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Rezension

„Tierzucht“ (Willam & Simianer)

Ein neues Lehrbuch führt in das inzwischen hochspezialisierte Wissen über die Tierzucht ein. Und blendet dabei wie selbstverständlich alle negativen Auswirkungen der Hochleistungszucht aus. Eine Besprechung von Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

A. Willam & H. Simianer, Tierzucht, Stuttgart 2011, ca. SFR 38.– Es sei die „Masslosigkeit in der Tierzucht, die Tiere nach Mass schafft – nach Massgabe des Menschen“, meinte der deutsche Veterinärwissenschaftler Wilhelm Wegner bereits vor Jahren. Tatsächlich ist die systematische Züchtung von Tieren der verlängerte Arm einer vor rund 10.000 Jahren vom Menschen in die Wege geleiteten Domestikation und bildet bis heute die Grundlage für eine profitgesteuerte Tiernutzung. Dabei gibt es kaum einen anderen Bereich der kommerziellen Tierindustrie, der in den vergangenen Jahrzehnten – und nicht selten dank hochdotierter Forschungsprojekte – derartige Fortschritte verzeichnen konnte. Entsprechend spezialisiert ist inzwischen das tierzüchterische Grundwissen geworden.

Zielpublikum

Das neue Buch Tierzucht der beiden Nutztierwissenschafter Alfons Willam und Henner Simianer führt in die Grundbegriffe, Methoden und Innovationen dieses „Kerns des tierischen Produktionssystems“ ein (Vorwort). Es richtet sich vorwiegend an Studierende der Agrar- und Veterinärwissenschaften, erfordert aber keine speziellen Vorkenntnisse. Das Buch ist didaktisch sehr gut aufbereitet, es ist in einer vergleichsweise verständlichen Sprache abgefasst, enthält zahlreiche Grafiken sowie Abbildungen und ist in kurze, übersichtliche Kapitel gegliedert. Insofern kann es auch von interessierten Laien als Handbuch oder Nachschlagewerk benutzt werden.

Inhalt

Der Schwerpunkt des Buches liegt zum einen auf sogenannten Nutztieren und deren „Leistung“ (v.a. Fleisch, Milch, Eier, Honig oder – wie im Falle von Pferden – Zug-, Reit- und Rennkapazität) (Kap. 2); zum anderen geht es insbesondere um die methodischen Grundlagen der Tierzucht (Kap. 4). Dazu gehören umfangreiche Kapitel zur Vererbungslehre (Kap. 3) sowie zu den beiden bekanntesten Möglichkeiten, die genetische Veranlagung von Tieren zu verändern, nämlich den Selektions- und Zuchtmethoden. Während die Selektion dazu dient, eine gezielte Auswahl von Tieren als Eltern der nächsten Generation auszuwählen (Kap. 6), geht es in Zuchtmethoden darum, diese Elterntiere so zu paaren, dass die züchterisch erwünschten Merkmale (z.B. Milchleistung) optimal an die Nachkommenschaft vererbt werden (Kap. 7). Darüber hinaus gehen Willam und Simianer auf unterschiedliche Rassen landwirtschaftlicher Nutztiere ein (Kap. 9). Diese werden nach dominierenden Eigenschaften sortiert, die im Rahmen von Kreuzungs-Zuchtprogrammen ausgenützt werden können. Bekannte Beispiel für solche „Nutzungsrichtungen“ sind Einnutzungs-Rassen, die z.B. ausschliesslich auf eine hohe Milchmenge gezüchtet werden (wie etwa Holstein Friesian oder Braunvieh), sowie Zweinutzungs-Rassen, bei denen z.B. Milch- und Fleischleistung gleichzeitig züchterisch bearbeitet werden (wie beim eher „milchbetonten“ Fleckvieh oder den eher „fleischbetonten“ Evolènern).

Kommentar

Das Buch von Willam und Simianer vermittelt auf übersichtliche Art und Weise das züchterische Grundwissen und informiert über aktuelle Tendenzen und Massnahmen in der Tierzucht. Über diese rein technokratische Perspektive hinaus ist von der Publikation allerdings nichts zu erwarten. • Insbesondere bleiben tierschutzrelevante Aspekte vollständig ausgeklammert, oder genauer: Sie werden auf rund 350 Seiten in gerade einmal 10 Zeilen abgehandelt. Dass aber die moderne Hochleistungszucht und der prekäre Gesundheitszustand von Nutztieren eng miteinander zusammenhängen, ist inzwischen längst kein Geheimnis mehr, im Gegenteil: Die Liste der zuchtbedingten Erkrankungen wächst zunehmend in die Länge. Dazu gehören – um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen – Beinschäden bei Masthühnern, Puten und Mastschweinen. Sie sind überwiegend darauf zurückzuführen, dass diese Tiere auf rasches Wachstum und einen hohen Fleischzuwachs gezüchtet sind – ein Tempo, mit dem das häufig noch jugendliche Skelett dieser Tiere nicht Schritt halten kann. Auch die „Berufskrankheiten“ von Milchkühen sind weitgehend zuchtbedingt und eine Folge der enormen Milchleistungen, die durch züchterisch vergrösserte Drüsen der Kuheuter ermöglicht werden. So hat die Milchleistung in den vergangenen Jahrzehnten um 30 Prozent zugenommen. Zugleich stiegen der Anteil der Klauenprobleme und Gelenkschäden um 300 Prozent und derjenige von Euterentzündungen (Mastitis) um 600 Prozent. Heutzutage kommen fast 80 Prozent der Milchkühe im Alter von durchschnittlich 5 Jahren aus gesundheitlichen Gründen auf die Schlachtbank. • Nicht minder ausgeblendet wird in diesem „Lehrbuch“ die Tatsache, dass bisherige Fehlentwicklungen der Zucht häufig selbst wiederum mit differenzierten Zuchtmethoden behoben werden. So will man die Knochen- und Gelenkschäden bei Masthühnern und Puten „kompensieren“, indem man die Entwicklung ihres Bewegungsapparates beschleunigt. Um den Herzproblemen von Mastschweinen entgegen zu wirken – sie sind durch die hohe Gewichtszunahme verursacht –, wird ihnen Stressresistenz angezüchtet. Oder es soll das verbreitete Federpicken unter Hühnern, das manche ForscherInnen auf eine genetisch bedingte Aggressionssteigerung zurückführen, verhindert werden, indem man „federloses Geflügel“ erzeugt. Alles ein Hirngespinst sentimentaler Tierfreunde? Keineswegs. Die Daten über die negativen Auswirkungen der Hochleistungszucht stammen ausnahmslos von der Zuchtindustrie selbst. Das könnten – und sollten – auch Willam und Simianer wissen. • Genauso wenig dürfte den Autoren das inzwischen gut dokumentierte Faktum entgangen sein, dass die moderne Hochleistungszucht massgeblich zum Verlust der genetischen Vielfalt (Biodiversität) beiträgt. Heutzutage sind bereits 50 Prozent der weltweiten Eierproduktion vollständig industrialisiert, wobei gerade einmal zwei Konzerne das Genmaterial für die Legehennen horten. In der Schweinefleischproduktion sind rund 40 Prozent industrialisiert, dort dominieren noch fünf Zuchtlinien den Markt; ähnliche Verhältnisse herrschen in der Putenzucht. Da die Zuchtindustrie nur noch in wenige Hochleistungslinien investiert, werden im Gegenzug lokale sowie alte Rassen am Laufmeter ausgerottet. Von den etwa noch 6.500 registrierten Haustierrassen sind im letzten Jahrhundert 1.000 ausgestorben, 300 davon allein in den letzten drei Jahrzehnten – eine Problematik, die in Willams und Simianers Buch durchaus ihren Platz hätte, von ihnen aber im Kapitel über die Nutztierrassen mit bloss fünf Zeilen bedacht wird. • So wundert es auch nicht, dass sich die Autoren nachgerade blind geben für die sozio-ökonomischen Konsequenzen der modernen Tierzucht. Wie Susanne Gura, Spezialistin für internationale Agrarpolitik, seit längerem aufzeigt, hat das weltweite „Tierzucht-Monopoly“ und der dadurch verursachte Schwund der Biodiversität offenkundig negative Auswirkungen für kleinbäuerliche Betriebe in sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern. Nicht weniger bedenklich ist die extreme Machtkonzentration innerhalb der sogenannten Zuchtpyramide: Weil das Wissen um den Genpool der ökonomisch besonders rentablen Zuchtlinien ein wohlbehütetes Geschäftsgeheimnis der Grosskonzerne bleibt, geraten die Abnehmer – so z.B. PutenproduzentInnen – in massive Abhängigkeiten und werden durch Exklusiv-Verträge gezwungen, ihr „tierisches Material“ immer aufs Neue bei den Giganten einzukaufen – falls sie sich das überhaupt leisten können. Von alledem ist in Willams und Simianers „Grundwissen“ über die Tierzucht nicht die Rede – und also gibt es darin auch nicht einmal in Anzeichen eine Ethik der Zucht. Das ist in Anbetracht der erdrückenden Faktenlage über die negativen Folgen der Hochleistungszucht – man muss es derart deutlich sagen – äusserst bedenklich. Und irritiert umso mehr, als sich dieses Buch ausdrücklich an Studierende richtet – und damit an künftige „ExpertInnen“ für Tierzucht. Sollte ihr kritisches Bewusstsein an Lehrbüchern wie diesen geschult werden, wird es in solchen Kreisen mit Bestimmtheit kein Umdenken geben.

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