmangel kann man m.W.n. gut durch Vitamin C zu den Mahlzeiten verhindern. Selber achte ich da nicht so drauf, nehme einen ganz leicht unter normal liegenden Wert hin, macht mir keine Probleme.

Lislott Pfaff
vor 11 Jahre

Grossen Dank für diese sehr interessanten Ausführungen! (Ich bin auf dem Weg vom Vegetarismus zum Veganismus und hoffe das Ziel trotz einiger Probleme, u.a. Mangel an Vitamin B12 und Eisen im Blut, zu erreichen.)

Martin Pätzold
vor 12 Jahre

Das ist eigentlich keine Einschränkung, sondern eher eine genauere Bestimmung („…, da bei Vegetariern die Gefahr besteht, dass sie…“). Denn diese Gefahr besteht grundsätzlich bei allen Vegetariern, die sich „Zeit lassen“. Die Gefahr besteht nicht bei solchen Vegetariern, die sofort vegan werden; aber damit sind sie logischweise bereits keine Vegetarier mehr und fallen daher hier heraus.

Joe
vor 12 Jahre

„Reformen… weisen genauso in die falsche Richtung wie das Loben von Vegetariern, bei denen die Gefahr besteht, den Vegetarismus nicht als Übergang, sondern bequemen Endzustand anzusehen.“
Interessante Einschränkung! Doch woran erkennen wir genau, ob dies der erste Schritt zum Veganismus ist, oder ob die Person sich nur in Ihrer „Bequemlichkeit“ einrichten will? Bräuchten wir dazu nicht eine prophetische Gabe?
Oder sagt die Erfahung, dass jeder Vegetarier schon sofort weiß, ob er/sie irgendwann vegan leben wird?

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