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Rezension

„Ethics and Animals“ (Lori Gruen)

Kaum eine andere Sozialbewegung hat derart viel Theorie im Rücken wie die Tierrechts- oder Tierbefreiungsbewegung. Vor allem aus philosophischer Sicht wird seit den 1970er Jahren rege über den moralischen Status nichtmenschlicher Tiere diskutiert, wobei die Argumente pro und contra zunehmend komplexer, vor allem aber unübersichtlicher wurden. Das Buch "Ethics and Animals" der US-amerikanischen Philosophin und Feministin Lori Gruen bietet eine solide und allgemein verständliche Einführung in die zentralen Positionen und Probleme der modernen Tierethik.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Lori Gruen, Ethics and Animals. An Introduction, Cambridge University Press 2011, ca. CHF 32.–

Zielpublikum

Obschon in einem der renomiertesten wissenschaftlichen Verlage erschienen, ist Lori Gruens Buch an ein sehr breites Publikum gerichtet. Die Autorin ist durchs Band darum bemüht, komplexe Problemstellungen allgemein verständlich darzulegen und an konkreten Beispielen zu veranschaulichen, wobei die einzelnen Kapitel – sieben an der Zahl – auch für sich genommen gelesen werden können.

Auch für pädagogische Zwecke an Schulen und Universitäten kann dieses Buch als Grundlagentext verwendet werden, sollte jedoch an manchen Passagen durch zusätzliche Materialien ergänzt werden. So kommen KritikerInnen der Tierethik gar nicht zur Sprache (siehe unten), gewisse verheissungsvolle Ansätze wie Vertragstheorien à la Mark Rowlands (Animals Like Us, 2002) werden so gut wie ausgeblendet und auf zentrale Standardwerke zu Problemen, die auch Gruen ausführlich behandelt, wird nicht verwiesen (wie z.B. auf die Bücher von Daniel Dombrowski und Evelyn Pluhar zu den menschlichen „Grenzfällen“; siehe unten).

Inhalt

• Die Suche nach einer anthropologischen Differenz, die eine klare Grenze zieht zwischen uns Menschen und allen anderen Tieren, begleitet die westliche Tradition seit ihren Anfängen. Nicht selten markiert diese Differenz einen Unterschied in der moralischen Rangordnung: Weil wir Menschen – nicht aber Tiere – über ein bestimmtes Merkmal verfügen, sind wir wertvoller als sie und haben ein Recht darauf, sie zu unserem Nutzen und Vorteil zu gebrauchen.

Diese Idee einer anthropologischen Differenz zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren bildet auch den Ausgangspunkt von Lori Gruens Einführung in die Tierethik. Für die Autorin gründet sie auf der These, dass es eine moralisch relevante Eigenschaft (oder Eigenschaftsgruppe) gibt, die allen und nur menschlichen Tieren zukommt. Damit wird erstens impliziert, dass kein von den Mitgliedern der Spezies homo sapiens verschiedenes Tier diese Eigenschaft ebenfalls aufweist. Gruen verweist in diesem Zusammenhang auf eine Vielzahl ethologischer Studien, denen zufolge gewisse Tiere oder Tierarten sehr wohl über Merkmale verfügen, die üblicherweise als ausschliesslich menschliche sowie moralisch relevante Eigenschaften ausgezeichnet werden, wie etwa Werkzeuggebrauch, Sprachvermögen, Rationalität, Selbstbewusstsein oder die Fähigkeit zu moralischem Handeln (4-33). Zweitens unterstellt die These der anthropologischen Differenz, dass es kein Mitglied der Spezies homo sapiens gibt, dem die entsprechend moralisch relevante Eigenschaft fehlt. Diese Behauptung wiederum konfrontiert Gruen mit dem Problem der (wie sie in der Literatur heissen) „Grenzfälle“ (mariginal cases), das sind Menschen, die über diese Eigenschaft noch nicht verfügen (wie Säuglinge), nicht mehr verfügen (wie Demenzkranke) oder nie verfügt haben (wie Schwerstbehinderte) (64-75).

• Wie andere AutorInnen, ist auch Gruen der Ansicht, dass „Grenzfälle“ denselben moralischen Anspruch haben wie sogenannte „normale“ Menschen, weswegen wir uns auf eine moralisch relevante Eigenschaft besinnen sollten, die alle menschlichen Tiere gleichermassen aufweisen. Sie besteht im Besitz basaler Interessen, die zum Wohlbefinden (well-being) empfindungsfähiger Lebewesen beitragen (27-33). Sofern dieses Merkmal eine moralische Berücksichtigung von „Grenzfällen“ garantiert, spricht allerdings nichts dagegen, auch alle anderen empfindungsfähigen Tiere in die „Gemeinschaft der moralisch Gleichen“ aufzunehmen. Wie Gruen anhand prominenter Ethikkonzeptionen aufzeigt (z.B. Utilitarismus, deontologische Ethik, Feministische Ethik, Tugendethik), kann dies jedoch ganz Unterschiedliches bedeuten und muss nicht zwingend auf eine egalitäre Position hinaus laufen (33-43).

• Welche Implikationen eine moralische Berücksichtigung nichtmenschlicher Tiere mit sich bringen kann, erläutert Gruen an einer Vielzahl von Beispielen, wobei die Schwerpunkte auf Fragen der Ernährung (Kap. 3), Tierversuchen (Kap. 4), diversen Formen der Gefangenschaft (Kap. 5) sowie Konflikten mit sogenannten „Wildtieren“ (Kap. 6) liegen.

Hier wie dort ist die Autorin darum bemüht, konkurrierende Standpunkte einfliessen zu lassen und zentrale Konzepte an ganz konkreten Problemen zu erläutern und auch zu verfeinern. So spielen bei der moralischen Bewertung von Wildtieren in Zoos und domestizierten Tieren in menschlichen Haushalten offenbar unterschiedliche Begriffe von Freiheit eine Rolle (136-158). Im Falle der Beurteilung von Tierversuchen legt Gruen den Akzent auf Kriterien der Unerlässlichkeit von Experimenten und zeigt auf, dass sie nur dann erfüllt sind, wenn keine Alternativen verfügbar sind – ein Nachweis, den die Tierversuchsindustrie bisher nicht erbracht habe (126-129). Was die moralische Rechtfertigung der Herstellung und des Konsums tierlicher Produkte zum Zwecke der menschlichen Ernährung angeht, versucht Gruen darzulegen, dass das Wohlbefinden von Tieren nicht bloss dann beeinträchtigt wird, wenn ihnen Schmerzen oder Leiden zugefügt wird, sondern auch im Falle ihrer (selbst schmerzfreien) Tötung, da das Leben eine unabdingbare Voraussetzung für das Wohlergehen empfindungsfähiger Individuen darstellt (98-101).

• Alles in allem laufen Gruens Argumente auf eine massive Einschränkung unseres derzeitigen Nutzungsanspruchs auf Tiere bzw. auf die Forderung nach Abschaffung der meisten Bereiche der Tierindustrie hinaus. Von einem Abolitionismus, der auf deontologischen Ethiken basiert (195f.), unterscheidet sich Gruens „Liberationismus“ allerdings in wenigstens zwei Punkten. Erstens vertritt die Autorin (im Anschluss etwa an Deane Curtin und Carol J. Adams) einen kontextualistischen Ansatz, dem zufolge z.B. die moralische Verpflichtung zu einer vegetarischen – gemeint ist näherhin: vegane – Lebensweise nicht absolut gilt, sondern auf soziale Umstände relativiert wird (93f.). Und zweitens nimmt Gruen bezüglich der Abschaffung der Tierausbeutung einen pragmatischen Standpunkt ein und plädiert für Zwischenschritte, die aus strikt abolitionistischer Perspektive (nicht aber aus Sicht der Autorin) bloss auf eine Reformierung der derzeitigen Tiernutzung hinaus laufen mögen (195-202).

Kommentar

Lori Gruens Buch ist klarerweise „pro animal“, was sich u.a. daran zeigt, dass Autoren wie Peter Carruthers, Carl Cohen, Tibor Machan oder Roger Scruton, die z.T. massive Kritik an (egalitären) Tierethiken üben, nicht zur Sprache kommen. Innerhalb traditioneller Ansätze ist Gruen hingegen um eine ausgewogene Darstellung der teilweise konkurrierenden Auffassungen bemüht. Insbesondere gelingt es ihr, komplexe Problemstellungen auf allgemein verständliche Weise darzulegen und anhand konkreter Beispiele zu veranschaulichen. So gesehen ist dieses Buch an ein breites Publikum gerichtet und eignet sich bestens als Einstieg in Probleme und Positionen der gegenwärtigen Tierethik.

Dass Gruen nicht einer rein philosophischen Perspektive verhaftet bleibt, erweist sich als weiterer Vorzug dieser Einführung. Vor allen die Passagen zur kommerziellen „Nutztierhaltung“ enthalten viele empirische Fakten über die ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der Massentierhaltung sowie über die Art und Weise, wie mit Tieren als „Konsumgütern“ umgegangen wird (82-92). Zu Recht nimmt Gruen Letzteres als Beleg für eine These, die an die Überlegungen etwa von David deGrazia anschliesst und ihr Buch wie ein roter Faden durchzieht: Das Wohlergehen empfindungsfähiger Wesen beschränkt nicht auf das Interesse, Leid zu vermeiden, sondern erstreckt auf sämtliche Facetten ihres Daseins, vom Sexualverhalten bis hin zum Sozialverhalten.

Dass unser Nutzungsanspruch auf Tiere fast notgedrungen mit einer Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens einhergeht und somit einer moralischen Rechtfertigung bedarf, steht für Gruen am Anfang eines reflektierten und zugleich empathischen Umgangs mit Tieren (206).

Lori Gruen ist Associate Professor für Philosophie an der Wesleyan Universität, wo sie u.a. die Animal Studies koordniert. Ihre Schwerpunkte sind Ethik, politische Philosophie sowie Feminismus. Zu ihren wichtigen Arbeiten gehören die Artikel „Empathy and Vegetarian Commitments“ (2004), „Attending to Nature“ (2009) sowie der ausführliche Eintrag „The Moral Status of Animals“ (2010) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy.

Eine abgeänderte Version dieser Buchbesprechung erscheint in der Fachzeitschrift ALTEXethik Vol. 3/2011.

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