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Interview

„Wir sollten willens sein, Verantwortung zu übernehmen“

Der amerikanische Philosoph Gary Steiner hat sich intensiv mit der Mensch/Tier-Beziehung in der westlichen Tradition auseinander gesetzt. Klaus Petrus von tier-im-fokus.ch (tif) unterhält sich mit ihm über Tierrechte, menschliche Vorurteile und was wir tun können, um sie zu überwinden.

Text: Tier im Fokus (TIF)

KLAUS PETRUS: Du hast Dich in Deinen Büchern ausführlich mit der Mensch/Tier-Beziehung in der westlichen Tradition beschäftigt. Gibt es so etwas wie ein Leitmotiv, das in all diesen Jahrhunderten immer wieder auftaucht?
GARY STEINER: Ja, in der Geschichte der westlichen Philosophie war „Herrschaft“ das dominierende Konzept der Mensch/Tier-Beziehung.

Seit Hesiod waren DenkerInnen der Überzeugung, dass wir den Tieren grundsätzlich überlegen sind. Und dass Tiere prinzipiell von der Sphäre der Gerechtigkeit ausgeschlossen sind. Hesiod erzählt uns, dass Zeus zwar den Menschen das Naturrecht oder den Sinn für Gerechtigkeit verliehen habe, nicht aber den Tieren, da diese unfähig seien, der „Gerechtigkeit zuzuhören“.

Aristoteles und die Stoiker haben diesen Gedanken dann weitergesponnen und behauptet, dass Menschen – im Gegensatz zu Tieren – am „logos“ teilhaben, also denken können und fähig sind, eine Sprache zu gebrauchen. Und genau wie Hesiod waren sie davon überzeugt, dass nur Menschen an Fragen der Gerechtigkeit partizipieren können.

Was darauf hinausläuft, dass nichts, was wir den Tieren antun, ungerecht sein kann…
Richtig. Und diese Ansicht hat die westliche Denkweise in all den Jahrhunderten massgeblich dominiert. Zwar gab es einige Philosophen wie Pythagoras, Empedokles, Plutarch, Porphyr oder Schopenhauer, die versucht haben, so etwas wie eine moralische Gleichheit zwischen Menschen und Tieren zu begründen. Die Wertvorstellungen der westlichen Kultur zeigen aber, wie hartnäckig wir nach wie vor an der von Hesiod eingeführten, gängigen Meinung festhalten. Allein der Blick auf unsere Essgewohnheiten genügt, um diese These zu untermauern …

Weshalb ist es für den westlichen Menschen derart wichtig, sich von anderen Tieren abzugrenzen?
Ich denke, dieses Verlangen entspringt dem verzweifelten Wunsch des Menschen, sich als einzigartiges Lebewesen zu begreifen. Und zwar als Lebewesen, das ein Recht darauf hat, alle nicht-menschlichen Wesen als Ressourcen zur Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse zu gebrauchen.

In der Antike behaupteten die Stoiker, dass die Menschen aufgrund ihres Vernunftvermögens die einzigen gottesähnlichen Wesen seien. Und dass wir deswegen Tiere und andere Lebewesen als blosse Mittel für all jene Tätigkeiten benutzen dürfen, die nötig sind, um am göttlichen logos teilzuhaben.

Im Mittelalter räumten Augustinus und Thomas von Aquin zwar ein, dass Tiere leidensfähige Wesen sind. Aber sie bestritten, dass wir ihnen aufgrund dieser Tatsache einen eigenen moralischen Status einräumen sollten. Denn nur Menschen, nicht aber Tiere, wurden als Gottes Ebenbilder erschaffen, lautete ihre Begründung.

Für den Heiligen Thomas bedeutete das: Wir sollten Tiere nur deshalb nicht leiden lassen, weil Grausamkeit gegenüber Tieren uns Menschen dazu verleiten könnte, auch gegenüber anderen Menschen grausam zu sein.

Auch in der Neuzeit dominierte die Auffassung, dass die Fähigkeit zur Vernunft ein Zeichen der moralischen Überlegenheit sei. Der bekannte Naturforscher und Philosoph René Descartes stritt Tieren nicht bloss jegliches Vernunftvermögen ab, er meinte zudem, dass Tiere über kein geistiges oder mentales Leben verfügen. Wissenschaft und Vernunft, so seine Überzeugung, würden beweisen, dass Menschen die „Herrscher und Besitzer der Natur“ seien. So gesehen erstaunt es nicht, dass Descartes die Tiere als Automaten betrachtete, die wir mit gutem Recht für Experimente, als Nahrungsquelle und anderes mehr benutzen dürfen.

All diese Ansichten über die Einzigartigkeit des Menschen sind letztlich Bemühungen, die menschliche Vorherrschaft über Tiere und die restliche Natur zu rechtfertigen. Man könnte gar so weit gehen und darüber mutmassen, ob es sich dabei nicht um subtil verschleierte Versuche handelt, die Unvermeidlichkeit des Todes zu leugnen …

Gab es in der Neuzeit aber nicht auch einen Wandel? Jedenfalls werden Philosophen wie John Stuart Mill und vor allem Jeremy Bentham häufig als Beispiele zitiert, die zu einem veränderten Bild der Mensch/Tier-Beziehung beigetragen haben.
Tatsächlich ist Bentham bekannt dafür, dass für ihn die Frage, ob Tiere in moralischer Hinsicht zu berücksichtigen sind, nicht davon abhängen darf, ob sie vernünftig sind oder sprechen können. In einer berühmten Fussnote seines Buches An Introduction to the Principles of Morals and Legislation schreibt er: „Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?“ Aufgrund dieser Aussage meinen viele, Bentham sei ein überzeugter Verfechter von Tierrechten gewesen.

Nun steht in dieser berühmten Fussnote aber noch etwas anderes, das sehr viel seltener zitiert wird…
Genau. In derselben Passage, in der Bentham behauptet, dass Empfindungs- oder Leidensfähigkeit das entscheidende Kriterium für moralische Berücksichtigung sei, heisst es zudem:

„Wenn es nur um das Essen von Tieren geht, gibt es einen sehr guten Grund, warum es uns erlaubt sein soll, dass wir sie essen wie es uns beliebt; es gereicht uns zum Vorteil und ihnen niemals zum Nachteil. Sie haben keine jener langfristigen Erwartungen zukünftigen Unglücks, die wir haben… [und] haben niemals einen Nachteil davon, tot zu sein.“

Für Bentham hat der Mensch also das Recht, Tiere zu töten und zu verzehren. Seine Begründung ist die folgende: Nicht-menschliche Tiere sind nicht in der Lage, Ereignisse in ferner Zukunft vorwegzunehmen, Menschen hingegen schon. Deswegen stellt der Tod für Tiere einen weniger grossen Verlust dar als für uns Menschen. Darüber hinaus, so Bentham, sei der Tod eines Tieres, der von Menschenhand herbeigeführt wird, in jedem Fall schneller und mit weniger Schmerzen verbunden, als wenn dieses Lebewesen in freier Wildbahn gestorben wäre.

John Stuart Mill, den Du ebenfalls erwähnst, vertritt eine andere Auffassung. Er postulierte eine Hierarchie verschiedenartiger Wünsche oder Bedürfnisse. Konkret gibt es nach Mill intellektuelle und soziale Bedürfnisse, zu denen bloss menschliche Wesen fähig sind. Diese Bedürfnisse stehen aber über den physischen Bedürfnissen, die vor allem nicht-menschliche Tiere haben. Entsprechend glaubte Mill, dass „es besser ist, ein unzufriedener Narr zu sein als ein zufriedenes Schwein“.

Diese Einsicht hat natürlich Konsequenzen: Im Falle eines Konflikts zwischen menschlichen und tierlichen Bedürfnissen sind wir grundsätzlich dazu berechtigt, unsere eigenen Bedürfnisse über jene der Tiere zu stellen.

Die moderne Tierethik stellt diesen Grundsatz in Frage und postuliert eine wie auch immer geartete „Gleichheit von Mensch und Tier“. Peter Singer und Tom Regan gelten als Aushängeschilder dieser Strömung, die auch „Tierbefreiungsbewegung“ oder „Tierrechtsphilosophie“ genannt wird. Wie siehst du das?
Im Grunde schliesst Peter Singer direkt an die Überlegungen von Bentham und Mill an. Auch er ist der Ansicht, dass Tiere durchaus ein Interesse daran haben, Leiden zu vermeiden und dass wir dieses Interesse in moralischer Hinsicht berücksichtigen sollten.

Und auch Singer glaubt, dass Tiere – oder jedenfalls die meisten Tiere – kein Interesse an einer fortdauernden Existenz haben. Wie im Zusammenhang mit Bentham schon erwähnt, öffnet eine solche Sicht Tür und Tor für eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Tod von Tieren zu rechtfertigen.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich anzumerken, dass Singer ausdrücklich sagt, wir Menschen hätten keine kategorischen Pflichten gegenüber anderen Tieren. Insbesondere seien wir nicht grundsätzlich dazu verpflichtet, vegetarisch oder vegan zu leben.

Der Tierrechtler Tom Regan scheint anderer Meinung zu sein…
Auf den ersten Blick schon. Ob wir Tieren einen moralischen Status einräumen sollten, hängt nach Regan nicht davon ab, ob es sich dabei um empfindungsfähige Wesen handelt, sondern ob sie – wie er es nennt – „Subjekte-eines-Lebens“ („subject-of-a-life“) sind. Und anders als Singer, der wie Bentham und Mill ein Utilitarist ist, vertritt Regan einen sogenannt deontologischen Standpunkt, der es ermöglicht, von kategorischen Pflichten zu sprechen.

Allerdings glaubt auch Regan, dass wir Menschen aufgrund unserer besser ausgereiften kognitiven Fähigkeiten gegenüber Tieren einen übergeordneten moralischen Status haben.

So vertritt er in seinem berühmten Rettungsboot-Beispiel die Auffassung, dass beliebig viele nicht-menschliche Tiere geopfert werden sollten, wenn es darum geht, nur einen einzigen Menschen zu retten. Regan argumentiert hier im Wesentlichen wie Singer: Die Tatsache, dass sich Menschen an Vergangenes erinnern können und einen Sinn für die ferne Zukunft haben, bedeutet, dass sie durch den Tod mehr zu verlieren haben als andere Tiere. Deshalb sollten wir dem Leben und den Interessen der Menschen höhere Priorität einräumen als dem Leben und den Interessen der Tiere.

Also bleiben auch Singer und Regan letztlich in den gängigen Vorurteilen der westlichen Tradition verhaftet?
Ja. Singer und Regan gelten zwar als die einflussreichsten zeitgenössischen Befürworter der Idee, dass wir Tieren einen direkten moralischen Status einräumen sollten. Aber auch ihre Ansichten sind – wenn vielleicht auch entgegen ihrer eigenen Absichten – von anthropozentrischen Vorurteilen durchsetzt.

Der Anthropozentrismus ihrer Theorien besteht darin, dass sie dogmatisch behaupten, die menschliche Fähigkeit zu abstraktem Denken sei ein Beleg dafür, dass uns ein höherer moralischer Wert zukommt als nicht-menschlichen Tieren.

Doch welchen Sinn macht die Annahme, dass die Fähigkeit zu abstraktem Denken irgendetwas mit dem moralischen Status zu tun hat?

Nehmen wir an, es gäbe tatsächlich eine solche Verknüpfung zwischen kognitiven Fähigkeiten und moralischem Status. Dann müssten wir konsequenterweise intelligenteren Menschen einen höheren moralischen Wert beimessen als weniger intelligenteren Menschen. Das aber tun wir nicht – oder wir sollten es zumindest nicht tun.

Dass wir in unserem Umgang mit Tieren von einer solchen Verknüpfung ausgehen, nicht aber, wenn es um Menschen geht, ist reiner Speziesismus, oder anders gesagt: eine moralische Ungleichbehandlung von Lebewesen, nur weil sie zu dieser und nicht zu jener Spezies gehören.

Was braucht es, um diese auf die Vorherrschaft des Menschen pochende, anthropozentrische Sichtweise zu überwinden?
Mir scheint, das grösste Hindernis bei der Überwindung des Anthropozentrismus sind menschliche Vorurteile. Wir sind Erben einer sehr langen Tradition. Und diese Tradition hat uns permanent darin bestärkt, dass wir in unserem Handeln keinerlei Rücksicht auf nicht-menschliche Tiere nehmen müssen.

Tatsächlich wurde unser Leben durch die Nutzung von Tieren wesentlich einfacher und angenehmer. Wir setzen sie als Lasttiere ein, wir gebrauchen sie für Experimente, als Nahrungsquellen oder zur Unterhaltung. Diese Verwendung von Tieren ist so tief in unserem Alltag und unserem kulturellen Bewusstsein verankert, dass die Aussicht, diese anthropozentrischen Gewohnheiten abzulegen, entmutigend, beängstigend und beinahe unmöglich scheint.

Um den Anthropozentrismus zu überwinden, müssten die Menschen einen immensen Akt der Selbst-Aufopferung vollbringen: Wir müssten willens sein, genau jene Verantwortung zu übernehmen, die wir seit Jahrtausenden energisch von uns weisen. Und wir müssten bereit sein, auf all diese raffinierten Rationalisierungen zu verzichten, welche die Ausbeutung der Tiere zum Zwecke des menschlichen Wohlbefindens rechtfertigen sollen. Schlussendlich müssten wir die moralische Gleichheit von Menschen und nicht-menschlichen Tieren anerkennen.

Und was hätte das für Konsequenzen?
Dieses Zugeständnis hätte eine Forderung nach einem strikten Veganismus zur Folge, also die kategorische Ablehnung, Tiere als Nahrungsquellen, usw. zu verwenden.

Dies ist allerdings ein „Opfer“, zu dem viele Menschen schlichtweg nicht bereit sind, weil sie es beispielsweise mögen, Fleisch zu essen. Die Behauptung, dass es keine moralische Rechtfertigung gibt, tierliche Produkte zu konsumieren, ist für sie völlig fremd.

Apropos Essgewohnheiten: Du hast jüngst in der „New York Times“ eine Kolumne über Thanksgiving geschrieben, eine Form von Erntedankfest, das für die amerikanische Bevölkerung offenbar sehr wichtig ist. Worum ging es in diesem Text?
Der Artikel erschien am 22. November 2009, dem Sonntag vor Thanksgiving. Truthähne sind die traditionelle Hauptspeise bei diesem Anlass, und einige Leute glauben, dass sie die moralischen Probleme, die mit dem Töten von Tieren für den menschlichen Bedarf verbunden sind, durch den Kauf von „Freiland-Truthähnen“ minimieren oder sogar vermeiden können.

Genau dieses Verhalten habe ich in meinem Artikel kritisiert, indem ich u.a. darauf verwiesen habe, dass die Vorschriften des Landwirtschaftsdepartments der Vereinigten Staaten für die Bezeichnung „Geflügel aus Freilandhaltung“ so gut wie bedeutungslos sind. Damit zum Beispiel auf einen Truthahn diese Bezeichnung zutrifft, ist es nicht nötig, dass er sich nur schon eine einzige Sekunde im Freien aufgehalten hat – er muss lediglich „Zugang zum Freiland“ haben.

Wie war die Reaktion?
Sie war enorm. Ich habe nach Erscheinen des Artikels rund 400 Emails erhalten, die ich alle beantwortet habe, und auch jetzt melden sich noch ab und zu Leute bei mir.

Eine Woche, nachdem mein Text publiziert wurde, veröffentlichte die „New York Times“ eine Vielzahl von LeserInnenbriefen. Obwohl ich meinen Artikel nicht primär an VegetarierInner oder VeganerInnen richtete, unterstützten etwa 90 Prozent der Antworten, die ich per Email erhielt, meine Sichtweise, und diese Reaktionen stammten überwiegend von VegetarierInnen, VeganerInnen oder von Leuten, die sagten, dass sie ernsthafte Bedenken bezüglich ihres Fleischkonsums hätten.

Die restlichen zehn Prozent der Reaktionen waren eher skeptischer Art, einige wenige waren sehr kritisch. Diese kritischen Antworten stammten von Leuten, die sich darüber empörten, Tiere in moralischer Hinsicht mit Menschen zu vergleichen. Auch fanden sie meine Behauptung abwegig, dass die Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken in jedem Fall einer Rechtfertigung bedarf.

Dann gab es noch einige kritische Reaktionen von veganen AktivistInnen; sie waren der Meinung, dass mein Artikel zu konfrontativ sei und dadurch Menschen abgeschreckt würden, die sich womöglich für eine vegane Lebensweise entschliessen möchten.

Die unterschiedlichen Lager, auf die Du jetzt anspielst, gibt es auch innerhalb der Bewegung: Auf der einen Seite stehen die sogenannten TierschützerInnen, die sich primär für artgerechte Tierhaltung, also für Reformen in der Tiernutzung einsetzen, auf der anderen sind da TierrechtlerInnen, welche einen abolitionistischen Standpunkt vertreten und die Abschaffung (= abolition) der Tiernutzung fordern. Wie denkst Du über diese Debatte?
Tatsächlich gibt es diese Diskussion und sie ist recht heftig.

TierschützerInnen glauben, dass bestimmte Formen der Tiernutzung erlaubt sind. Allerdings, so sagen sie, sind wir verpflichtet, Tiere, die wir für unsere Zwecke nutzen, „human“ oder „artgerecht“ zu behandeln. Der Gedanke dahinter ist, an einem Beispiel gesagt, dieser: Einem Huhn, das vor der Schlachtung unter sonst gleichen Umständen weniger leidet, geht es insgesamt besser als einem Huhn, das aufgrund bestimmter Haltungsbedingungen mehr leiden muss.

Wie Du sagst, sind TierrechtlerInnen dagegen der Auffassung, dass jegliche Tiernutzung grundsätzlich ungerechtfertigt ist. Auch sind einige von ihnen davon überzeugt, dass die Massnahmen der TierschützerInnen letzlich nur dazu beitragen, dass die KonsumentInnen mit einem guten Gewissen auch weiterhin Tiere ausbeuten. Mit anderen Worten: Diese Massnahmen haben bloss den Zweck, die Tierausbeutung schön zu reden.

Natürlich, auf den ersten Blick macht der Gedanke, dass es einem Huhn, das vor der Schlachtung weniger leidet, insgesamt besser geht, durchaus Sinn. Und doch ist diese Sichtweise äusserst irreführend. Denn sie versperrt den Blick auf den kulturellen Kontext, in dem Tiernutzung stattfindet, und damit auf eine Tatsache, die TierschützerInnen offenbar nicht erkennen oder bewusst nicht erkennen wollen, nämlich: dass wir im Endeffekt die Hühner töten.

Auch wenn wir einräumen, dass Tierschutzgesetze oder -verordnungen das Dasein von Nutztieren verbessern – und ich bin nicht überzeugt, dass sie dies auch wirklich tun –, sollten wir nicht vergessen: Letztlich stellen solche Bestimmungen die gesetzliche Erlaubnis dar, Tiere für unsere Zwecke zu nutzen. Genau darin besteht aber das Problem, denn man sollte einsehen, dass die Tiernutzung grundsätzlich nicht erlaubt sein dürfte.

Nun ist es aber eine Tatsache, dass wir von Tierrechten noch weit entfernt sind. Was meinst Du: Wie lässt sich die Forderung, Tiere nicht mehr für unsere Zwecke zu nutzen, umsetzen?
Ich denke, dass sich die Anerkennung von Tierrechten schrittweise entwickeln wird, falls dies denn überhaupt je der Fall sein sollte.

Auch ich kam stufenweise zum ethischen Veganismus. Und noch immer bin ich bestrebt, Änderungen in meinem Leben vorzunehmen, die mich näher an das Ideal der Anerkennung des moralischen Wertes von Tieren bringen.

Ich hatte schon immer eine starke Beziehung zu Tieren, eine Art „verwandschaftliches Band“. Irgendwann musste ich aber einsehen, dass es einen fundamentalen Widerspruch zwischen meiner Achtung für Tiere und der Tatsache gab, dass ich Fleisch und andere tierliche Produkte konsumierte. Zu diesem Zeitpunkt verwandelte ich meine „Tierliebe“ in einen spezifisch moralischen Respekt gegenüber diesen Lebewesen. Damals hörte ich auf, Fleisch zu essen.

Also der „klassische Weg“: Vom Fleischkonsum zum Vegetarismus und dann zum Veganismus…
Ja, für mich war der Vegetarismus tatsächlich der erste Schritt, die Rechte der Tiere zu respektieren.

Allerdings habe ich dann weiter nachgedacht und mich über die Praktiken der Ei- und Milchproduktion informiert. Und so kam ich zu einer weiterführenden Einsicht: Der Gebrauch von Tieren als Nahrungslieferanten ist grundsätzlich falsch, und zwar einerlei, ob wir die Tiere töten oder nicht. (Erst später erkannte ich, dass wir diese Tiere ja ohnehin töten, auch wenn die Produktion von Milch und Eiern sie per se nicht tötet.) Zu jenem Zeitpunkt habe ich aufgehört, jegliche tierlichen Produkte zu essen und bezeichnete mich als „Veganer“.

Nun ist vegan zu leben aber nicht bloss eine Sache der Ernährung, oder?
Ganz richtig. Und tatsächlich führten mich weitere Überlegungen zu dem Schluss: Wenn es falsch ist, Tiere zum Zwecke der Ernährung zu gebrauchen, dann muss jede Form der Nutzung von Tieren falsch sein, die deren Freiheit beeinträchtigt. Also kaufte ich auch keine Produkte mehr aus Leder, Wolle oder Seide.

Heutzutage versuche ich herauszufinden, welche Produkte ausser Nahrung und Bekleidung – wie zum Beispiel Medikamente – tierliche Substanzen enthalten oder auf der Nutzung von Tieren beruhen. Auch solche Produkte verwende ich nicht mehr.

Letztlich hat mich dieser schrittweise Prozess im Gedanken bestärkt, dass die Tiernutzung derart in unserem Leben verankert ist, dass es unmöglich ist, jede Form der menschlichen Ausbeutung von Tieren aus der Welt zu schaffen.

Ich denke, wir müssen einsehen, dass der strikte Veganismus eine Form der Achtung von Tierrechten darstellt, die der Philosoph Immanuel Kant „regulatives Ideal“ nannte: Es ist dies eine Zielsetzung, die eine nie endende Aufgabe nach sich zieht, und die niemals voll und ganz erreicht werden kann. Dennoch müssen wir immer wieder versuchen, diese Aufgabe noch besser zu verrichten.

Abgesehen von theoretischen Überlegungen: Was bedeutet Dir selbst der Veganismus?
Der Veganismus ist eine der zentralen moralischen Verpflichtungen, die mein gesamtes Leben bestimmen. Er ist eine Haltung, die für mich genau so wichtig ist wie mein Gefühl der moralischen Verantwortung gegenüber anderen Menschen.

Für mich ist die vegane Lebensweise Ausdruck von Bescheidenheit, Pietät und Entschlossenheit, mein eigenes Leben so zu leben, dass es den Göttern – wenn es sie denn gäbe – gefallen würde. Sie ist Zeichen einer (wie ich es nennen möchte) „zärtlichen Rücksicht“ auf alle empfindungsfähigen Lebewesen. Und sie ist eine Anerkennung der Tatsache, dass mein eigenes Leben nicht mehr zählt als das Leben all jener Wesen, die bewusst danach streben, ihr eigenes Potenzial und ihren angemessenen Platz im kosmischen Plan der Dinge zu verwirklichen.

Aus dem Amerikanischen von Florian Wüstholz.

Gary Steiner ist John Howard Harris Professor für Philosophie an der Bucknell University, USA. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, so u.a. Anthropocentrism and Its Discontents: The Moral Status of Animals in Western Philosophy (2005) und Animals and the Moral Community: Mental Life, Moral Status, and Kinship (2008). Mehr von Gary Steiner in seinem Interview „A Vegan Diet is a Moral Obligation“ (als Video) und seinem Vortrag über Tierrechte und Derrida (2005) und (als Video 2010).

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