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Mensch & Tier

Erst die Ethik, dann die Politik?

Keine andere Sozialbewegung hat derart viel Ethik im Rücken wie die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung. Doch gibt es auch Kritik an einer Moralphilosophie für Tiere. Und das, wie Klaus Petrus von TIF meint, zu Recht.

Text: Tier im Fokus (TIF)

So hat sich in den letzten vier Jahrzehnten mit der Tierethik eine philosophische Disziplin herausgebildet, die inzwischen an vielen Universitäten gelehrt wird, immer wieder gesellschaftspolitische Debatten anstösst und nicht zuletzt einen beachtlichen Einfluss auf Teile der Bewegung ausübt. Doch gibt es auch Kritik an einer Moralphilosophie für Tiere. Und das, wie ich meine, zu Recht.

Anspruchsvolle Theorien

So sind diese Theorien – und allen voran die immer noch dominierenden utilitaristischen und deontologischen Ansätze – typische Beispiele für sehr abstrakte und geradezu „ideale“ Ethiken. Sie gehen von einigen wenigen, schier absoluten Moralprinzipien aus und leiten davon logisch einwandfrei ab, wie Menschen mit anderen Tieren umgehen sollten und was dies für das eigene Verhalten zu bedeuten hat. So z.B., dass alle Tiere mit Empfindungen über einen, wie es heisst, „Eigenwert“ verfügen und dieser Eigenwert gleichermassen zu respektieren sei. Was dann offenbar bedeutet, dass wir Tiere niemals nur als Mittel für unsere Zwecke benutzen dürfen. Dabei wird häufig vergessen, dass wir selber keineswegs so „ideal“ sind, wie diese idealen Ethiken uns gerne haben möchten. Die wenigsten von uns handeln durchs Band rational, sind widerspruchsfrei und prinzipientreu. Tatsächlich sind die Kontexte, in denen wir leben und handeln, manchmal dermassen komplex, dass wir nicht immer das tun können und auch wollen, was wir für moralisch zulässig halten. Für eine „reine“ Ethik bleibt das unverständlich. Denn für sie zählt am Anfang und am Ende nur dieses: Ein „Du sollst!“, das auf einem lückenlosen Argumentarium beruht und Handlungsweisen impliziert, die für alle & überall gelten sollen (wie z.B. das „Go vegan“). Dass solche Theorien moralisierend daher kommen, ist wohl unvermeidbar. Und dass sie Züge eines Sektierertums tragen, ist spätestens dann nicht mehr von der Hand zu weisen, wenn sie sich im Besitz der einzig wahren Richtlinie eines moralisch oder politisch korrekten Handelns wähnen. Aber Hand aufs Herz: Wem eigentlich nützt eine perfekte Theorie, wenn sie sich in einem abstrakten Sollen erschöpft?

Historisch blind, empirisch abstinent

Hinter der Tierethik steht die Vorstellung, dass wir über unseren Umgang mit anderen Tieren nachdenken sollten, indem wir zuerst eine Hand voll Moralprinzipien festlegen, anhand derer wir dann unser Handeln bewerten und (vielleicht) dementsprechend korrigieren. Nicht selten werden diese Prinzipien – wie das in der traditionellen Ethik sowieso üblich ist – als „universell“ und ahistorisch aufgefasst. Damit wird unterstellt, dass unsere Beziehung zu den Tieren mehr oder weniger invariant ist. Was aber völlig unzutreffend ist. So haben sich allein in den vergangenen zwei Jahrhunderten die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Tiere ausgebeutet werden, drastisch verändert. Dieser Wandel hat einen kulturgeschichtlichen, ökonomischen wie auch ideologischen Hintergrund, der freilich gar nicht erst in den Blick gerät, wenn man sich (mit Vorliebe im philosophischen Elfenbeinturm, in jedem Fall aber unter seinesgleichen) einzig mit ethischen Argumentationsformen abgibt. Mit dem ahistorischen Zug der Tierethik geht häufig eine empirische Abstinenz einher. Sie zeigt sich daran, dass viele MoralphilosophInnen erstaunlich wenig über die faktischen Bedingungen der Tiernutzung wissen bzw. meinen, dass eine detaillierte Kenntnis von Technologien etwa in der Zucht, Haltung und Tötung von Tieren gar nicht erforderlich ist, um derlei Praktiken als moralisch unzulässig auszuweisen. Diese abermals verkürzte Sicht mag auch damit zu tun haben, dass die Tierethik insgesamt sehr individualistisch ausgerichtet ist. Im Zentrum steht nämlich nicht die Analyse und Kritik eines Systems, das die Unterdrückung von Lebewesen ermöglicht und begünstigt, sondern das moralische Fehlverhalten von einzelnen Menschen, die gegen ganz bestimmte Moralprinzipien verstoßen. Dass die Unterdrückung der Tiere aber eine soziale Praxis darstellt, die auf historisch gewachsenen, gesellschaftlich implementierten und technologisch zunehmend verfeinerten Mechanismen beruht, ist ein Faktum, das für ein tieferes Verständnis der Tierausbeutung unabdingbar ist – für das sich die Moralphilosophie üblicherweise aber gar nicht erst interessiert.

Politik statt Ethik?

Mit all dem will ich keinesfalls nahelegen, dass wir die Ethik einfach durch Politik oder Systemkritik ersetzen sollten (wie das womöglich Teile der Bewegung vorschlagen). Meine Vorbehalte betreffen vielmehr die Idee einer „Zuerst-die-Ethik“ (und dann vielleicht die politische Analyse oder das politische Handeln). Sie bietet aus den hier angetippten Gründen eine arg verkürzte Perspektive auf die Tierausbeutung und ist m.E. unbedingt zu ergänzen durch eine Vielfalt an Theorien und empirischen Studien etwa aus den Bereichen Geschichte, Soziologie, Politologie, Ökonomie, Anthropologie und Ethologie. Oder trendiger gesagt: Es gilt, die traditionelle Tierethik künftig in die Human-Animal Studies einzubinden und ihr dort einen neuen Platz zuzuweisen. Das bedingt allerdings, dass diese Sorte von Ethik ihre Überlegungen zur Mensch/Tier-Beziehung nicht weiter im luftleeren Raum entwickelt, sondern fortlaufend mit real existierenden, gesellschaftlichen Kontexten abgleicht. Idealerweise führt dies dazu, dass sich die Moralphilosophie nicht mehr damit zufrieden gibt, universelle Verhaltensregeln einzufordern, sondern endlich erkennt, dass Ethik im Wesentlichen darin besteht, die sozioökonomischen oder ökologischen Folgen unseres Verhaltens innerhalb eines Gesellschaftssystems zu reflektieren und auf dieser Grundlage konkrete moralische Entscheidungen zu treffen.

Für eine Ethik der Solidarität

Damit ist in meinen Augen auch gesagt, dass eine umfassende theoretische Auseinandersetzung mit der Unterdrückung nichtmenschlicher Tiere auch in Zukunft normative Implikationen aufweisen sollte. Dass die Analyse und Kritik solcher Herrschaftsverhältnisse rein deskriptiv und damit „wertfrei“ zu erfolgen hat – ja, überhaupt „wertfrei“ erfolgen kann –, halte ich für einen Fetisch, der sich solch artifiziellen Gegenüberstellungen wie Fakten vs. Werte oder Sein vs. Sollen verdankt. Allerdings denke ich auch, dass sich die normativen Implikationen nicht länger einseitig nach den universellen Grundsätzen oder Dogmen der traditionellen Ethik ausrichten dürfen wie z.B. der „Heiligkeit des Lebens“ oder der „Unantastbarkeit der Würde“. Sicher, mitunter eifern Menschen abstrakten ethischen Idealen nach. In der Regel aber dürfte ihr moralischer Impuls – wenn überhaupt – doch eher in konkret erfahrbaren Emotionen wie dem Mitgefühl verankert sein. Dieses moralische Gefühl, gepaart mit der Einsicht, dass es einen systematischen Zusammenhang gibt zwischen der Unterdrückung von Tieren und den Privilegien von Menschen namentlich aus Wohlstandsländern, bildet der Grundstein für eine Ethik der Solidarität mit allen Tieren. Diese Ethik ist keine ideale oder reine, sie ist vielmehr eine politische und damit auch realistische Ethik. Sie geht nicht von einem Kodex moralischer Regeln aus, sondern von Kontexten des Handelns, die vielfältigen historischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozessen unterworfen sind. Eine solche Ethik der Solidarität zumindest in Umrissen zu skizzieren, gehört ebenfalls zu den künftigen Herausforderungen einer kritischen Analyse der Mensch/Tier-Beziehungen. Dieser Artikel erscheint in gekürzter Version in der Jubiläumsausgabe von „Tierbefreiung: das aktuelle Tierrechtsmagazin“ im Herbst 2013.

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