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Nutztierhaltung

CH 712.1640.5235.2: zum 2.000sten Mal 100.000 kg

Immer grösser, immer schneller, immer mehr: Im Juni 2010 wurde Simona aus dem Emmental ausgzeichnet. Sie ist die die 2.000ste Milchkuh aus der Schweiz mit einer "Lebensleistung" von 100.000 Kilogramm Milch. Ein Artikel von Klaus Petrus (tif) über die Hintergründe dieses Hochleistungssports.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Im Juni 2010 hat in der Schweiz zum 2.000sten Mal eine Kuh die magische Grenze von 100.000 kg Milch erreicht, wie in der Bauernzeitung zu lesen war. Zu verdanken sei die bisherige „Lebensleistung“ dem Züchter und Eigentümer dieses Prachtexemplars aus dem bernischen Emmental mit der Nummer CH 712.1640.5235.2 und dem Namen „Simona“.

Erstmals ausgezeichnet wurde eine „100.000er Kuh“ hierzulande 1972, dann dauerte es rund 15 Jahre, bis das erste Dutzend Kühe diese Marke ebenfalls erreichte. 1997 waren es bereits 500 Kühe, im November 2004 wurde die 1.000ste gekrönt und inzwischen hat sich diese Zahl verdoppelt. Rund 65 Prozent der Tiere gehören, wie Simona, zur Rasse Swiss Fleckvieh, 28 Prozent sind Red Holstein und 5 Prozent Simmentaler.

Das Futter macht’s

Um solche Erfolge zu feiern, sei eine zielgerichtete Fütterung unerlässlich, ist im Artikel zu lesen. Tatsächlich ist das inzwischen eine Wissenschaft für sich geworden, denn mit Heu allein lassen sich solche „Milchleistungen“ nicht erzielen. Ab 5.500 Kilogramm Milch im Jahr – Simona hat einen Schnitt von 8.389 Kilogramm – muss ein Kraftfuttermix auf der Basis von Mais, Getreide, Rüben oder Soja zugeführt werden.

Auf diese energiereiche Nahrung mit geringem Rohfaseranteil sind Wiederkäuer aber nicht eingestellt: die Folge ist eine lebensbedrohliche Übersäuerung des Vormagens. Inzwischen gibt es Möglichkeiten, dieses Problem buchstäblich zu umgehen – so zum Beispiel mit einem Spezialfuttermittel namens „protected protein“, das den Pansen der Kühe unbeschadet passieren kann.

Wie selbstverständlich der Umgang mit Kraftfutter (inklusive auf Bio-Höfen) mittlerweile ist, zeigt sich auch in Zahlen. Im Jahr 2008 hat allein die Schweiz zusätzlich über eine Million Tonnen Futtermittel importiert, 250.000 Tonnen davon waren geschrotete Sojabohnen aus Brasilien.

Einmal davon abgesehen, dass es sich beim Futtermittelimport aus Lateinamerika um ein ökologisch fragwürdiges Unterfangen handelt, werden Rinder auf diese Weise zu Nahrungsmittelkonkurrenten des Menschen umfunktioniert: Soja ist die Königin unter den Hülsenfrüchten, sie ist äusserst proteinreich und enthält alle auch für uns wichtigen Aminosäuren. Nichtsdestotrotz werden vier Fünftel der weltweiten Sojaernte zu Futtermitteln verarbeitet.

Hochleistungssport als Zuchtziel

Doch mit einem ausgeklügelten Futtermanagement allein ist es nicht getan. Das nötige Züchterglück gehört, wie im Falle von Simona, ebenfalls dazu. Ihre Abstammung – Simona ist eine PickelxBemol-Tochter – garantiert für optimale Beckengrösse und hohe Erträge, beste Voraussetzungen für Topresultate also.

Dass Tiere, die auf Höchstleistung gezüchtet werden, fast durchs Band krank sind, ist unter Fachleuten ein offenes (gegenüber den KonsumentInnen jedoch wohlbehütetes) Geheimnis. So hat die Milchleistung der Kühe in den letzten vier Jahrzehnten um 30 Prozent zugenommen. Gleichzeitig stieg der Anteil der Klauenprobleme und Gelenkschäden um 300 Prozent und jener von Eutererkrankungen (Mastitis) um 600 Prozent. Heute leidet fast jede dritte Kuh an schwerer Mastitis, auf Öko-Betrieben sind es übrigens genauso viele.

Einige dieser Krankheiten gehören zu den „korrelierten unerwünschten Selektionsfolgen“. Damit wird in Fachkreisen ein Phänomen bezeichnet, das mit der modernen Zucht notgedrungen einhergeht und sich immer dann einstellt, wenn die Ausprägung eines erwünschten Merkmals gleichzeitig zur Ausprägung eines unerwünschten Merkmals führt.

Um ein Beispiel zu nennen: Für die Produktion von 1 Liter Milch müssen an die 500 Liter Blut durch das Euter fliessen, was in anderen Körperteilen leicht zu einer Unterversorgung führen kann. Zu diesen schlecht durchbluteten Regionen gehören insbesondere auch die Klauen der Kuh. Weil die Qualität des Klauenhorns durch die mangelnde Nährstoffversorgung beeinträchtigt wird, kann es zu Klauenerkrankungen kommen. Was züchterisch angestrebt wird (hohe Milchleistung), bringt also Unerwünschtes mit sich (Klauenerkrankungen). Schätzungen zufolge sollen bis zu 70 Prozent der Milchkühe Klauenprobleme haben.

Am liebsten würde man diese negativen Konsequenzen der Zucht selbst wiederum züchterisch auszuschalten, aber das will nicht immer gelingen. Beispielsweise ist auch Mastitis nachweislich mit der Zucht auf hohe Milchleistungen korreliert. Eine Selektion auf „gesunde Euter“ ist jedoch ein schier unmögliches Unterfangen, da Mastitis-Resistenz kaum vererbbar ist. So begnügt man sich mit Antibiotika als geringeres Übel.

Schwanger bis ans Ende

Auch Fruchtbarkeitsstörungen sind unter Milchkühen weit verbreitet und auch sie gehören in die Rubrik der negativen Auswirkungen einer auf Höchstleistung ausgerichteten Zucht. Dabei ist die „Gebärfreudigkeit“ einer Kuh das A und O ihrer „Milchleistung“: Ohne Kälber kein „Doping der Natur“, wie die Milchlobby den vielfach zentrifugierten weissen Saft umzubenennen pflegt.

Üblicherweise kalben Kühe erstmals im Alter von 24 bis 32 Monaten, die Schwangerschaft dauert, wie beim Menschen, neun Monate. In den ersten sechs Wochen nach Geburt des Kalbes steigert sich die Milchproduktion und fällt dann langsam ab. In dieser Zeit – also nur wenige Wochen nach ihrer ersten Schwangerschaft – wird die Kuh wieder „belegt“, was in aller Regel bedeutet, dass ihr das Sperma vom örtlichen Besamer per Pipete verabreicht wird. Während dieser Phase wird die Kuh weiterhin zweimal täglich gemolken. Abgesetzt werden die Maschinen erst sechs bis acht Wochen vor der nächsten Geburt, damit sich das Gewebe des Euters erholen kann. Nach weiteren dreieinhalb Monaten ist die Kuh bereits wieder schwanger.

Heutzutage haben Milchkühe nach drei, allenfalls vier „Abkalbungen“ (= Geburten) ihren Dienst getan, die meisten von ihnen sind ohnehin ausgelaugt. Man geht davon aus, dass 80 Prozent der Milchkühe mit durchschnittlich fünf Jahren aus gesundheitlichen Gründen zum Schlachter geführt werden. Dabei können Rinder 20 Jahre und älter werden.

Simona, die Ausnahmekuh unter anderen

Von alldem ist im Bericht über die Jubilarin Simona natürlich nicht die Rede, denn sie ist eine Ausnahme in fast allen Belangen. Stolze 13 Jahre zählt sie inzwischen, sie hat 11 Schwangerschaften hinter sich und trotz dieser langen „Nutzungsdauer“ wird ihr nach wie vor ein vorzügliches Exterieur attestiert: veritable obere Linie, gutes Fundament, saubere Beckenlage, sensationelles Euter. Und selbstverständlich trägt Simona als eine der wenigen noch ihre Hörner auf dem Kopf und verbringt – so ist jedenfalls zu vermuten – nicht wie 80 Prozent der Schweizer Kühe 275 Tage pro Jahr in einem Stall, wo Stehen und Hinlegen die einzigen Bewegungen sind, die diese feinfühligen Herdentiere noch ausführen dürfen.

Mutterloses Kalb © tier-im-fokus.ch

In einem allerdings unterscheidet sich Simona nicht von allen anderen: Auch sie wurde kurz nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt und weggesperrt. Während früher eine enge Bindung zwischen Kühen und ihren Kälber gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis abgestritten wurde, gesteht man das inzwischen ein und folgert messerscharf: Je eher getrennt wird, desto kleiner der Schmerz, desto besser für Mutter und Kind.

Dass diese Tiere sozial beraubt werden, ist ohnehin ein unvermeidbarer Bestandteil einer ausschliesslich auf die Bedürfnisse des Menschen gemünzten Milchproduktion.

Und so ist die Simona aus dem Emmental zumindest in diesem auch nur eine „Milchkuh“ wie jede andere: Damals ein Kind ohne seine Mutter, heute eine Mutter ohne ihre Kinder.

Weitere Materialien von tier-im-fokus.ch (tif)

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