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Rezension

„Veganismus“ (Bernd-Udo Rinas)

Vegan scheint "in" zu sein, vor allem unter Jugendlichen, die sich dem Anarchismus hingezogen fühlen und alteingessene Werte hinterfragen. Aber was genau haben Veganismus und Anarchismus miteinander zu tun? Sehr viel, meint der Sozialwissenschaftler Rinas. Eine Buchbesprechung von Klaus Petrus.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Bernd-Udo Rinas, Veganismus. Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?, Berlin 2012, ca. CHF 28.– Was hat Anarchismus mit Postmodernismus und Veganismus zu tun? Sehr viel, ist der Sozialwissenschaftler Bernd-Udo Rinas überzeugt. Seiner Ansicht nach sollte die anarchistische Bewegung, will sie für künftige Generationen attraktiv bleiben, endlich die eigenen theoretischen Annahmen hinterfragen (hierin besteht der Bezug zum Postmodernismus). Und dazu gehört, dass die einseitig auf den Menschen ausgerichtete – oder, wenn man das grimmige Gesicht des Humanismus nimmt, speziesistische – Ideologie überwunden werden muss (dies die Verknüpfung mit dem Veganismus).

Inhalt

Wie man sich den Zusammenhang zwischen diesen drei -Ismen konkret vorzustellen hat bzw. wie er sich, gut postmodernistisch, konstruieren lässt, ist das eigentliche Ziel dieser gut 300 Seiten umfassenden Dissertation. Nach einigen allgemeinen Ausführungen zur Soziologie der Jugend(-kulturen) (Kap. I) bietet Rinas einen historisch-systematischen Überblick über die „vegane Bewegung“ (Kap. II), er nennt zentralen Merkmale des Postmodernismus (Kap. III.1) und diskutiert unterschiedliche Ausprägungen des klassischen wie „neuen“ Anarchismus (Kap. III.2). Im Anschluss daran wird sozusagen das politische Potenzial des Veganismus entfaltet, wobei für Rinas v.a. die Idee von Bedeutung ist, Ausbeutung und Herrschaft nicht bloß dann zu kritisieren, wenn sie Menschen betrifft, sondern Unterdrückungsverhältnisse allgemein (unity of oppression) in den Blick zu nehmen (Kap. III.3). Schließlich werden die vielfältigen und bisweilen weit verzweigten Diskussionsstränge, die in dieser Arbeit verfolgt werden, zur These verdichtet, dass sich der Veganismus in einen „postmodernen Anarchismus“ transformieren lässt (Kap. IV).

Kommentar

Im Grunde sind Rinas Thesen nicht neu. Möglichkeiten und Grenzen einer postmodernistischen Umdeutung des klassischen Anarchismus werden seit vielen Jahren u.a. unter dem Stichwort „Postanarchism“ ausführlich diskutiert. Auch gibt es bereits seit geraumer Zeit einen Zweig der Tierrechts-, oder – genauer – der Tierbefreiungsbewegung, der einen dezidiert herrschaftskritischen Ansatz vertritt und für den die vegane Lebensweise zumindest auf der persönlichen Ebene ein Akt der Solidarität mit allen empfindsamen Lebewesen darstellt. Rinas Anspruch besteht denn auch primär darin, den theoretischen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen Konzepte wie „Postanarchismus“ und „Veganarchismus“ fruchtbar aufeinander bezogen werden können. Ob ihm dies tatsächlich gelingt, ist m.E. jedoch zu bezweifeln. Anarchismus ohne Postmodernismus? Zwar befasst sich Rinas recht ausführlich mit dem Postmodernismus im Allgemeinen, doch fehlt eine eingehende und vor allem kritische Auseinandersetzung mit postanarchistischen Ansätzen etwa von Todd May, Saul Newman oder Lewis Call, um (neben Richard Day, den Rinas summarisch nennt) bloß die bekanntesten zu nennen. Dieses Defizit dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich Rinas weitgehend auf Literatur verlässt, die in deutscher Sprache verfügbar ist. So oder so wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie Rinas den Vorwurf an den postmodernistischen Anarchismus, er sei geschichts- sowie theoriefeindlich, bewertet und allenfalls kontert. Denn davon hängt auch ab, inwieweit Konzepte, die der anarchistischen Tradition entlehnt sind, in einem modifizierten Theorienrahmen überhaupt noch verfügbar sind. Rinas selbst scheint der Meinung zu sein, dass dem so ist, wie er (in Anlehnung an Day) am Begriff der Solidarität zu zeigen versucht (S. 150, 173, 203, 269). Solidarisches Handeln entspringe nämlich der Einsicht, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen den eigenen Privilegien und der Unterdrückung anderer und dass zu diesen „anderen“ eben auch nichtmenschliche Tiere gehörten. Diese Neudeutung des Begriffs der Solidarität lässt sich aber auch ohne postmodernistische Umwege bewerkstelligen. Man hat ‚lediglich‘ Argumente dafür zu liefern, dass nichtmenschliche Tiere zu den Kandidaten von Entitäten gehören, die durch die Ausübung meiner Privilegien geschädigt werden können. Anarchismus und Moral Und damit zu einem zweiten Punkt, der in Rinas Arbeit zwar immer wieder angedeutet, aber kaum ausgearbeitet wird: Welche Gründe sollten AnarchistInnen eigentlich haben, ihre Thesen und Begrifflichkeiten auf den außerhumanen Bereich auszuweiten? Aus Sicht der VeganerInnen (zumindest, wie Rinas sie porträtiert, s.u.) bietet sich hier der Rekurs auf basale Grundsätze der traditionellen Moralphilosophie an, wie z.B. das Gleichheitsprinzip (wie das Peter Singer vorschlägt) oder die Verleihung moralischer (sowie juridischer) Rechte auf der Basis der Zuschreibung eines intrinsischen Werts (wie das Tom Regan im Sinn hat). Gegenüber beiden Ansätzen dürften AnarchistInnen jedoch ihre Vorbehalte haben. Was letzteren betrifft, sind sie bekanntlich skeptisch gegenüber dem Begriff des Rechts. Für viele sind Rechte bloß ein Instrument in den Händen mächtiger Ideologien oder Instanzen (wie z.B. dem Staat), mit denen Herrschaftsverhältnisse weiter zementiert werden. Und was ein auf alle Tiere ausgeweitetes Gleichheitsprinzip à la Singer angeht, sind viele AnarchistInnen der Ansicht, es werde hier der Mensch auf eine biologische Entität reduziert (i.e. auf ein Wesen mit Empfindungsfähigkeit), womit außer Acht gerate, was uns in erster Linie ausmache, nämlich: dass wir primär soziale Lebewesen seien. Nicht, dass es gegen diese traditionelle Auffassungen keine Einwände gibt: So wurde (von Feministinnen wie Carol Adams oder von Anarchisten wie Brian A. Dominick) scharfe Kritik an traditionellen Moraltheorien geübt und Konzepten wie Gerechtigkeit, gleiche Rücksichtnahme, Rechte oder Würde eine Ethik der Fürsorge und des Mitgefühls gegenüber gestellt; oder es wurde (z.B. von Ted Benton) zu zeigen versucht, dass auch (viele) nichtmenschliche Tiere ein ausgeprägtes soziales Leben führen; schließlich gibt es Ansätze (wie z.B. derjenige des Anarchisten Bob Torres), welche extreme Formen der Ausbeutung an den Besitzstatus von Lebewesen knüpfen und eine Ausweitung von Begriffen wie Herrschaft oder Unterdrückung auf nichtmenschliche Tiere damit begründen, dass diese Lebewesen nach wie vor Eigentum des Menschen seien beziehungsweise deren Wert auf eine ökonomische Größe reduziert werde. Auch in diesem Fall wäre es interessant gewesen zu sehen, wie Rinas solche Ansätze beurteilt, zumal sie ganz konkret Argumente liefern für seine These, der (soziale) Anarchismus habe die eigenen Annahmen kritisch zu reflektieren – Argumente, die in Rinas Arbeit weitgehend fehlen. Welcher Veganismus? Schließlich ein dritter Punkt. Rinas ist sich zwar bewusst, dass er von einem reichlich eingeschränkten Verständnis von „Veganismus“ ausgeht. Dennoch muten gewisse seiner Aussagen etwas irreführend an – so etwa, wenn er den Veganismus als eine dezidiert nicht-anthropozentrische Lebensweise porträtiert. Zumindest für Menschen, die aus überwiegend gesundheitlichen oder ökologischen Gründen vegan leben (und das sind, wenn man empirischen Studien aus den USA glauben will, nicht wenige), trifft dies so nicht zu. Und auch jene, die vornehmlich ethische Gründe für ihren Veganismus anführen, vertreten nicht schon automatisch einen anti-speziesistischen oder gar herrschaftskritischen Standpunkt – genau diese Art von Veganismus aber hat Rinas ausschließlich im Blick. Geht man davon aus, dass die Zahl vegan lebender Menschen in vielen Ländern nach wie vor im Promillebereich liegt, dürften die von Rinas gemeinten „AnarchoveganerInnen“ de facto einen äußerst kleinen Kreis ausmachen. Für sich genommen ist das nicht weiter schlimm; allenfalls wird damit die These vom Veganismus als zukunftsweisendem Lebensstil arg relativiert. Systematisch eher ins Gewicht dürfte die Tatsache fallen, dass der Veganismus gerade von jenen Menschen aus der Tierbefreiungsbewegung äußerst scharf kritisiert wird, die eine herrschaftskritische Position vertreten. Für sie (die sie selber vegan leben) ist der Veganismus zunächst bloß ein individueller lifestyle ohne politische Dimension. Einer der Gründe besteht darin, dass sie den Speziesismus gerade nicht als persönliches Vorurteil betrachten, das sich mit einigen philosophischen Argumenten kurieren lässt (wie das die von Rinas immer wieder erwähnten Moralphilosophen Singer und Kaplan meinen), sondern als Teil einer Ideologie, die in unserer Kultur fest verankert ist und die (wie der Soziologe David Nibert herausgearbeitet hat) einer ganz bestimmten Verwertungslogik folgt, die darauf angelegt ist, empfindsame Lebewesen in ökonomisch rentable Konsumgüter zu transformieren. Mit anderen Worten sieht es danach aus, als ob der (auch ethisch motivierte) Veganismus selbst für jene Menschen nicht von herausragender politischer Bedeutung ist, die Rinas primär im Auge hat.

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