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Rezension

„Am Beispiel des Hummers“ (David Foster Wallace)

Alljährlich findet im US-Bundestaat Maine ein mehrtägiges Gelage mit Konzerten, Familienspielen und Kochwettbewerben statt, bei dem über 9.000 Tonnen Hummer gekocht und verzehrt. Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace besuchte 2003 das Festival und schrieb darüber eine Reportage, die zuerst im Feinschmeckermagazin "Gourmet" erschienen ist – nicht gerade das, was die LeserInnen erwartet hatten… Eine Rezension von Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

David Foster Wallace, Am Beispiel des Hummers, Kiepenhauer & Witsch 2010, ca. CHF 12.–

Alljährlich findet im US-Bundestaat Maine ein Event statt, das ganz im Zeichen des Hummers steht, der in dieser Region bereits seit den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts industriell verarbeitet wird. Lange Zeit ein Armeleuteessen, gilt der Hummer heute als Delikatesse – ein Image, welches das Maine Lobster Festival mit der Losung „Hummer für alle“ gerne korrigieren möchte: Während vier Tagen werden an diesem Gelage mit Konzerten, Familienspielen und Kochwettbewerben über 9.000 Tonnen Hummer gekocht und verzehrt.

Verloren auf einem Volksfest

2003 besuchte David Foster Wallace das Festival, um im Auftrag des amerikanischen Feinschmeckermagazins „Gourmet“ eine Reportage zu verfassen. Dass daraus nicht ein herkömmlicher Bericht über gehobene Küche wurde, dürfte die Redaktion bereits im Vorfeld gewusst haben. Wallace ist kein Mann vom Fach, sondern galt schon damals als einer der wichtigsten Vertreter der postmodernen amerikanischen Literatur und stand spätestens seit Erscheinen seines Romans Infinite Jest im Jahr 1996 unter ständigem Genieverdacht (2009 ist das Buch unter dem Titel Unendlicher Spass in deutscher Sprache erschienen).

Tatsächlich nimmt Wallace in diesem rund 60-seitigen Text vorwiegend eine Aussenperspektive ein. So richtig wohl mag ihm auf diesem Volksfest nämlich nicht sein, wie schon auf den ersten Seiten deutlich wird. Der „Reporter“ (wie er sich selbst eher ironisch bezeichnet) klagt über die schlechte Organisation, die mässige Musik, fehlende Servietten und das Wetter. Und widmet sich stattdessen der wirtschaftlichen Rolle, welche die Hummerindustrie für Maine einnimmt, der biologischen Kategorisierung des Lobster und diversen Zubereitungsarten. All das tut Wallace kenntnisreich, unterhaltsam und irgendwie unbeteiligt.

Der Philosoph und der Hummer

Bis der studierte Philosoph nach etwa der Hälfte seines Essays auf die eigentliche Attraktion des Maine-Festivals zu reden kommt – auf den weltgrössten Hummerkessel – und eher beiläufig fragt: „Ist es eigentlich in Ordnung, aus reiner Freude am Genuss ein fühlendes Wesen in einen Topf mit kochendem Wasser zu werfen?“

Ab dieser Stelle beginnt ein moralischer Diskurs über die Ethik des Essens, „am Beispiel des Hummers“ (der Orginaltitel der Reportage heisst „Consider the Lobster“). Wallace reflektiert über das Schmerzempfinden dieser Tiere, beschreibt ihr Verhalten in für sie bedrohlichen Situationen und hinterfragt allerhand Methoden einer mehr oder weniger „humanen“ Tötung.

Dabei ist Wallace sehr betont darum bemüht, auf alles Moralisierende im moralischen Umgang des Menschen mit dem Tier zu verzichten. Was ihn umtreibt, ist dieses Unbehagen, das wohl die meisten von uns dann und wann beschleicht, wenn wir in Gedanken über den Tellerrand hinaus schweifen und in diesem Stück Fleisch das Tier erahnen – um es Augenblicke später bis auf die Knochen zu verspeisen.

Moral ohne Ende

Wie mit dieser Irritation umzugehen ist, lässt der Schriftsteller offen. Wallace liegt nicht an fertigen Lösungen, sondern am Zwiespalt, den er gegen Ende des Buches aufs Beste verdichtet.

Dort nämlich zitiert er noch einmal die Wissenschaft herbei: Offenbar können Hummer keine körpereigenen Opioide produzieren, die in Stresssituationen bekanntlich helfen, Schmerzen zu unterdrücken. Was, so Wallace, entweder bedeute, dass diese Tiere noch weit schmerzempfindlicher sind als unsereins, oder dass sie zwar Schmerzen haben, sich daran aber nicht stören.

Wallace selbst möchte am liebsten, wie er zugibt, an Zweiteres glauben. So richtig gelingen mag ihm das aber nicht. Und verweist auf das simple Faktum, welches er schon Seiten zuvor eindringlich beschrieben hat: wie der bei lebendigem Leib gekochte Hummer bis zur letzten Sekunde versucht, dem Topf zu entrinnen, wie er an den Deckel stösst und mit seinen Scheren an den Innenwänden kratzt. „Spätestens bei diesem Anblick lässt sich schwer mehr leugnen, dass hier ein lebendiges Wesen vernichtenden Schmerzen ausgesetzt ist.“

Am Ende reicht Wallace seine eigene Irritation an die LeserInnen weiter: „Denken Sie manchmal über den Wert eines Tierlebens nach – falls dieser Wert überhaupt existiert? Denken Sie auch darüber nach, dass diese Tiere leiden müssen – falls sie denn leiden?“

Antworten darauf hat der „Reporter“ keine. Er wollte wissen, was wir dazu meinen.

David Foster Wallace (1962-2008) studierte an der Cornell University Philosophie und war Professor für Englische Literatur. Er galt als einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Postmoderne und erlangte mit seinem 1996 erschienenen Roman Infinite Jest Weltruhm (deutsch Unendlicher Spass, 2009). Danach wandte sich Wallace von dieser Literaturform weitgehend ab, verfasste 2003 eine Biographie über den Mathematiker Georg Cantor und publizierte zahlreiche Reportagen (z.B. Schrecklich amüsant, Original 1997), Erzählungen (Oblivion, 2004) sowie Essays (Consider the Lobster and Other Essays, 2005). Wallace litt offenbar unter schweren Depressionen und nahm sich mit 46 Jahren das Leben.

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1 Kommentar

Nikfarjam
vor 13 Jahre

Als Kinder können fast alle diese Fragen noch beantwortet werden. Mit zunehmendem Alter und äußerer Beeinflussung (Werbung) immer weniger. Wenn bei den „Nutztierprodukten“ mal ähnliche Warnhinweise Pflicht sind, wie heute bei Tabakprodukten, dann sind wir weiter!

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