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Mensch & Tier

Vegan Straight Edge: Lifestyle oder Ideologie?

Wer sind diese Kids, die ultra-harte Musik hören, auf Drogen aller Art verzichten, One-Night-Stands verwerflich finden und obendrein noch vegan leben? Konsumrebellen, Gesundheitsfanatiker, Moralapostel? Anfänglich gegen die No-Future-Attitüde der Punks gerichtet, schwankt diese Subkultur namens Straight Edge seit den 1990er Jahren zwischen verantwortungsvollem Lifestyle und teilweise schrägen Ideologien hin und her. Wo steht der Straight Edge heute? Eine Spurensuche von Klaus Petrus und ein Interview mit dem Straight-Edge-Experten Gabriel Kuhn.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Null Bock auf no future

Keine Brachial-Punks, keine Tattoos bis zum Hals, nicht einmal ein schwarzes X auf der Hand. Irgendwie sehen die Jungs gar nicht danach aus. xSidx, 23, winkt ab: „Vergiss diese Klischees! Nimm zum Beispiel die Sache mit „Kein Sex!“. Wir sind nicht gegen Sex, wie das immer geschrieben wird. Wenn einer sagt „Don’t drink!“, meint er ja auch nicht, man solle überhaupt nichts trinken. Es geht darum, nicht einfach rumzuvögeln, das ist alles.“

So in etwa hat es auch der US-Amerikaner Ian MacKaye in einem Interview gesagt. Von ihm stammen die Zeilen „Don’t drink / Don’t smoke / Don’t fuck / At least I can fucking think“. Der Song heisst „Out of Step“, das war 1981 und zu einer Zeit, als Ronald Reagan den „War on Drugs“ ausrief und seine Frau Nancy mit der Kampagne „Just Say No“ republikanische Werte zu retten meinte.

Keine One-Night-Stands, sich nicht zudröhnen und benebeln lassen. Wer bewusst so lebt, ist Straight Edge, oder kurz: sXe. Anfänglich war das gegen die destruktive Attitüde der Punks gerichtet, gegen no future und fucked up. Das schwarze X auf dem Handrücken ist in der Szene zu einem Erkennungscode geworden: Offenbar markierten damit früher die Türsteher in den Staaten auf Konzerten alle Kids unter 18, da an sie noch kein Alkohol ausgeschenkt werden durfte.

Dass aus MacKayes Strophe über Nacht ein Verhaltenskodex wurde, ein moralisches ABC der Reinlichkeit, wollte dem Sänger der Hardcore-Band Minor Threat aus Washington, D.C., nicht gefallen. Als der Song „Out of Step“ 1983 noch einmal aufgenommen wurde, fügte MacKaye der ursprünglichen Fassung die Zeilen hinzu: „Hört zu, das sind keine Verhaltensregeln! Ich sage euch nicht, was ihr tun sollt!“

Die Debatte um die richtige Auslegung von „Straight Edge“ ging damit erst richtig los.

Was jeder selbst wissen muss

„Straight Edge ist eine persönliche Sache, das entscheidet jeder für sich selbst.“ Marc ist 19, studiert Mathematik und lebt seit drei Jahren Straight Edge. Damals hatte er einen Absturz, tags darauf kam mit dem Kater die Einsicht: „Das lohnt sich nicht, ist völlig unnötig, kostet nur und macht Kopfschmerzen.“ Geraucht hat er nie, auch andere Drogen sind kein Thema gewesen. Dass es für seine bewusste Abstinenz einen Namen gibt, habe er erst später bemerkt.

Auch Serge hatte sein Schlüsselerlebnis: „Wir hingen im Jugendlokal rum, haben uns volllaufen lassen und stundenlang darüber diskutiert, was sich alles ändern muss. Plötzlich dachte ich mir: ein schöner Haufen, redet über Revolution und kann nicht mehr auf den Beinen stehen.“ Das war vor sechs Jahren. Seither lebt der 22jährige drogenfrei, ist Straight Edge mit Leib und Seele. „Mir geht es um meine Gesundheit. Und um Kontrolle: Ich will alles, was ich mache, mit klarem Kopf tun, will immer wissen, wie ich handle und warum.“ Wie andere das sehen, sei ihm egal, schliesslich muss jeder selbst wissen, ob er sich „wegschiessen“ will. „Zwingen kann man niemanden.“

So liberal ging es in der Straight-Edge-Szene nicht immer zu. Mitte der 1990er Jahre gab es in den USA Übergriffe auf Jugendliche, die beim Konsum von Alkohol oder Marihuana erwischt wurden. Militante Straight Edger bekannten sich zu den Gewalttaten und hinterlegten Botschaften wie „Our way or no way“.

Ein Grossteil der Bewegung lehnt einen solchen Fundamentalismus aber entschieden ab. „Es geht ja gerade darum, selbst zu denken, selbst zu entscheiden, wie man leben will.“ Den anderen Straight Edge aufzuzwingen oder sie zu massregeln, zielt an der ganzen Idee vorbei, davon ist xSidx überzeugt. Was nicht heisst, dass Straight Edge nur Sache des Geschmacks ist. Er sieht das auch politisch: „Diese Tabakkonzerne, der ganze Dogenhandel: alles dreht sich ums Geld, und das auf Kosten der Gesundheit anderer. Ein schmutziges Geschäft. Wenn du Straight Edge bist, setzt du ein Zeichen: Du willst nicht teilhaben an irgendwelchen Mechanismen, die zerstörerisch sind und Abhängigkeiten schaffen.“

Keine Drogen, keine Tierausbeutung

Wie viele andere Straight EdgerInnen ist auch xSidx über die Musik dazugekommen. Die Szene hier in der Schweiz sei eher klein, man kennt sich, trifft sich an Konzerten. xSidx hört Hardcore, mag Refused, Purified in Blood, Maroon und findet auch die CH-Band Unveil gut. Prägend waren für ihn aber Youth of Today und Earth Crisis: „Die haben der Sache einen Dreh gegeben, haben den Straight Edge erweitert: Toleranz, Verantwortung und Gerechtigkeit hört nicht beim Menschen auf, es geht auch darum, die Ausbeutung der Tiere und des Planeten zu stoppen!“

Galt als Vegan Straight Edge schlechthin: Earth Crisis

Tatsächlich spielten diese Themen in den ersten Jahren des Straight Edge keine Rolle. Mit dem 1988 auf dem Album We’re Not in This Alone erschienenen Song „No More“ von Youth of Today setzte die Wende ein: Wer Straight Edge ist, soll seinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Dazu zählt auch die Sache mit den Tieren, so die Botschaft von Youth of Today: „Meat eating, flesh eating, think about it.“ Fortan gehörten Tierrechte zu den zentralen Elementen des Straight Edge und Konsumkritik beschränkte sich nicht mehr auf ein drogenfreies Leben, sondern spiegelte sich auch in einem veränderten Essverhalten. Man verzichtete auf Fleisch, viele Straight EdgerInnen wurden vegan.

So wurde der Vegan Straight Edge in den 1990ern zum wichtigsten Ableger der Bewegung. Als besonders bedeutsam gilt Earth Crisis aus Syracuse, New York, für viele die Vegan-Straight-Edge-Band schlechthin. In ihrem 1995 veröffentlichten Song „New Ethic“ heisst es: „Animals‘ lives are their own and must be given respect / Reject the anthropocentric falsehood that maintains the oppressive hierarchy of mankind over the animals / It’s time to set them free.“

Das sieht auch Dänu, 21, so. „Woher haben wir eigentlich das Recht, uns über die Tiere zu stellen?“ Er ist seit drei Jahren Straight Edge, die Idee des Respekts sich selbst und anderen Wesen gegenüber sei absolut zentral. Da habe er sich zwangsläufig auch mit unserem Umgang mit Tieren befasst. Zuerst war Dänu Vegetarier, musste aber bald einsehen, dass er auch mit dem Milch- und Eierkonsum den Tieren etwas wegnimmt, das doch ihnen selbst gehört.

Für Serge ist der Veganismus eine „logische Konsequenz“ aus dem Straight Edge: „Ich wollte keine Dinge aus ausbeuterischer Produktion konsumieren. Dazu gehörten Alkohol, Tabak und andere Drogen. Dann fragte ich mich: Wo gibt es noch andere Formen der Ausbeutung? Und kam automatisch auf die Tiere. Wenn du gegen Ausbeutung bist, ist vegan normal: das ist Straight Edge, einfach konsequent durchgedacht.“

Ist Straight Edge also doch mehr als ein Lifestyle? „Das mit den Drogen muss jeder selbst wissen, die Sache mit den Tieren hat eine andere Dimension: da geht’s um Gerechtigkeit!“, sagt xSidx. Auch er lebt seit Jahren vegan, ist in der Tierrechtsbewegung aktiv, geht an Demos, verteilt Flyer, postet im Internet. „Ich käme nicht auf die Idee, auf die Strasse zu gehen und andere vom Kiffen abzuhalten, aber ich finde es wichtig, die Leute darüber zu informieren, was wir mit den Tieren anstellen.“

Das sehen nicht alle so. Ian MacKaye mag über Veganismus eigentlich gar nicht reden, das werde nullkommaplötzlich dogmatisch. „Ich bin misstrauisch gegenüber dem kultischen Aspekt dieser Ernährungsweise“, sagt MacKaye in einem Interview. „Ich bin seit 25 Jahren Veganer und denke darüber nur selten nach, denn es ist für mich verdammt einfach, vegan zu leben, und ich weiss genau, was ich essen will und was nicht. So simpel ist das.“ [1]

Konsequent, konsequenter, hardline

Von einem „logischen Schritt“ der ursprünglichen Idee des Verzichts auf Drogen hin zum Verzicht auf tierliche Produkte spricht aber auch MacKaye. Dennoch sind Tierrechte und Veganismus in den Songs seiner jetzigen Band Fugazi kein Thema. Was von einigen Kids offenbar scharf kritisiert wird.

MacKaye kennt diese Haltung aus den 1990er Jahren nur zu gut, wie er in Gabriel Kuhns Buch Sober Living for the Revolution erzählt. [2] Damals hatte sich in den Staaten die Hardline-Bewegung herausgebildet, eine radikalisierte Form des Vegan-Straight-Edge, die vor allem von Bands wie Raid und Vegan Reich propagiert wurde.

Vegan-Straight-Edge Band Chokehold: gegen selbstgerechtes Moralisieren à la Vegan Reich

Letztere veröffentlichten 1990 zusammen mit ihrer Single „Hardline“ ein Manifest, in dem steht, „dass alles Leben heilig ist und ein Recht darauf hat, ungehindert seiner natürlichen Vorsehung zu folgen“. Unschuldiges Leben soll nicht verletzt werden, „deshalb dürfen keine Tierprodukte (Fleisch, Milch oder Eier) konsumiert werden“. Aber das ist nicht alles. In Übereinstimmung mit den Hardline-Prinzipien eines anscheinend „reinen, natürlichen Lebens“ schlugen sich Teile der Szene auf die Seite militanter AbtreibungsgegnerInnen. Auch Schwulenfeindlichkeit wurde zum Thema. Zudem sprachen sich manche Hardliner für direkte Aktionen aus, Gewalt wurde nicht prinzipiell ausgeschlossen: „Wirkliche Hardliner müssen sich darum bemühen, den Rest der Welt von ihren Ketten zu befreien. Manchmal wird das heissen, Leben zu retten; manchmal wird das heissen, Gerechtigkeit walten zu lassen in Bezug auf jene, die Leben zerstören“, so die Autoren des Hardline Manifesto. [3]

Zwar ist der Anteil der Hardliner gering, doch war ihr Einfluss in den 1990er Jahren nicht zu unterschätzen, wie der Amerikaner Kurt Schroeder meint: „Hardliner und Hardline-Bands hatten am Anfang eine ungeheure Wirkung auf die Vegan-Straight-Edge-Bewegung.“ [4] Allerdings gab es mit linken Bands wie Chokehold, Refused, By the Grace of God oder Point of No Return auch deutlichen Widerstand gegen diese Ideologisierung und selbstgerechte Moralisierung des Straight Edge.

Heute ist der von Vegan Reich zelebrierte Hardline bedeutungslos geworden, viele ehemalige Hardliner hängen dem Islamismus an und folgen damit dem Vorbild von Sean Muttaqi, ehemals Frontmann von Vegan Reich und Gründer der radikal-islamistischen Gruppe Ahl-i-Allah.

Kali Yuga für Hardcore

Immer wieder wurde Straight Edge mit Ideologien verknüpft, bei denen man gemeinsames Gedankengut vermutete. Dazu gehört auch der „Krishnacore“. Schon Ende der 1980er Jahre waren Einflüsse von Hare Krishna auf den Hardcore spürbar, wenig später wandten sich Ray Cappo und Porcell von Youth of Today der Sekte zu. Ihre spätere Band Shelter wurde zusammen mit 108 und Prema zum Aushängeschild der Bewegung.

Für den Straight Edger Porcell lag der Zusammenhang mit den Kali Yuga-Grundsätzen von Hare Krishna auf der Hand: Verzicht auf Fleisch, Fisch und Eier, Abstinenz von jeglichen Drogen, Verbot von Suchtspielen, die restriktive Haltung gegenüber dem Geschlechtsverkehr – „die grundlegenden ethischen Lehren der Krishna-Bewegung praktizierte ich bereits. Es ging eher darum zu verstehen, worin die wirkliche Bedeutung liegt, Straight Edge zu sein. Der Sinn ist es, deinen Kopf nicht mit Dingen zu füllen, die deine Fähigkeit zu denken einschränken. Gut. Aber daraus musst du auch Nutzen ziehen – du musst denken! Straight Edge ist nur ein Mittel zum Zweck.“ [5]

Rückwirkend dürfte Krishnacore, der 1993 seinen Höhepunkt erreichte, eher ein modischer Trend gewesen sein. Tatsächlich gibt sich ein Grossteil der Straight EdgerInnen entschieden nicht religiös. Organisierten Glaubensgruppierungen begegnet man eher mit Misstrauen, Religion wird als weitere Form der Fremdbestimmung aufgefasst, die es im Straight Edge gerade zu überwinden gilt.

Aussen Straight Edge, innen braun

Für xSidx haben solche Vereinnahmungen des Straight Edge etwas Gefährliches. „Früher oder später sind all diese Ideologien elitär. Dann schlagen sie ins Extrem um. Und dann wird ausgegrenzt.“ Der überzeugte Vegan-Straight-Edger verweist auf den Schwulenhass der Hardliner und schüttelt den Kopf: „So was kann ich weder verstehen noch tolerieren. Straight Edge heisst doch: Respektiere dich selbst und alle anderen!“

Linke antispe-Symbolik, rechts verdreht

Ähnlich reagiert Mike, wenn es um die Unterwanderung der Szene durch Rechtsradikale geht. „Sie nennen sich Straight Edge, schwenken antispe-Fahnen, dozieren über Tierrechte und Veganismus. Und hetzen gleichzeitig gegen Juden, Andersfarbige, schwafeln von „natürlicher Ordnung“ und „Halte dein Blut rein“. Kompletter Schwachsinn!“ Mike ist seit gut 10 Jahren Straight Edge, lebt vegan, treibt viel Sport und engagiert sich in der Tierrechtsbewegung. Dass Rechtsradikale vermehrt Themen wie Tierrechte oder Veganismus besetzen und sich so in die Szene „einschleusen“, sei ein ernstes Problem. „Die sehen nicht mehr aus wie Neo-Nazis, laufen rum wie Autonome, hören Hardcore, sind anti-kapitalistisch und gegen Globalisierung. Mit dieser Masche holen sie die Kids ab und texten sie dann mit braunem Zeugs zu.“

Tatsächlich ist rechte Musik modern geworden. [6] Vorbei die Zeiten, als die amerikanische Straight-Edge-Band Blue Eyed Devils Mitte der 1990er „Ich werde für meine Rasse und Nation kämpfen, Sieg Heil!“ grölte und auf Booklets mit Bildern vom Führer von sich reden machte. „Um neue Leute zu begeistern, musst du Musik und Texte machen, die sich ihrem Stil anpassen“, erklärt die rechte Hardcore-Band H8Machine in einem Interview. [7]

Was offenbar klappt: „Capitalism kills – the animals – the mankind – the nature – the world“. Das könnte in einem linken Manifest stehen, die Zeilen stammen aber von Path of Resistance. Die Kapelle aus Rostock spielt NSHC, nationalsozialistischen Hardcore, oder genauer: Hatecore. Der Ausdruck kommt zwar von der links-alternativen US-Band SFA (stands for anything), ist heute aber vorwiegend für Neonazi-Hardcore reserviert. Der Straight-Edge-Ableger der Szene heisst „Hate Edge“, das Etikett lieferte die rechtsextreme Band Total War, als sie 2006 die CD „Straight Edge Hate“ veröffentlichte.

Angesagten HC-Lifestyle, der auf Hakenkreuze und platte Hassparolen verzichtet, liefern auch Moshpit, Brainwash oder Daily Broken Dream aus Magdeburg, ehemals Race Riot und Vorläufer rechtsextremer Straight-Edge-Bands in Deutschland. Ihre Heilsbotschaften haben viel mit gesundem Körper und gesundem Geist zu tun, mit Tier- und Umweltschutz, sie sind geschickt verpackt und werden allenfalls auf Booklets und in Szene-Interviews mit rechtem Gedankengut unterfüttert.

„Ich finde es etwas abstossend, wenn Leute, die nationale Symbolik auf den Klamotten (oder in ihrem Suffgerede) verbreiten, gleichzeitig nach Alk und Kippen stinken und kaum gerade laufen können“, kommentiert zum Beispiel der Frontmann der NS-Straight-Edge Band Anger Within ihren Song „Alcoholic“ und fügt hinzu: „Irgendwie ist das nicht das Bild des deutschen Freiheitskämpfers, das ich aus alten Büchern und Filmen im Hinterkopf habe.“ [8]

Ähnlich plakativ tönt es aus den Staaten, wo die Organisation Terror Edge seit Jahren gegen Tabak, Drogen und Alkohol mobil macht: „A poison free life for NS worldwide!“, lautet die Parole. Man will „weisse Männer und Frauen“ vereinigen für ein Leben ohne Gift. Auch in Deutschland wird auf rechter Basis für Straight Edge geworben, so etwa im Projekt media pro patria, wo den Kids über Youtube die Grundlagen eines gesunden, reinen Lebens gepredigt werden – alles fein säuberlich in konsumkritische und tierrechtlerische Phrasen verpackt.

Back to the roots

Für manche ist dieses rechtsextreme Andocken an ein drogenfreies Leben, Veganismus oder Tierrechte kein Zufall. Schon Mitte der 1990er Jahre brandmarkte die Journalistin und Ex-Grüne Jutta Ditfurth in ihrem Buch Entspannt in die Barbarei die Umwelt- und Tierrechtsbewegung der letzten Jahrzehnte mitsamt veganen Utopien pauschal als „Ökofaschismus“. In diesen Ideologien kommen die Menschen als soziale Wesen nicht mehr vor, stattdessen würden sie als „Erdparasiten“ betrachtet und auf die gleiche Stufe mit den Bakterien gestellt: ein Beleg für deren „Hass auf Menschen“ und Nährboden für eine neue Rechte.

Wesentlich differenzierter sieht das Oliver Geden in Rechte Ökologie und kehrt die These quasi ins Gegenteil um: Umwelt- und Tierschutz seien erst in den 1970er und 80er Jahren zur Sache der Linken geworden, die Wurzeln der Bewegung dagegen sind seit jeher tiefbraun.

So mag es nicht erstaunen, wenn heutige NS-Bands in einschlägigen Foren wieder von den „Nasen“ reden, die für den weltweiten Rauschgifthandel verantwortlich seien und damit an Propandaschriften wie „Der Jude als Verbrecher“ von 1937 anschliessen. Oder wenn sie ihre Öko-Parolen mit dem „Reichsnaturschutzgesetz“ von anno 1935 assoziieren und auf verklärten Heimatschutz reduzieren, wenn sie mit dem Beispiel des Schächtens für Tierrechte werben oder mit einer übertrieben anti-kapitalistischen Attitüde gegen die weltweite Massentierhaltung und für den Erhalt heimischer Tierrassen eintreten.

Aufgeklärter Straight Edge: politisch, nicht ideologisch

Mit dem Problem, wie weit Toleranz reichen darf, wenn es um die „gute Sache“ geht, ist gerade die Tierrechtsbewegung immer wieder konfrontiert. Der Streit um das tierschützerische Engagement der Sekte Universelles Leben (UL) beispielsweise ist ein Dauerbrenner und spaltet die Szene: Während manche das rein pragmatisch angehen und auf „Hauptsache für die Tiere“ setzen, lehnen andere diskriminierendes Gedankengut kategorisch ab, weil mit den Prinzipien der Bewegung unvereinbar. [9]

Diese Ansicht vertritt auch Mike: „Straight Edge, Tierrechte, Veganismus: alles beruht auf dem Grundsatz der Gleichheit, Toleranz, Akzeptanz. Also Respekt für alle. Das Gegenteil davon ist: abwerten, ausgrenzen und hetzen gegen Schwule, gegen Juden, gegen Andersfarbige und all dieser Fascho-Quatsch.“ Serge pflichtet bei. Er sympathisiert zwar mit den biozentrischen Ansichten gewisser Hardliner, aber mit einer „veganen Diktatur“ oder mit der Homophobie einiger dieser Bands kann er definitiv nichts anfangen, findet das abstossend.

Straight Edge und Neonazis, das sei ein „Widerspruch in sich“. xSidx räumt aber auch ein: „Wer Straight Edge zu einer Religion mit drei oder fünf Geboten macht, zu einem Kodex für das absolut Reine, darf sich nicht wundern, wenn Rechtsextreme aufspringen.“ Darauf brauche es eine Antwort, einen wirklich aufgeklärten Straight Edge: Verantwortung, Respekt, Unabhängigkeit, Solidarität – das seien die Themen. „Und ja: Tierrechte, Ökologie. Straight Edge muss politisch sein, aber ohne dabei konservativen Ideologien zu verfallen.“

Für Ian MacKaye, Urgestein des Straight Edge, beginnt das Ideologische schon bei der Frage: „Bist du noch Straight Edge?“. Das kommt ihm vor wie ein Verhör, denn der Unterton sei immer: „Und was, wenn nicht?“ [10] Letztlich ist Straight Edge für den bald 50-Jährigen nur noch ein Etikett, es komme darauf an, wie man lebt. Und das müsse jeder für sich entscheiden. Auch für xSidx war es zu Beginn cool, für seine Ideen einen Namen zu haben: „Jetzt gehört Straight Edge einfach zu meinem Leben.“

Fussnoten

[1] „Interview: Ian MacKaye & Dischord Records“, Ox-Fanzine 91/2010.

[2] „Interview with Ian MacKaye“, in: Sober Living for the Revolution, ed. G. Kuhn, Oakland 2010, S. 38ff.

[3] „Hardline Manifesto 1990“, zit. in: G. Kuhn, Straight Edge: Geschichte und Politik einer Bewegung, Münster 2010, S. 25ff.

[4] „Interview with Kurt Schroeder“, in: Sober Living for the Revolution, ed. G. Kuhn, Oakland 2010, S. 150.

[5] Zit. in: G. Kuhn, Straight Edge: Geschichte und Politik einer Bewegung, Münster 2010, S. 22f.

[6] Siehe dazu die Artikel „We play NS-Hardcore! Die Mythisierung rechten Gedankenguts in der Musik“ (2008) von Rainer Fromm und „Drogenfrei und deutsch dabei“ (2008) von Jens Thomas.

[7] Aus einem Interview mit dem Fan-Magazin Violence, Nr. 11, o.J.

[8] Rufe ins Reich, Doppelausgabe 3/4, o.J., S. 76.

[9] Dazu E. Franzinelli, „Hauptsache für die Tiere“, in: Tierbefreiung 67/2010.

[10] „Interview: Ian MacKaye & Dischord Records“, Ox-Fanzine 91/2010.

„Lifestyle ist etwas sehr Politisches“

Die Straight Edge Bewegung sei keineswegs am Abklingen, sondern überaus lebendig, sagt Gabriel Kuhn in einem Gespräch mit Klaus Petrus von tier-im-fokus.ch (tif). Er hat 2010 zwei Bücher zum Thema veröffentlicht und spricht sich darin entschieden für einen politischen, linken Straight Edge aus. Was für Kuhn zunächst nichts anderes bedeutet als: den Straight Edge mit Werten wie Unabhängigkeit, Solidarität und Verantwortung in Beziehung zu setzen.

KLAUS PETRUS: Du hast jüngst zwei Bücher zum Straight Edge veröffentlicht, eines über die Geschichte und Politik der Bewegung (Unrast Verlag 2010), das andere ist eine Aufsatz- und Interview-Sammlung in englischer Sprache (PM Press 2010). Gibt es Neues aus der Szene oder hast du mit damit einer Bewegung ein Denkmal gesetzt, die am Abklingen ist?
GABRIEL KUHN: Straight Edge ist ausgesprochen lebendig. Fragen zu Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum bleiben aktuell und so reproduziert sich auch die Straight-Edge-Bewegung seit dreißig Jahren. Ich habe sogar den Eindruck, dass die Bewegung in den letzten Jahren wieder stärker geworden ist. Im Vergleich zu den 1980er und 1990er Jahren ist sie heute um einiges vielfältiger. Es gibt keine Bands, die wirklich richtungsweisend sind, weder politisch noch musikalisch. Das bedeutet auch weniger Normierung. Zudem haben sich manche der negativsten Aspekte traditioneller Straight-Edge-Kultur in den letzten Jahren aufgeweicht, vor allem männliche Dominanz, latente Homophobie und selbstgerechtes Auftreten. Die Szene ist um einiges bunter und offener geworden und bietet mehr Personen Platz. Ich finde das alles ausgesprochen positiv.

Gerade in den 1990er Jahren war der Vegan Straight Edge besonders bedeutsam. Welche Rolle spielt er heute?
Ich denke, die Verbindung von Straight Edge und Veganismus ist nach wie vor sehr stark. In Schweden, wo ich lebe, wird praktisch vorausgesetzt, dass du dich vegan ernährst, wenn du Straight Edge bist. Das mag in Einzelfällen nicht stimmen, aber für die meisten Straight-EdgerInnen trifft das zu. Ich denke, in vielen anderen Ländern ist es ähnlich. Die starke Verbindung von Straight Edge und Veganismus, die in den 1990er Jahren geschaffen wurde, hat die Szene bleibend geprägt.

Einige – so auch Ian MacKaye, der den Begriff „Straight Edge“ prägte – sehen im Schritt hin zum Veganismus eine logische Konsequenz aus den ursprünglichen „Prinzipien“ des Straight Edge. Eine Einschätzung, die offensichtlich nicht alle Straight EdgerInnen teilen …
Ich würde sagen, dass es zwei Möglichkeiten gibt, diese „logische Konsequenz“ zu interpretieren.

Im Falle von Ian MacKaye geht es wesentlich um persönliche Verantwortung. Wenn du unter anderem deshalb Straight Edge bist, um deiner Umwelt mit Verantwortung, das heißt mit Respekt, zu begegnen, dann kann das Prinzip nicht auf Drogenverzicht beschränkt bleiben. Du musst dein Verhalten allgemein hinterfragen, und dazu gehört auch deine Ernährungsweise. Der Konsum von Tierprodukten impliziert gerade in industrialisierten Gesellschaften viel Leid und Grausamkeit, und so wird es im Sinne einer konsequenten Straight-Edge-Haltung durchaus „logisch“, auch hier Grenzen zu setzen.

Dies unterscheidet sich jedoch von einer „Logik“, die oft in ideologischen Straight-Edge-Strömungen betont wird. Dort geht es dann beispielsweise darum, den Körper „rein“ zu halten, „unschuldiges“ Leben zu schützen oder sich als „stark“ zu beweisen. Aspekte persönlicher Verantwortung, die immer auch Selbstkritik beinhalten, verschwinden dabei, und an ihre Stelle tritt ein universeller moralischer Kodex, der an religiösen Dogmatismus erinnert.

Es ist immer unheimlich, wenn Einzelne sich im Besitz der moralischen Wahrheit wähnen, und das gilt auch für Straight Edge und Veganismus. Wenn wir die Fähigkeit verlieren, Menschen und ihre Verhaltensweisen im Kontext ihrer Lebensumstände zu begreifen, dann hat das wenig mit Respekt zu tun. Es geht nicht an, Menschen, die an Abhängigkeiten leiden, moralische Verdorbenheit vorzuwerfen, und auch nicht, Menschen fürs Fleisch-Essen zu tadeln, wenn dies ihre einzige Proteinquelle ist.

Leider haben Straight-EdgerInnen dies immer wieder aus den Augen verloren, was zu den vielen Vorurteilen beigetragen hat, mit denen sich die Szene bis heute konfrontiert sieht.

Was spricht denn gegen MacKayes Haltung?
Dagegen kann letztlich nichts sprechen, weil er sie als persönliche Konsequenz seines Verständnisses von Straight Edge beschreibt. Manche mögen diese Haltung teilen, andere nicht. Es gibt hier nicht viel Raum, um sich zu streiten.

Diejenigen, die Veganismus nicht als logische Konsequenz von Straight Edge betrachten, haben dafür mehrere Gründe. Für manche mag Veganismus nicht die verantwortungsvollste Ernährungsweise sein. Andere mögen Gesundheitsschäden fürchten. Wieder andere mögen meinen, dass Straight Edge letztlich Drogenverzicht bedeutet und dass dies nichts mit Veganismus zu tun hat – auch wenn sie selbst vielleicht vegan leben. Und schließlich gibt es wohl jene, die sich schlicht nicht für Tierrechte interessieren. Niemand hat ein Monopol auf die genaue Auslegung von Straight Edge – und das ist wahrscheinlich auch gut so.

In deinem Buch Sober Living betonst du die politische Seite des Straight Edge. Einige werden erwidern: Straight Edge ist doch zunächst und vor allem eine persönliche Sache, ein Lifestyle, für den sich jeder selbst entscheiden muss. Wie siehst du das?
Meine kurze Antwort wäre, dass ein Lifestyle etwas sehr Politisches ist, weil er das Verhältnis prägt, das wir zu unserer Umwelt einnehmen, was wiederum den Kern politischen Lebens ausmacht: das Gestalten sozialer und ökologischer Beziehungen. Menschen sind politische Wesen, das lässt sich vielleicht verleugnen, aber nicht ändern. Einer der interessantesten Aspekte an Straight Edge ist ja gerade, dies anzuerkennen und unsere Lebensweise dementsprechend zu gestalten.

Natürlich kann Straight Edge, wie alle subkulturellen Phänomene, als Modeerscheinung konsumiert werden. Es mag gerade als cool gelten, Straight Edge zu sein, als spannend erscheinen oder von deinem sozialen Umfeld erwartet werden. In solchen Fällen kann der Lifestyle natürlich stark entpolitisiert wirken.

Aber das hat wenig mit Straight Edge zu tun, sondern damit, wie ernst Einzelne ihre Lebensweise nehmen. Du kannst auch Antifa-Aktivist oder Tierrechtler aus oben genannten Gründen sein. Der persönliche Charakter von Straight Edge tut dem Politischen also keinen Abbruch – im Gegenteil, er eröffnet politische Möglichkeiten jenseits von doktrinärer Verbohrtheit.

Was auch auffällt: In Sober Living ist zwar von „radikalen“ politischen Anliegen die Rede, die eigentlich radikalen Ableger der Bewegung wie etwa Hardline oder auch Verbindungen zu religiösen oder spirituellen Kreisen kommen darin kaum zur Sprache. Weshalb?
Der Begriff der „radical politics“ ist im Englischen ziemlich offen, wird jedoch meistens im Zusammenhang mit AktivistInnen gebraucht, die im deutschsprachigen Raum dem im weitesten Sinne „linken“ Lager zuzuordnen sind – wobei sich um diese Kategorien immer streiten lässt, das ist ganz klar.

In jedem Fall ist es so, dass ich in der Einleitung zu Sober Living „radical“ anhand zweier Kriterien definiere: a) einem Streben nach freien und egalitären Lebensformen, und b) einer Distanz zu politisch bedenklichen Ideologien. Hardline fällt eindeutig aus dieser Definition. Hardline war streng ideologisch und hatte enorm elitäre Dimensionen.

Was religiöse bzw. spirituelle Interpretationen von Straight Edge betrifft, so ist die Hare-Krishna-Bewegung am relevantesten, da sich Anfang der 1990er Jahre einige Straight-EdgerInnen dieser anschlossen. Meines Erachtens werden in der Hare-Krishna-Bewegung durchaus soziale Werte realisiert, die progressive Dimensionen haben, etwa Fürsorge, Rücksichtnahme und gegenseitige Hilfe. Doch ist das Ganze in sehr hierarchische, patriarchale und heteronormative Strukturen eingebettet, die meiner Auffassung von „radical politics“ schlicht widersprechen.

Du sprichst dich für einen linken Straight Edge aus. Was meinst du damit?
Ganz einfach gesagt die Verbindung von Drogenverzicht und linken Prinzipien wie Solidarität, Egalitarismus, Mannigfaltigkeit, persönlicher Entfaltung.

Das impliziert, dass Straight Edge nicht als Norm präsentiert werden darf, was diesen Prinzipien widersprechen würde. Straight Edge sollte vielmehr in einer Weise gelebt werden, die diese Prinzipien stärkt, etwa durch die bereits mehrfach erwähnte Verantwortung unserer Umwelt gegenüber, durch entschlossene politische Arbeit, durch eine Kritik an Konsumgesellschaft, Habgier und Kapitalismus sowie durch eine engagierte, aber nicht aufdringliche Thematisierung der sozialen und politischen Dimensionen von Drogenkultur und Drogenindustrie. Straight Edge ist nicht per se links. Straight Edge muss links gemacht werden.

Ist das auch eine Antwort auf die Vereinnahmung des Straight Edge durch Rechtsextreme?
Zum Teil ist das Engagement für einen linken Straight Edge sicher auch eine Antwort auf die Vereinnahmung der Bewegung durch Rechtsextreme. Doch selbst ohne dieses bedauerliche Phänomen ist die Betonung eines linken Straight Edge wichtig. Schließlich gab es immer schon Strömungen innerhalb von Straight Edge, die linken Prinzipien widersprachen: das Machogehabe, die Rechthaberei, das militante Auftreten usw.

Trotzdem: Wie schätzt du den Einfluss der Rechten auf die Szene ein?
Zurzeit halte ich den Einfluss Rechtsextremer auf die Straight-Edge-Szene noch für relativ gering. Wobei sich das natürlich von Region zu Region unterscheidet. In Russland scheint der Einfluss leider stark ausgeprägt.

Was macht den Straight Edge für diese Leute eigentlich so attraktiv?
Die Attraktivität von Straight Edge für Rechte liegt auf der Hand. Straight Edge kann leicht wertkonservativ interpretiert werden: Drogenkonsum führt zum Zerfall von Ordnung, Disziplin, Anstand usw. Wenn gesundheitliche Argumente mit ins Spiel kommen, kann es zusätzlich um die Verteidigung eines „gesunden Volkskörpers“ oder gar einer „gesunden Rasse“ gehen. Und natürlich sind auch für rechte AktivistInnen Vorstellungen von nüchternen, gewissenhaften und verlässlichen MitstreiterInnen anziehend.

Die rechten Aneignungen überraschen also nicht. Umso wichtiger ist es, ihnen eine explizit linke Straight-Edge-Kultur entgegenzustellen.

Ich habe mit einigen Straight Edgern darüber spekuliert, weshalb es in der Szene eher wenige Frauen gibt. Eine befriedigende Antwort haben wir nicht gefunden. Hast du eine Erklärung?
Das ist ein sehr komplexes Phänomen, das viel mit Geschlechterrollen im Allgemeinen zu tun hat. Die generelle Frage ist dabei meines Erachtens nicht so sehr, warum Straight Edge männlich dominiert ist, sondern warum Hardcore männlich dominiert ist – Straight Edge ist hier nur Ausdruck eines breiteren Problems.

Ein Aspekt ist, dass im Hardcore die ursprünglich im Punk angelegte Androgynität verloren ging. Hardcore war von Anfang an sehr männlich codiert. Um es ein bisschen überspitzt zu formulieren, so war der einzige für Frauen vorgesehene Platz derjenige, die Freundin eines Szenejungs zu sein. Manche Frauen sahen es durchaus als Herausforderung, diese Erwartungshaltungen zu brechen, und so gab es immer wieder Frauen, die aktiv in der Szene engagiert waren.

Aber das waren Ausnahmen. Für viele Frauen war die Hardcore-Szene schlicht immer unattraktiv. Das bedeutet auch, dass die Jungs in der Zelebrierung ihrer Männlichkeit kaum herausgefordert wurden. Solche Kreisläufe sehen wir immer wieder: Ein gesellschaftlicher Raum ist männlich besetzt, was ihn unattraktiv für Frauen macht, was wiederum dazu führt, dass sich die männliche Dominanz relativ ungestört reproduzieren kann.

Ein weiterer Grund ist, dass eine Sozialisierung als Mann es bedeutend leichter macht, eine Hardcore-Identität anzunehmen, als eine Sozialisierung als Frau. Hardcore beruft sich auf Werte wie Unabhängigkeit, Ausdrucksstärke, Sich-Platz-Nehmen, Aggressivität. All das wird den meisten Jungs von klein auf beigebracht. Sich der Hardcore-Szene anzuschließen, ist so gesehen kein großer Schritt. Mädchen werden dieselben Werte nach wie vor selten nahegelegt. Es wird von ihnen erwartet, zurückhaltend, vorsichtig und leise zu sein. Im Gegensatz zu Männern müssen Frauen also mit Geschlechternormen brechen, um überhaupt in die Hardcore-Szene eintauchen zu können. Die Hürden sind also um vieles höher.

Mir kommt vor, dass die meisten Straight EdgerInnen aus privilegierten Verhältnissen stammen, sie sind überwiegend weiß, gebildet und ökonomisch abgesichert. Teilst du diese Einschätzung, und falls ja: Welche politische Message kann der Straight Edge dann für Leute aus anderen Milieus haben?
Diese Einschätzung teile ich völlig. Straight Edge ist zum größten Teil eine Bewegung, die aus weißen Mittelklassemännern besteht. Die politische Message für Menschen aus anderen Schichten hat meines Erachtens weniger mit Straight Edge selbst zu tun (obwohl natürlich auch der Drogenverzicht inspirieren kann, schließlich entstammen keineswegs alle Straight EdgerInnen der weißen männlichen Mittelklasse), sondern mehr mit dem oben angesprochenen Politisieren des Persönlichen: das Entscheidende ist, dass du dir Gedanken darüber machst, wie sich dein Verhalten auf deine Umwelt auswirkt.

Dieses Bewusstsein ist letztlich wichtiger als die praktischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Die Konsequenzen sind veränderbar und müssen sich an den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen orientieren. Aber das Bemühen, seiner Umwelt mit Achtung, Respekt und Mitgefühl zu begegnen, ist beständig. Eine entsprechende Haltung erlaubt Straight Edge, Teil breiterer progressiver bzw. linker Bewegungen zu sein, in denen Menschen aus allen Milieus zueinander finden, und sie kann alle inspirieren, die politisch handeln wollen, egal welchen gesellschaftlichen Gruppen sie angehören oder wie sie ihre persönlichen Lebensweisen gestalten.

Ian MacKaye, Urgestein des Straight Edge, scheint sich darüber zu nerven, dass er immer wieder gefragt wird: „Bist du noch Straight Edge?“ Wie hast du es?
Nachdem sich mein Bekanntheitsgrad im Vergleich zu dem von Ian MacKaye sehr in Grenzen hält, werde ich mit dieser Frage kaum konfrontiert, auch wenn sie im Zusammenhang mit den Büchern hier und da auftaucht.

Die Antwort ist einfach: Ich bin seit über zwanzig Jahren Straight Edge und sehe auch wenig Veranlassung, das zu ändern.

Foto © Johan Apel Röstlund

Gabriel Kuhn (geb. 1972 in Innsbruck) lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Stockholm. Er hat eine Reihe von Büchern zu philosophischen, politischen und subkulturellen Themen verfasst, vor allem im Unrast-Verlag und bei PM Press. Die von ihm zu Straight Edge veröffentlichten Bücher sind Sober Living for the Revolution: Hardcore Punk, Straight Edge, and Radical Politics und Straight Edge: Geschichte und Politik einer Bewegung. Ein englisches Interview zu Sober Living wurde im Mai 2010 in Amsterdam aufgenommen. Ein Interview zu Straight Edge und Veganismus auf Französisch findet sich auf la terre d’abord!

Materialien zu (Vegan) Straight Edge

Bücher

  • Mark Anderson, All the Power: Revolution Without Illusion, New York 2004.
  • Karin Felsch, Drugfree Youth, Jena 2009.
  • Ross Haenfler, Straight Edge: Clean-Living Youth, Hardcore Punk, and Social Change, New Brunswick 2006.
  • Marc Hanou & Jean-Paul Frjins, The Past Present 1982-2007: A History of 25 Years of European Straight Edge, Warschau, Tokjo 2009.
  • Gabriel Kuhn, Straight Edge: Geschichte und Politik einer Bewegung, Münster 2010.
  • Gabriel Kuhn (ed.), Sober Living for the Revolution: Hardcore, Punk, Straight Edge, and Radical Politics, Oakland 2010.
  • Beth Lahickey (ed.), All Ages: Reflections on Straith Edge, Huntington Beach 1997.
  • Merle Mulder, Straight Edge: Subkultur, Ideologie, Lebensstil?, Münster 2009.
  • Thomas Schwarz, Veganismus und das „Recht der Tiere“, in: Eine Einführung in Jugendkulturen, ed. W. Breyvogel, Wiesbaden 2005.
  • Robert T. Wood, Straightedge Youth: Complexity and Contradictions of a Subculture, Syracuse 2006.

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2 Kommentare

Marco
vor 11 Jahre

Tja, was meint xSidx denn mit trinken? Das Aufnehmen von Flüssigkeiten allgemein oder nur Alkoholkonsum? Wenn jemand Straight Edge ist, nach meiner Verständnis, ist die totale Abstinenz von Alkohol ein Grundsatz.

hans mayer
vor 12 Jahre

natürlich meint „einer“ wenn er sagt „don’t drink!“ überhaupt nicht trinken! das mit don’t fuck fand ich schon immer schwachsinn, für mich hat straight edge mit sex nichts zu tun…ich bin selber vegan und straight edge.

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