16
Nutztierhaltung

Das geschrumpfte Wohl der Tiere

Wie wir Tiere betrachten, so behandeln wir sie. Ein Essay von Klaus Petrus (tif) über das auf den menschlichen Nutzen geschrumpfte Wohl der Tiere und den drohenden Verlust unserer eigenen Menschlichkeit.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Gelebtes Brauchtum

Schon früh morgens marschieren sie mit Vaseline, Fön und Haarspray auf. Dann wird geschruppt, gestriegelt und gekämmt. Stumm und geduldig stehen sie da, die Kälber, Muneli, Kühe, Geissen und Schafe, und lassen mit sich geschehen. Unter den schamlosen Blicken von Neidern und Experten wird gestichelt und gerichtet.

Die Rede ist von Zuchtschauen und Viehmärkten, von „Brauchtum“, das gelebt sein will.

Hier kommt alles zusammen, was ein Tier zu bieten hat, schwärmen die Insider: Kraft, Potenz, Leistung & Schönheit. Eine echte Championne unter den Kühen hat eine perfekte obere Linie, ein starkes Fundament, eine saubere Beckenlage und ein traumhaftes Euter, das optimal mit der Bauchwand verwachsen ist.

Beste Voraussetzungen für Höchstleistungen also: bis zu 10.000 Liter Milch in 305 Tagen sind längst keine Seltenheit mehr, denn schliesslich haben die Milchkühe von heute einen potenten Stammbaum, will heissen: einen Vater, der die Milchleistung seiner Kinder bereits in den Genen trägt und sie per Portion Ejakulat zig-tausendfach vererbt.

Seine Gespielinnen bekommt der „gehörnte Freier“ nicht zu Gesicht, denn die fristen ihr Dasein fernab in irgendwelchen finsteren Ställen und bekommen das Sperma vom örtlichen Besamer über eine Pipette verabreicht.

Auch im „technischen Männerbordell“ geht es keimfrei zu, wie Heini Hofmann in seinem Klassiker „Die Tiere auf dem Schweizer Bauernhof“ zu berichten weiss: „Willig lassen sich die kolossalen Genmaschinen im automatischen Bewegungskarussell der Besamungsstation an der Nasenringkette spazieren führen, um nachher in der Sprunghalle ebenso willig ein Phantom zu besteigen und einen vorgewärmten Kunststoffbeutel als Rindervagina anzuerkennen, um sich anschliessend, nach getanem Tagewerk, im Stall zur Ruhe zu bewegen.“

Bei natürlicher Befruchtung, rechnen die Experten vor, käme ein Bulle bloss auf 100 Nachkommen pro Jahr, so aber sind es im Schnitt 20.000 Kälber. Geradezu legendär waren vor Jahren noch „Topshots“ wie der Braunviehmuni Donald, der es insgesamt auf 70.000 Erstbesamungen brachte.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Bis auf weiteres rekordverdächtig ist der australische Ladino Park Talent, der mindestens eine Million Spermadosen produzierte und als Spezialist für Beckenbreite und Euteraufhängung galt. Talent-Töchter gibt es inzwischen überall auf der Welt. Und so machte sich auch hierzulande eine gewisse Betroffenheit breit, als zu lesen war, dass der Superbulle anfangs 2010 „abgegangen“ war.

Vom Wert der Tiere für uns Menschen

Zuchtschauen mitsamt diesem Besamungs-Hightech sind bloss ein besonders bizarres Beispiel für das auf den menschlichen Nutzen geschrumpfte Wohl der Tiere. Denn am Ende gilt allerorts die Formel: Wie wir Tiere betrachten, so behandeln wir sie!

Wir begaffen ihre Euter, ihre Becken, ihre Bemuskelung, ihre Rippen, wir kalkulieren ihr Geschick, ihre Beständigkeit, ihre Treue. Und nennen sie „Milchkühe“, „Zuchtbullen“, „Mastschweine“, „Legehennen“, „Trüffelschweine“ oder „Dressurpferde“.

Das sind keine biologischen Kategorien, dahinter stehen „Verwendungszwecke“, die wir den Tieren aufbürden und die sie für uns zu erfüllen haben – für unsere Ernährung, Bekleidung, Forschung oder nur schon: zu unserem Vergnügen.

Wie selbstverständlich nehmen wir sie dabei in Beschlag und reduzieren ihren Wert auf eine Funktionsweise in einem penibel durchdachten Verwertungssystem. Was die Produktionsschlaufe zum Erlahmen bringt, wird mit dem Segen der Tierschutzverordnungen touchiert, gekürzt, abgeschliffen oder weggeäzt: die Schnäbel der Hühner, die Sporen der Küken, der Schwanz der Lämmer, die Zahnspitzen der Ferkel, die Hörner der Rinder.

Entfremdet, sozial beraubt und optimiert

Das Ziel dieser Verwertungsmaschinerie steht im Voraus fest: In immer kürzerer Zeit soll das Tier immer mehr leisten.

Zu diesem Zweck wird es sich selbst entfremdet und sozial beraubt, zum Beispiel: Keine Milchproduktion ohne Kälber, die ihren Müttern kurz nach der Geburt weggenommen und einzeln in „Kälberiglus“ gesperrt werden, damit sie sich nicht gegenseitig besaugen. Denn das könnte ihr Risiko erhöhen, später an Mastitis zu erkranken. Was gleichwohl geschieht. Rund ein Drittel der Kühe leiden an schweren Euterentzündungen, auf Bio-Höfen sind es genauso viele.

Dagegen muss etwas getan werden: Gummimatten, auf denen die Tiere liegen, sollen ihre Last lindern, gleichzeitig werde damit die Milchproduktion angeregt, wollen Wissenschaftler herausgefunden haben. Womit allen gedient wäre, dem Bauer und seiner Kuh.

Foto © tier-im-fokus.ch

Ähnliche Kalkulationen kreisen um Kosten und Nutzen von Einstreu in der Schweinemast und kommen zum Schluss: weniger Verletzungen, weniger Aggressivität, dafür mehr Nachwuchs. Ein Geben und mehr noch ein Nehmen. Um die Reproduktionsphase zusätzlich zu steigern, wird den ZüchterInnen eingeflüstert, die Säugezeit der kleinen Ferkel bereits am 18. Tag zu unterbinden.

Die neugierigen, verspielten, familiären Jungen kommen schnurstracks in die Vormast, dann in die Endmast, dann auf die Schlachtbank. Die „Lebensdauer“ dieser Tiere – sie schwankt zwischen 180 und 220 Tagen – bemisst sich einzig nach Produktionsphasen und Gewicht pro Zeiteinheit. Dabei können Schweine 10 Jahre und älter werden.

Zum Wohl der Tiere & zum Nutzen der Wirtschaftlichkeit also. An dieser Floskel orientiert sich heutzutage fast jede tierschützerische Massnahme. Mehr zu fordern sei „unrealistisch“, „weltfremd“, „radikal“ oder, wenn gewissen TierschützerInnen die Argumente dann endgültig ausgehen, „kontraproduktiv“.

Für das geschrumpfte Wohl der Tiere sorgen?

Dabei möchte man meinen, das Wohlbefinden betreffe ein Lebewesen in seiner Ganzheit: in seiner körperlichen Unversehrtheit, in seiner Freiheit, seinem sozialen Tun, seinen Bedürfnissen, Empfindungen, Interessen und Gefühlen, in seinem gesamten Leben halt.

„Wer mit Tieren umgeht, hat für ihr Wohlergehen zu sorgen“, heisst es im Schweizerischen Tierschutzgesetz. Ein hoher Anspruch, wie auch der Gesetzgeber weiss. Und hält noch im selben Satz einschränkend fest: „soweit es der Verwendungszweck zulässt“.

Dass hiermit sämtliche Türen offen stehen für fast jede erdenkliche Form der strukturimmanenten Tierquälerei, räumen inzwischen auch jene ein, die fest daran glaubten, das Tierschutzgesetz sei mehr als ein Handbuch für einen möglichst profitablen Umgang mit dem Eigentum Tier.

Tatsächlich sind Geburt, Heranwachsen und Gesundheit längst keine Merkmale des Lebendigen mehr, sondern objektivierbare Faktoren einer kontrollierten Wertschöpfung.

Am Ende steht ein steril verpacktes Produkt, das uns Genuss, in jedem Fall aber maximale Distanz zu Leid, Qual und Tod der dafür verwerteten Tiere garantieren soll.

Wider den Verlust der Menschlichkeit

Diese systembedingte Distanz führt notgedrungen auch zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst. „Die Etablierung und Akzeptanz des Schlachthaussystems hat zu dem Paradox geführt, dass es Jahr für Jahr Milliarden von Opfern gibt, aber keine Täter“, gibt der Journalist Ingolf Bossenz zu bedenken, und Elizabeth Costello hält in J.M. Coetzees „Das Leben der Tiere“ fest: „Der Schrecken besteht darin, dass die Mörder sich weigern, sich in ihre Opfer hineinzuversetzen“. Beide sehen in unserem Verhältnis zu den Tieren eine weitere Zerstörung der Menschlichkeit – der viel gerühmten „Humanitas“ – und appellieren an unser aller Mitgefühl.

Mitgefühl sei eine Fähigkeit, die es uns erlaubt, Anteil am Leben eines anderen zu nehmen. Voraussetzung dafür, sagt die Psychologie, sei die Bereitschaft für eine Veränderung eingespielter Sichtweisen, für eine Öffnung der Perspektive, für ein anderes Sehen.

Geht es um unseren Umgang mit den Tieren, müsste das heissen: Wir sollten endlich wieder ihr Leben in seiner Ganzheit in den Blick nehmen! Dass wir Menschen ein Gefühl dafür entwickeln, selber Teil einer lebendigen Welt zu sein und uns zugleich bewusst werden, wie verwundbar auch wir sind, könnte ein Anfang sein.

Denn wie, beim besten Willen, soll Mitfühlen mit Tieren möglich sein, wenn wir ihnen unentwegt genau das rauben: ihr eigenes Leben?

Beteilige dich an der Diskussion

2 Kommentare

Lydia
vor 13 Jahre

Tief berührt hat mich der Anfang, als es um die Stiere ging.
Ich war vor wenigen Tagen auf dem Hof von Swissgenetics. Es läuft alles genau so ab, und die Tiere sind lediglech einige Maschinen…

Dem ganzen Artikel stimme ich aus tiefstem Herzen zu.

Jochen Buchholz
vor 13 Jahre

Der Artikel hat mich sehr berührt und ist mir zu Herzen gegangen, weil darin sehr differenziert und intelligent argumentiert und gedacht wird. Danke!

Ähnliche Beiträge

7 Gründe, wieso du die Initiative gegen Massentierhaltung unterstützen solltest
Weiterlesen

7 Gründe, wieso du die Initiative gegen Massentierhaltung unterstützen solltest

Weiterlesen
Tier im Fokus zeigt Rinderhalter wegen mehrfacher Tierquälerei an
Weiterlesen

Tier im Fokus zeigt Rinderhalter wegen mehrfacher Tierquälerei an

Weiterlesen
Immer mehr Turbokühe
Weiterlesen

Immer mehr Turbokühe

Weiterlesen
Die Beschönigung der Tierhaltung aufbrechen
Weiterlesen

Die Beschönigung der Tierhaltung aufbrechen

Weiterlesen
«Das Zweinutzungshuhn wird sich nicht durchsetzen»
Weiterlesen

«Das Zweinutzungshuhn wird sich nicht durchsetzen»

Weiterlesen
Das Schlachten abschaffen
Weiterlesen

Das Schlachten abschaffen

Weiterlesen
Kein Tier ist für ein Leben an der Kette geboren
Weiterlesen

Kein Tier ist für ein Leben an der Kette geboren

Weiterlesen
Neue Enthüllungen aus der Hühnermast
Weiterlesen

Neue Enthüllungen aus der Hühnermast

Weiterlesen
TIF-Recherche: Die Ware Huhn
Weiterlesen

TIF-Recherche: Die Ware Huhn

Weiterlesen