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Rezension

„Vegetarische Ernährung“ (Leitzmann & Keller)

Man musste lange darauf warten, nun ist sie erschienen: Die gründlich überarbeitete und aktualisierte Neuauflage von "Vegetarische Ernährung". Im deutschsprachigen Raum wird sich das Buch von Claus Leitzmann und Markus Keller auch weiterhin als Standardwerk behaupten können; Klaus Petrus (tif) hat es rezensiert.

Text: Tier im Fokus (TIF)

C. Leitzmann & M. Keller, Vegetarische Ernährung, Stuttgart: Ulmer Verlag 2010, 366 S., ca. CHF 35.–

Lange erwartet, nun endlich auf dem Markt: Die 2. Auflage des erstmals 1996 erschienenen Werkes Vegetarische Ernährung wurde gründlich überarbeitet und aktualisiert. Im deutschsprachigen Raum wird sich das Buch der Ernährungswissenschaftler Claus Leitzmann und Markus Keller auch weiterhin als Standardwerk behaupten können.

Zielpublikum

In den letzten Jahren konnte sich die (ovo-lakto-)vegetarische Ernährung zunehmend etablieren. Entsprechend wächst das Bedürfnis, sich eingehender mit Vegetarismus zu beschäftigen. Leitzmann & Keller kommen diesem Interesse entgegen. Sie richten ihr Buch an WissenschaftlerInnen, Studierende und interessierte Laien gleichermassen.

Im Gegensatz zu anderen Publikationen über den vegetarischen Lebensstil, ist das Buch von Leitzmann & Keller frei von weltanschaulichen oder gar esoterischen Ansichten. Damit dürften sie tatsächlich ein vergleichsweise breites Publikum erreichen. Die Autoren verfolgen denn auch ausdrücklich das Ziel, „die vegetarische Ernährung wissenschaftlich auf Basis der umfangreichen Literatur zu bewerten und neutral darzustellen“ (S. 9).

Inhalt

Leitzmann & Keller betonen immer wieder, dass der Vegetarismus nicht bloss eine alternative Ernährungsform ist, sondern ein Lebensstil (Kapitel 2).

Für diesen Lebensstil gibt es unterschiedliche Motive, wie auch aus der ausführlichen Darstellung der historischen Entwicklung des Vegetarismus deutlich wird (Kapitel 4): gesundheitliche, ethisch-moralische oder – und darauf legen die Autoren besonders Gewicht – ökologische Gründe (Kapitel 12).

Der Akzent liegt aber auf einer ernährungsphysiologischen Bewertung der ovo-lakto-vegetarischen und veganen Ernährung:

Ein erster Schwerpunkt betrifft die Frage, ob VegetarierInnen ausreichend mit Nährstoffen wie z.B. Kohlenhydrate, Fette, Proteine, Mineral- und Ballaststoffe versorgt sind. Die Autoren kommen zu der insgesamt positiven Einschätzung, dass die Nährstoffversorgung bei einer ausgewogenen vegetarischen Ernährung sichergestellt ist (Kapitel 8).

Zweitens gehen die Autoren der Frage nach, inwieweit die vegetarische Ernährung Risiken aufweist. Potenziell kritische Nährstoffe sind bei einer ovo-lakto-vegetarischen Ernährung Eisen, Jod, Vitamin D, Zink und Omega-3-Fettsäuren, bei der rein pflanzlichen, veganen Ernährung zudem Vitamin B12. Nach Ansicht der Autoren können diese Schwachstellen aber mit einer gut geplanten und optimal zusammengestellten Ernährung behoben werden (Kapitel 9).

Drittens wird geprüft, ob die vegetarische Ernährung für Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen geeignet ist (z.B. Schwangere, Säuglinge, Kinder, ältere Menschen). Leitzmann & Keller klären diese Frage am Beispiel einzelner Nährstoffe und kommen zum Schluss, dass dies mit einer gezielt zusammengestellten Ernährung der Fall ist (Kapitel 10).

Schliesslich widmen sich die Autoren dem präventiven Potential der vegetarischen Ernährung. Auf der Basis aktueller Studien wird dargelegt, dass eine gut geplante und ausgewogene vegetarische Ernährung das Risiko für (Zivilisations-)Krankheiten wie z.B. Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs veringern kann (Kapitel 7).

Vorteile

Das Buch von Leitzmann & Keller zeichnet sich durch eine Vielzahl von Vorteilen aus:

• Die Autoren setzen nicht auf Propaganda, sondern bemühen sich durchgehend um eine sachliche und ausgewogene Darstellung. Das Buch ist somit auch Menschen oder Berufsgruppen zu empfehlen, die gegenüber der vegetarischen und veganen Ernährung skeptisch sind oder gar Vorurteile hegen.

• Grundlegende Begriffe und Zusammenhänge der Ernährungswissenschaft werden auf eine auch für Laien verständliche Art erklärt.

• Die einzelnen Kapitel sind weitgehend unabhängig voneinander. Somit kann das Buch auch als Nachschlagewerk benutzt werden.

• Den Autoren liegt daran, den Vegetarismus in einen historischen und lebensweltlichen Zusammenhang zu stellen. Auf diese Weise erfährt man einiges über die „artgerechte“ Ernährung des Menschen, die Geschichte des Vegetarismus oder über die ökologischen Auswirkungen des Konsums tierlicher Produkte.

Kritik

Für weitere Auflagen des Buches von Leitzmann & Keller (die es gewiss geben wird) wäre wenigstens dreierlei zu erwägen:

• Die ernährungsphysiologische Bewertung der vegetarischen Ernährung enthält jeweils eine abschliessende, zusammenfassende Beurteilung. Es wäre übersichtlicher und für die LeserInnen bequemer, wenn diese am Anfang des entsprechenden Kapitels oder Unterkapitels und zudem in einem Kasten erscheinen würde.

• Auf die vegane Ernährung wird im Vergleich zur Erstauflage zwar ausführlicher eingegangen. Doch sollte sie in einem gesonderten Kapitel behandelt werden, da sie gegenüber der ovo-lakto-vegetarischen Kostform vielerlei Besonderheiten aufweist, die sich auch in der Beurteilung niederschlagen. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Leitzmann & Keller tatsächlich um eine wissenschaftliche Einschätzung der veganen Ernährung bemüht sind und nicht (wie das ansonsten häufig noch üblich ist) alt eingesessene Vorurteile reproduzieren. Allerdings stützen sich sich in ihrer Beurteilung fast ausschliesslich auf die Ergebnisse der Deutschen Vegan-Studie. Andere wissenschaftlich fundierte Übersichtsstudien wie z.B. jene von Stephen Walsh bleiben dagegen unerwähnt.

• Wie Leitzmann & Keller selber betonen, spielen für die meisten Menschen, die sich vegetarisch ernähren, sowie für fast alle, die vegan leben, ethische Überlegungen eine entscheidende Rolle. Entsprechend müsste das Buch dringend ein Kapitel zur Tierethik enthalten. Es sollte eine Einführung in die derzeit wichtigsten Positionen der Tierethik bieten und auf Argumente eingehen, die gegen den Konsum tierlicher Produkte sprechen. Dabei wäre auch hier auf zentrale Unterschiede zwischen dem Ovo-Lakto-Vegetarismus und dem Veganismus zu achten. Häufig wird die Ansicht vertreten, dass es sich beim sog. ethischen Veganismus um eine „radikalere“ Umsetzung jener Moralvorstellungen handelt, die im Grunde auch vegetarisch lebende Menschen vertreten. Von einem ethischen Standpunkt betrachtet, trifft dies allerdings nicht zu, da (überzeugte) VegetarierInnen mit ihrem Konsumverhalten zumindest partiell Tiere auch weiterhin als Ressourcen betrachten, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen (u.a. Milchkühe, Legehennen). Genau diese Haltung wird durch den ethischen Veganismus jedoch grundsätzlich in Frage gestellt.

Claus Leitzmann ist Professor em. am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Giessen. Er gilt als einer der renommiertesten Ernährungswissenschaftler im deutschsprachigen Raum mit den Schwerpunkten Vegetarismus, Vollwert-Ernährung und Ernährungsökologie. Weitere Arbeiten von Leitzmann (Auswahl): Alternative Ernährungsformen (mit M. Keller, A. Hahn, 2005), Vegetarismus (2007), Ernährung des Menschen (mit I. Elmadfa, 2004), Vegetarische Ernährung: Überblick mit Bewertung (2008).

Markus Keller ist freiberuflicher wissenschaftlicher Autor, Lehrbeauftragter und Dozent. Er studierte Ökotrophologie und war jahrelang Mitarbeiter von Claus Leitzmann am Giessener Institut für Ernährungswissenschaft. Seine Schwerpunkte sind alternative Ernährungsformen, Vegetarismus und nachhaltige Ernährung. Weitere Arbeiten von Keller (Auswahl): Alternative Ernährungsformen (mit C. Leitzmann, A. Hahn, 2005), Alternative Ernährungskonzepte (2008), Vitamin B12: Manchmal wird es knapp (2009)

Weitere Materialien von tier-im-fokus.ch zum Thema

  • Info-Dossier 1/2009 Veganismus
  • Info-Dossier 9/2009 Vegane Ernährung
  • Linkliste Vegan (umfassende Seite zu unterschiedlichen Facetten der veganen Lebensweise mit vielen Literaturhinweisen, Links zu Organisationen, Zeitschriften, Foren, Podcasts etc.)
  • Vegane Kochbücher
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