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Interview

„Essen ohne bitteren Nachgeschmack!“

Kein Zwischenhandel, keine langen Transportwege, stattdessen enge Kontakte zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen, frische Nahrungsmittel und faire Preise. Das Projekt nennt sich "regionale Vertragslandwirtschaft" und wird seit 2010 vom Verein soliTerre auch in Bern und Umgebung umgesetzt. Ein Interview von Tobias Sennhauser und Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Die Idee ist einfach und bestechend: Kein Zwischenhandel, keine langen Transportwege, stattdessen enge Kontakte zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen, regionale und saisonale Nahrungsmittel sowie faire Preise. Das Ganze nennt sich „Vertragslandwirtschaft“ und die Idee dahinter ist auch eine politische: Man will der Kundschaft eine echte Alternative zur globalisierten Ernährungsindustrie bieten. Inzwischen gibt es in der Schweiz etliche solcher Projekte (siehe Kasten), darunter auch der bernische Verein soliTerre. Tobias Sennhauser und Klaus Petrus von tier-im-fokus.ch (tif) wollten mehr darüber erfahren.

TIER-IM-FOKUS: „Gemeinsam, lokal, fair“ – so lautet das Motto von soliTerre. Was steckt dahinter?
SOLITERRE: Der Slogan steht für die drei Hauptgedanken von soliTerre: Wir sind als Verein organisiert, alle Mitglieder – KonsumentInnen sowie ProduzentInnen – können Ideen und Energie in das Projekt einbringen. Wir entscheiden und gestalten die Vertragslandwirtschaft also gemeinsam. Die ProduzentInnen kommen aus der Region Bern, so wird die lokale Landwirtschaft unterstützt und mit der Stadt vernetzt. Und: Das Projekt will faire Bedingungen für KonsumentInnen und ProduzentInnen schaffen. Das wird vor allem durch eine transparente Preisdiskussion und die Umsetzung von alternativen Produktions- und Geschäftsmodellen erreicht.

Im März 2010 hat soliTerre die ersten 50 Auslieferungen gemacht. Wie war das Echo und wie hat sich das Projekt bisher entwickelt?
Die Rückmeldungen der Mitglieder sind grossmehrheitlich positiv und sie scheinen auch fleissig mit ihren FreundInnen über soliTerre zu sprechen. Wir haben ohne grossen Werbeaufwand laufend neue Mitglieder und liefern nun rund 180 Gemüsekörbe pro Woche. Die Mitglieder beteiligen sich in Arbeitsgruppen an den Aktivitäten und alle administrativen und logistischen Arbeiten können fair entlöhnt werden.

In der Westschweiz gibt es das Modell der regionalen Vertragslandwirtschaft schon länger und das ebenfalls mit grossem Erfolg: über 5.000 KundInnen beteiligen sich dort an der Sache. Gibt es eigentlich eine kritische Grösse, bei der die persönliche Nähe zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen nicht mehr gewährleistet ist?
Diese Frage stellen wir uns auch. Falls es eine kritische Grösse gibt, ist sie projektabhängig. Sie hängt davon ab, wie stark sich die Mitglieder engagieren und wie viel professionelle – also bezahlte – Arbeit in die Organisation fliessen kann. Wir glauben nicht, dass soliTerre diese kritische Grösse schon erreicht hat.

Reden wir von Praktischem: Was liefert soliTerre und wo kann man die Ware abholen?
Wir haben fleischhaltige, vegetarische und vegane Körbe in zwei Grössen. Der wöchentliche Korbinhalt wird durch einen Produzenten anhand des saisonalen Angebots der Produktionsbetriebe zusammengestellt. Derzeit liefern wir unseren Mitgliedern wöchentlich einen Korb Gemüse in Quartier-Depots, das sind in der Regel Quartiertreffpunkte oder -läden. Momentan befinden sie sich in Bern in der Länggasse, in Bümpliz, im Breitenrain, Kirchenfeld und der Lorraine.

Und wie setzt sich der Preis zusammen?
Die Preise basieren grösstenteils auf einer gemeinsam festgelegten Preisliste, die jährlich angepasst wird. So garantieren wir unseren ProduzentInnen faire und stabile Preise über das ganze Jahr hinweg. Ein kleiner Anteil unserer Produktion wird seit Sommer 2011 nach einer Flächenpauschale angebaut, die nach einer fairen Risikoteilung strebt.

Was heisst das?
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Betrieb baut auf einer bestimmten Fläche Schnittmangold an. Für diese Fläche erhält er einen fixen Betrag, der gemeinsam berechnet wurde. Fällt die Ernte sehr gut aus, kriegen die KonsumentInnen für ihr Geld viel Schnittmangold. Sollte sie schlecht ausfallen, hat der Betrieb seine Arbeit trotzdem bezahlt. Das Produktionsrisiko wird also auf beide Parteien verteilt. Natürlich spielt hier das gegenseitige Vertrauen eine wichtige Rolle – was wieder auf die Frage der kritischen Grösse zurückführt.

Im Mai 2011 hat die FAO einen Bericht vorgelegt, dem zufolge ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittel verschwendet, sprich: weggeworfen wird. Tatsächlich produzieren Grossverteiler zu viel, sie müssen ihre Ware teilweise entsorgen. Gibt es dieses Problem auch bei soliTerre?
Nein. Wir haben kurze Transportwege und sehr wenige Schritte zwischen Feld und Auslieferung. Allfällige Überschüsse verwerten die Betriebe zu Kompost oder Tierfutter. Was die Haushalte betrifft, haben wir natürlich nur wenige Informationen, aber wir hoffen, dass möglichst viele Leute ihre Überschüsse dem Nährstoffkreislauf zurückführen können.

Immer mehr Studien zeigen, dass saisonale und regionale Produkte die beste Öko-Bilanz haben. KritikerInnen sind skeptisch: Produkte aus der Region, sagen sie, stehen ökologisch gar nicht so gut da, denn häufig werden sie in kleinen Betrieben hergestellt, die keine optimale Auslastung der Maschinen gewährleisten können. Zudem sei der Transport geringer Gütermengen mit kleinen Lieferwagen ineffizient. Und wenn ich als Kunde dann mit meinem PW ins Quartier fahre, um den kleinen soliTerre-Korb abzuholen, sackt die Öko-Bilanz endgültig in den Keller. Wie ökologisch ist die Vertragslandwirtschaft nun wirklich?
Dieses Thema ist sehr komplex und in der Frage gut skizziert. Das Problem der kleinen Mengen wirkt sich sicher negativ auf die Energieeffizienz aus. Aber man darf sie nicht isoliert betrachten! Ökologie bezieht sich auf viel mehr, so zum Beispiel auf den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit oder Artenvielfalt. Da wir mit kleinen Bio-Betrieben aus der Region arbeiten, unterstützen wir auch solche ökologischen Ziele. soliTerre will aber mehr als bloss ökologisch sein. Unser Modell strebt nach nachhaltigen Stadt-Land Beziehungen und nicht „nur“ nach einer energieeffizienten Lebensmittelversorgung.

soliTerre spricht KonsumentInnen an, die wissen möchten, woher die Ware kommt und wie sie produziert wird. Wenn es um tierliche Produkte geht, liegt da bekanntlich einiges im Dunkeln. Das betrifft z.B. die Tierzucht, ein Bereich, in dem auch den Bio-Bauern nach wie vor die Hände gebunden sind: Weil es keine eigene ökologische Zucht gibt, müssen sie oft auf das „Material“ der konventionellen Hochleistungszuchten zurückgreifen. Konkret: Woher stammen die Rinder der soliTerre-ProduzentInnen?
Die Zuchtlinie der Charolais-Tiere stammt aus Frankreich, dem Ursprungsland dieser Rasse. Von dort beziehen wir die Genetik von selbst ausgewählten Stieren, die auch aus Biobetrieben stammen können. Diese Rasse ist ideal für unseren Betrieb, denn sie hat u.a. die Eigenschaft, sich von Raufutter, also Gras zu ernähren. Zudem sind sie robust und weisen eine gute Fleischqualität auf. Aus diesen Jungtieren werden Zuchttiere für die Schweiz herangezogen, und ihre Nachkommen sind dann oft Tiere, die geschlachtet werden. Das Fleisch wird als KAGfreiland-Jungrindfleisch vermarktet, ältere Tiere werden hier in der Region durch einen Metzger oder direkt ab Hof in Kirchlindach als Trocken- und Wurstfleisch verkauft.

Und die Hühner?
Die Genetik der soliTerre Legehennen stammt zwar aus der konventionellen Zucht, die Tiere werden aber als Biolegehennen aufgezogen. Damit erfüllen sie die Anforderungen des Knospe-Labels. Allerdings gibt es da noch Verbesserungspotenzial: Wir sind noch immer auf der Suche nach der passenden Legehenne. Das könnte ein Zweinutzungshuhn sein.

Wenigstens bislang scheinen solche Zweinutzungs- oder „Kombi-Hühner“ aber nicht zu rentieren. Muss also auch soliTerre auf die grossen Zuchtgiganten zurückgreifen?
Unsere Hühner kommen von einem Betrieb aus Belp, der die Legehennen wiederum von einem der zwei Ausbrüter in der Schweiz bezieht, die Bio-Qualität produzieren. Verfolgt man die Herkunft noch weiter zurück, also bis zur Linie der Eltern unserer Legehennen, dann gelangt man fast unweigerlich an die grossen Unternehmen: Die Zuchtlinie stammt von der Rasse Lohmann Braun Classic, die nach BioSuisse-Richtlinien aufgezogen werden. Die Lohmann Tierzucht gehört zur Erich-Wesjohann-Gruppe, einem von vier grossen Unternehmen, die einen Grossteil des Marktes abdecken.

Der Anteil an Fleischprodukten, den soliTerre ausliefert, ist vergleichsweise gering, das Kerngeschäft ist das Gemüse. Kann soliTerre garantieren, dass die ProduzentInnen ihr Saatgut nicht bei irgendwelchen Grosskonzernen kaufen, bei denen sie über exklusive Kauf- oder gar Patentrechte in Abhängigkeiten geraten?
Da soliTerre für alle beteiligten Produzenten nur ein Vertriebskanal unter mehreren ist, können wir nicht die gesamte Produktion der Betriebe bestimmen. Durch die Vereinsstruktur bieten wir aber die Möglichkeit, solche Themen jederzeit zur Sprache zu bringen und zu diskutieren. Unsere Produzenten sagen, dass die Palette von alternativen Anbietern bei Saatgut allgemein weniger breit sind als bei Tieren.

Hinter soliTerre steht eine politische Haltung, die der Globalisierung der Nahrungsmittelproduktion äusserst kritisch gegenübersteht. Oder täuscht dieser Eindruck?
soliTerre ist ein Projekt auf der Suche nach wahrlich nachhaltigen Systemen zur Ernährung der Menschen, das aus einer Zusammenarbeit von Uniterre und Attac entstand. Wir sehen uns im Kontext einer internationalen Bewegung von sogenannten „community supported agriculture“ Projekten, die sich ähnlich organisieren wie soliTerre. Die Motivation liegt darin, dass wir einen Nahrungsmittelmarkt, der Grössenvorteile und Preisdruck ins Zentrum stellt, für die Lebensmittelversorgung als unpassend erachten. Er führt zu den hier diskutierten Problemen und macht die LandwirtInnen abhängig von staatlicher Unterstützung.

Dann ist für soliTerre die Ernährung also nicht länger nur eine Privatangelegenheit?
Die Ernährungsentscheidungen jeder einzelnen Person haben in der Tat sehr grosse Auswirkungen, seien sie soziopolitischer oder ökologischer Art. Wir versuchen, den Menschen eine Alternative zu bieten, die sie einem aus privatem Engagement und Interesse heraus wahrnehmen und mitgestalten können. Letztlich wollen wir einfach ein tolles, vielfältiges Essen ohne bitteren Nachgeschmack.

Vertragslandwirtschaft in der Schweiz

Die regionale Vertragslandwirtschaft, bei der Verträge zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen geschlossen werden, gibt es mittlerweile in vielen Teilen der Schweiz. Die Organisation der vertraglich geregelten Landwirtschaft variiert von Genossenschaft über Verein bis hin zu einem reinen Gemüseabo. GenossenschafterInnen arbeiten üblicherweise einige Stunden pro Jahr auf dem Hof, Vereinsmitglieder haben die Möglichkeit, an Sitzungen mitzubestimmen.

  • soliTerre, Bern: Der Verein wurde im Dezember 2009 von der Organisation attac ins Leben gerufen. Durch Vertragsabschlüsse verpflichten sich die konsumierenden Haushalte für ein Jahr, wöchentlich einen Produktekorb von sechs Biobetrieben aus der Umgebung zu beziehen. Es gibt fleischhaltige, vegetarische und – seit Sommer 2011 – auch vegane Warenkörbe.
  • Les Jardins de Cocagne, Genf: Das Projekt wurde bereits 1978 als Alternative zu den dominierenden Wirtschaftsmächten gegründet. Die Genossenschaft hat heute mehrere GärtnerInnen angestellt, die biologischen Landbau im Raum Genf betreiben. Alle Mitglieder unterschützen die GärtnerInnen an einigen Halbtagen pro Jahr. Aktuell sind rund 380 Haushalte angemeldet.
  • Notre Panier Bio, Fribourg: Notre Panier Bio ist ähnlich wie soliTerre organisiert, jedoch eine Spur grösser: 20 ProduzentInnen liefern 125 Produkte an 33 Verteilungsorten, womit rund 500 Haushalte versorgt werden. Mit der biologischen Vertragslandwirtschaft soll der direkte Kontakt zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen gewährleistet und die Prinzipien der Ernährungssouveränität gefördert werden.
  • Birsmattehof, Basel: Der Birsmattehof ist ein Bauernhof, der von der Genossenschaft Agrico aufgekauft wurde. Diese wurde bereits 1980 gegründet und gehörte zu den ersten in der Deutschschweiz, die eine Verbindung zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen schaffen wollte. Heute sind über 1.200 KundInnen am Projekt beteiligt, die regelmässig einen Korb mit rund 60 verschiedenen Gemüsesorten in Bioqualität beziehen. Fakultativ kann auf dem Hof mitgearbeitet werden, wodurch das Abo billiger wird.
  • Bioabi, Bern: Das Projekt Bioabi entstand anfangs 2010 auf Initiative von drei Freundinnen, die allesamt gerne biologisch und saisonal kochen. Zentrale Motivation sind neben dem bio-saisonalen Angebot auch faire Löhne für die BäuerInnen. Das im Abo erhältliche Gemüse stammt von einem Biohof im Raum Bern.
  • Ortoloco, Zürich: Beim Projekt Ortoloco, der „regionalen Gartenkooperative“, wird auf einem Bio-Betrieb im Limmattal Land gepachtet, wo zusammen mit einer Gärtnerin bzw. einem Gärtner Gemüse angebaut und wöchentlich an die Beteiligten zum Selbstkostenpreis ausgeliefert wird. Durch die Mitarbeit soll einerseits der Bezug zur Produktion wiederhergestellt werden, andererseits würden die realitätsfremden Ansprüche des Marktes wegfallen. 2012 will Ortoloco expandieren und eine zweite Gartenkraft anstellen.
  • Tor14, Zürich: Die Nahrungsmittelkooperative (auch: Foodcoop) betreibt ein Verkaufslager, wo biologische Lebensmittel zu fairen Preisen angeboten werden. Auf Wunsch kann dort auch ein Gemüse-Abo gekauft werden. Die Genossenschaft existiert seit 2006 und wächst gemäss eigenen Angaben seither munter weiter.
  • StadtLandNetz, Winterthur: Bei der Genossenschaft gibt es seit 2010 die Möglichkeit, einmal pro Woche eine Demeter Gemüselieferung an einem Depot abzuholen. Als Besonderheit wird der Preis je nach verfügbarem Einkommen berechnet.

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