23
Interview

„Von Tierrechten sind wir noch weit entfernt“

Die Schweiz, so heisst es immer wieder, verfüge über eines der besten Tierschutzgesetze der Welt. Dazu gehört, dass hierzulande die „Würde des Tieres“ verfassungsmässig geschützt ist – ein anscheinend „epochaler Fortschritt“ für den Tierschutz. Aber was bedeutet das für die Tiere selbst? Verfügen sie damit über besondere Rechte? Müssen sie anders behandelt werden? Oder erweist sich die „Würde des Tieres“ letztlich nur als leere Floskel? Klaus Petrus von TIF im Gespräch mit dem Juristen Gieri Bolliger, Geschäftsleiter der Stiftung für das Tier im Recht (TIR).

Text: Tier im Fokus (TIF)

KLAUS PETRUS: Gieri Bolliger, die Würde des Menschen ist unantastbar. Was ist mit der Würde des Tieres?
GIERI BOLLIGER: Da die Würde einem Lebewesen nicht von aussen verliehen wird, sondern ihm eigen ist und nicht entzogen werden kann, müsste der Grundsatz natürlich auch für Tiere gelten. Im rechtlichen Sinn gilt der Würdeschutz von Tieren, im Gegensatz zu jenem des Menschen, aber trotzdem nicht absolut.

Und wieso nicht?
Zwar bedeutet jede Belastung eines Tieres eine Verletzung seiner Würde – unabhängig davon, ob es sich um physische Belastungen, wie das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden, oder um andere wie das Erniedrigen oder Instrumentalisieren handelt. Die Belastung gilt aus rechtlicher Sicht aber als gerechtfertigt, wenn eine Interessenabwägung im konkreten Einzelfall ergibt, dass das mit einem bestimmten Eingriff in die Tierwürde verfolgte Ziel wesentlich höher zu gewichten ist als die entgegenstehenden tierlichen Belastungen. Dies bedeutet jedoch auch, dass jede Belastung von Tieren bzw. jede Verletzung der Tierwürde zwingend einer Rechtfertigung bedarf.

Dass in der Schweiz die Würde des Tieres seit 2008 nun auch im Tierschutzgesetz verankert ist, betrachten manche als „epochalen“ Fortschritt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, absolut. Der Schutz der Tierwürde ist zudem nicht nur im Tierschutzgesetz, sondern seit 1992 sogar auf Verfassungsebene verankert, was weltweit noch immer einzigartig ist und zumindest grosse Symbolkraft entfaltet.

Eine Garantie ist das allerdings noch nicht …
Richtig. Weil Gesetzesbestimmungen immer nur so viel wert sind, wie sie in der Alltagswirklichkeit auch umgesetzt werden, muss der Fokus nun darauf gelegt werden, die entsprechenden Normen auch konsequent zur Anwendung zu bringen.

Sie haben unlängst ein Rechtsgutachten zum Importverbot von Pelzprodukten verfasst. Darin argumentieren Sie, dass die kommerzielle Pelzgewinnung gegen die Würde der „Pelztiere“ verstosse. Frau Bundesrätin Doris Leuthard wollte davon nichts wissen. Sie befürchtet eine Klage der Welthandelsorganisation (WTO), wenn die Schweiz die Einfuhr solcher Produkte stoppt. Ist das nicht ernüchternd?
Ja, das ist ernüchternd – insbesondere, weil wir in unserem Gutachten nachgewiesen haben, dass ein entsprechendes Importverbot für tierquälerisch erzeugte Pelzprodukte durchaus mit den WTO-Verpflichtungen der Schweiz vereinbar wäre. Und selbst eine allfällige Klage vor den WTO-Streitschlichtungsbehörden würde noch lange nicht bedeuten, dass diese letztlich auch gutgeheissen würde. Diese politische Mutlosigkeit bedeutet eine Art vorauseilenden Gehorsams, der unangebracht ist und jedes Jahr zulasten zehntausender Pelztiere geht, die für unnötige Luxusprodukte massiv gequält werden. Wir werden das Thema daher bald wieder aufgreifen.

Geben solche Fälle nicht all jenen Recht, die sagen: „Der Begriff der tierlichen Würde ist derart schwammig, dass man eigentlich gar nicht weiss, was damit gemeint ist!“
Diese Kritik wird seit Jahren geäussert und verkennt, dass das Tierschutzgesetz (TSchG) die Tierwürde klar als Eigenwert des Tieres definiert, „der im Umgang mit ihm geachtet werden muss“.

Und was heisst das?
Es bedeutet, dass Tiere nicht im Interesse des Menschen, sondern vielmehr um ihrer selbst willen in ihren artspezifischen Eigenschaften, Bedürfnissen und Verhaltensweisen zu achten und zu respektieren sind. Dem Tier ist ein vom menschlichen Zweck losgelöstes Dasein zuzubilligen und es darf auf keinen Fall nur Mittel zum Zweck sein. Der Schutz der Tierwürde ist im Zweckartikel des TSchG verankert und bedeutet einen fundamentalen Grundsatz des Schweizer Tierschutzrechts. Ausserdem zählt das TSchG eine Reihe konkreter Beispielfälle auf, in denen die Tierwürde verletzt wird, so etwa wenn einem Tier Schmerzen, Leiden, Schäden oder Ängste zugefügt werden, wenn es erniedrigt oder instrumentalisiert wird oder wenn sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten tief greifend verändert werden. Zudem werden viele Umgangsformen mit Tieren als Missachtungen ihrer Würde ausdrücklich verboten, so etwa Doping, der Postversand von Tieren oder sexuell motivierte Handlungen mit ihnen. In diesen Fällen hat der Gesetzgeber also eine ganz klare Vorstellung davon, wann die Tierwürde in strafbarer Weise verletzt wird. Bei anderen Umgangsformen, die im Gesetz nicht explizit angesprochen werden, ist es nun Aufgabe der Rechtsprechung, entsprechende Kriterien zu entwickeln und würdemissachtende Praktiken zu verbieten.

Was wären das für Fälle?
Ich denke hierbei etwa an das Enthornen von Rindern und Ziegen, vermenschlichende Auswüchse in der Zucht und Ausstellung von Rassetieren oder an das erniedrigende Vorführen von Wildtieren in Zirkusmanegen.

Aber ist es nicht so, dass die meisten Aspekte, die durch den Würdebegriff erfasst werden, bereits vom alten Tierschutzgesetz abgedeckt wurden? Nehmen wir noch einmal die Sache mit dem Eigenwert. Die Würde eines Tieres achten, so heisst es im Tierschutzgesetz, bedeutet, dessen Eigenwert respektieren; und das wiederum heisst, dass Tiere „um ihrer selbst willen“ zu schützen sind. Aber genau das ist doch ein Grundsatz des ethischen Tierschutzes, dem schon das Tierschutzgesetz von 1978 verpflichtet war.
Das war bis 2008 höchstens implizit so – und in der Praxis konnten lediglich Praktiken im Umgang mit Tieren sanktioniert werden, die nachweislich mit körperlichen Belastungen (Schmerzen, Leiden, Schäden und Ängste) verbunden waren. Nun ist der Schutz der Tierwürde jedoch ausdrücklich im Tierschutzgesetz verankert, wie gesehen bereits im Zweckartikel und darüber hinaus auch an einigen anderen Stellen. Ausserdem ist die Missachtung der Tierwürde ausdrücklich ein Tierquälerei-Straftatbestand, der gleich bestraft wird wie beispielsweise das Misshandeln oder qualvolle Töten von Tieren.

Dann nehmen wir die von Ihnen erwähnten tief greifenden Eingriffe ins Erscheinungsbild von Tieren – auch das laut Gesetz eine Missachtung der tierlichen Würde. Jetzt könnte man doch sagen: Bei solchen Eingriffen handelt es sich typischerweise um „Schäden“, die – falls sie nicht im Sinne des Tierschutzgesetzes gerechtfertigt werden können – unzulässig sind. Nichts anderes aber stand bereits im alten Tierschutzgesetz (und so steht es auch immer noch): „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“. Was bringt der Würdebegriff da Neues?
Der Schadensbegriff des Tierschutzgesetzes bezieht sich in erster Linie auf Verletzungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen und Verhaltensstörungen. Damit gemeint sind mentale oder körperliche Verschlechterungen des tierlichen Zustands. Nun gibt es jedoch auch Veränderungen des tierlichen Erscheinungsbilds, die nicht zwingend mit derartigen Belastungen verbunden sein müssen, etwa das Einfärben oder Bemalen von Tieren zu Werbe- oder Unterhaltungszwecken. Diese Aspekte werden durch den Schutzbereich der Tierwürde nun gleichwohl erfasst.

Der Begriff der tierlichen Würde leitet sich ja vom Begriff der „Würde der Kreatur“ ab. Und damit sind eigentlich alle Lebewesen gemeint! Wenn aber im Tierschutzgesetz von der „Würde“ die Rede ist, bezieht sich das ganz offensichtlich nur auf solche Tiere, die auch empfindungsfähig sind. Ist das nicht inkonsequent?
Doch tatsächlich. Der Schweizer Gesetzgeber hat es – mit Ausnahme der Kopffüsser und Panzerkrebse – bislang bedauerlicherweise abgelehnt, wirbellose Tiere dem Tierschutzgesetz zu unterstellen, obwohl diese rund 95 Prozent aller Tierarten ausmachen.

Und wie wird das begründet?
Mit dem umstrittenen Stand der Wissenschaft, wonach das bewusste Empfinden und Erleben von Schmerzen und Leiden nur bei Wirbeltieren, also Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien zweifelsfrei belegt ist. Dass sich der gesetzliche Würdeschutz nur auf diese Tiere beschränkt, ist umso weniger nachvollziehbar, als dass es diesem ja nicht nur auf physische Belastungen ankommt, sondern die Tierwürde auch ohne körperliche Beeinträchtigungen verletzt werden kann. Der verfassungsmässige Schutz der Tierwürde bezieht sich demgegenüber ausnahmslos auf alle Tiere, nur fehlt eben beispielsweise für Schnecken, Würmer, Spinnen oder Insekten eine Umsetzung auf Gesetzesstufe.

Angenommen, wir würden die „Würde des Tieres“ wirklich ernst nehmen. Müsste sich da nicht unser Umgang mit den Tieren grundsätzlich wandeln? Dürften wir sie z.B. weiterhin züchten, künstlich besamen, ihr Leben lang einsperren, mästen und schlachten?
In letzter Konsequenz müsste die Achtung der Tierwürde tatsächlich bedeuten, dass zahlreiche heute übliche Formen des menschlichen Umgangs mit Tieren nicht mehr gestattet sein dürften. Wie erwähnt ist die Tierwürde im Schweizer Recht aber nicht absolut geschützt, vielmehr können Würdeverletzungen durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden. Welche Interessen dabei als überwiegend in diesem Sinne gelten können, ist stark von den gesellschaftlichen Wertvorstellungen abhängig.

Zum Beispiel scheint ein Grossteil der Bevölkerung den Konsum tierlicher Produkte für absolut legitim zu halten.
Ja, und deshalb ist die entsprechende Nutzung von Tieren nach wie vor erlaubt. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die rechtliche Anerkennung der Tierwürde einen eigentlichen Meilenstein darstellt, auf dem sich weiter aufbauen lässt und der nach und nach auch eine Bewusstseinsveränderung in der Gesellschaft bewirken wird.

Auf der einen Seite schützt unser Tierschutzgesetz die tierliche Würde, auf der anderen Seite gibt es in der Schweiz – anders als etwa in Deutschland – für Tiere nach wie vor keinen Lebensschutz. Wie kann das sein?
Dass das Leben von Tieren an sich im schweizerischen Recht nicht geschützt ist, bedeutet sowohl aus ethischer als auch aus tierschutzrechtlicher Sicht einen gravierenden Missstand, der baldmöglichst behoben werden muss. Die entsprechende Forderung stiess im Rahmen der Revision des Tierschutzgesetzes, die 2008 abgeschlossen wurde, bei den entscheidenden Gremien aber leider nicht auf Gehör.

Wäre den Tieren denn nicht mehr gedient, wenn wir ihnen statt Würde endlich fundamentale Rechte einräumen?
Das eine schliesst das andere nicht aus. Ich beurteile den Schutz der Tierwürde als einen der bedeutendsten tierschutzrechtlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte. Der Schweizer Rechtslage kommt diesbezüglich internationale Vorbildfunktion zu. Vom Einräumen eigentlicher Tierrechte sind aber auch wir noch weit entfernt. Wie gesehen haben Tiere in der Schweiz noch nicht einmal ein Recht auf Leben. Beim Tierrechts-Konzept handelt es sich in erster Linie um ein philosophisches Konstrukt, dem ich zwar grosse Sympathien entgegenbringe, dessen konkrete Umsetzung auf Rechtsebene aber eine enorme Herausforderung darstellt. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass diese Herausforderung nicht angegangen werden sollte.

Gieri Bolliger ist Rechtsanwalt, seit 1994 im Tierschutzrecht tätig und seit 2007 Geschäftsleiter der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) – ein über die Schweizer Landesgrenzen hinaus anerkanntes Kompetenzzentrum zu juristischen Fragen der Mensch-Tier-Beziehung. Bolliger ist Verfasser zahlreicher Rechtsgutachten und wissenschaftlichen Artikeln sowie (Co-)Autor u.a. von Europäisches Tierschutzrecht (2000), Das Tier im Recht – 99 Facetten der Mensch-Tier-Beziehung von A bis Z (2003), Tier im Recht transparent (2008) und Schweizer Tierschutzstrafrecht in Theorie und Praxis (2011).

 

Beteilige dich an der Diskussion

1 Kommentar

Luz
vor 11 Jahre

Wie kann oder darf es eine *Tradition* geben, bei der Lebewesen an Leib und Leben gefährdet bzw. bedroht, verängstigt werden. Ich finde, es stellt allen PolitikerInnen ein emphatisches Armutszeignis aus, wie sie dies, aus welch fadenscheinigen gründen auch immer erlauben. Wie halt so oft: *Tierquälerei aus Gründen der Belustigung und des Zeitvertreibes.* Mein Gott wie armselig.

Ähnliche Beiträge

Der Tierschutz steckt in der Krise – was nun?
Weiterlesen

Der Tierschutz steckt in der Krise – was nun?

Weiterlesen
One animal, one vote? Eine kleine Einführung in die Tierpolitik
Weiterlesen

One animal, one vote? Eine kleine Einführung in die Tierpolitik

Weiterlesen
Tierschutzmeldung
Weiterlesen

Tierschutzmeldung

Weiterlesen
«Die Schule ist kein Ort, um Werbung zu machen»
Weiterlesen

«Die Schule ist kein Ort, um Werbung zu machen»

Weiterlesen
«Die Tierschutzbewegung stilisierte einige Tiere als Kriegshelden»
Weiterlesen

«Die Tierschutzbewegung stilisierte einige Tiere als Kriegshelden»

Weiterlesen
«Werft unsere Geschichte nicht weg!»
Weiterlesen

«Werft unsere Geschichte nicht weg!»

Weiterlesen
Häufig gestellte Fragen zu Tierrechten
Weiterlesen

Häufig gestellte Fragen zu Tierrechten

Weiterlesen
«Der Drache war zuerst da!»
Weiterlesen

«Der Drache war zuerst da!»

Weiterlesen
«Der Schutz der Würde wird nicht durchgesetzt»
Weiterlesen

«Der Schutz der Würde wird nicht durchgesetzt»

Weiterlesen