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Patentiere

Die Hörner des Odysseus

Was haben die Comic-Kuh Lovely auf dem Werbeplakat und unser Patentier Odysseus auf der Weide gemeinsam? Sie tragen beide noch Hörner auf ihrem Kopf. Im Gegensatz zu Lovely ist Odysseus aber definitiv keine Witzfigur! Von Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Neulich entschloss ich mich zu einem Besuch unserer kleinen Herde im bernischen Emmental und wollte dabei die Gelegenheit nutzen, neue Fotos von den Tieren auf der stattlichen Sommerweide zu schiessen.

Kein leichtes Unterfangen, denn Sie müssen wissen: Das sind richtig wilde Tiere! Gut, ich mag ein wenig übertreiben, denn Minotaurus lässt sich am liebsten stundenlang kraulen, und Tamay steht gerne daneben. Tisane übrigens auch. Aber vor Odysseus habe ich uneingeschränkten Respekt!

Nicht, dass man ihn fürchten müsste. Als Qaira, die flinke Schäferhündin, einmal quer über die Weide flitzte und Odysseus buchstäblich vor der Schnauze eine Rübe wegstahl, war es Tamay, der herbei trabte und ihr einen ordentlichen Schrecken einjagte, indem er sie kurz anschnaubte.

Nein, vermutlich – ziemlich sicher sogar – ist es Odysseus‘ Statur, sein Schritt, sein eindringlicher Blick, sein Charakter, seine schiere Erscheinung, die mich dermassen beeindruckt. Und so gerate ich jedesmal unweigerlich in ein Schwärmen ohne Ende, wenn ich mit Leuten über „Odi“ rede: „Allein diese Hörner, ehrlich wahr, das musst du gesehen haben!“

Kühe haben Hörner, basta! Oder doch nicht?

„Hörner?, so was gibt es doch nur noch in der Werbung!“, ist nicht selten die Reaktion. Stimmt. Neun von zehn Rindern sind inzwischen „oben ohne“, wie man so sagt. Den Traditionalisten gefällt das gar nicht. Ohne Hörner sind das doch keine ganzen Kühe mehr, wettern sie und können sich partout nicht vorstellen, wie das vor all diesen Touristen aussieht: ein Alpabzug im Appenzellischen mit lauter Hornlosen!

Folklore hin oder her, die Gegenargumente wiegen offenbar schwer. Da wäre zum Beispiel die Sache mit dem Risiko. Rinder mit Hörnern seien eine Verletzungsgefahr, für die Artgenossen und im Besonderen für die Landwirte. Zwar gibt es über Unfälle im Stall keine verlässlichen Zahlen, die Propaganda aber wirkt: Welcher Bauer möchte schon auf die Hörner genommen werden?

Oder das mit dem Platz. Auch in der Schweiz werden die Rinder immer amerikanischer, sie wachsen in Höhe und Breite und wenn sie dann noch diesen Kopfschmuck tragen, wird es endgültig eng im engen Stall. Also weglöten das unnütze Zeugs, und zwar so früh wie möglich. 200.000 Kälber müssen bei uns jedes Jahr dieses Prozedere über sich ergehen lassen.

Nur kein Chef im Laufstall

Odysseus (rechts) und Tamay © tier-im-fokus.ch

Dabei sind heutzutage doch Laufställe angesagt, wo sich die Tiere, im Prinzip jedenfalls, frei bewegen können. Doch offenbar zählt auch im modernen Stallmanagement die alte Devise: Je mehr Viecher auf einem Fleck, desto besser fürs Geschäft.

Und deshalb stören Hörner eigentlich immer. Auch Odysseus wurde vor vielen Jahren das Laufstall-Modell zum Verhängnis. Als man die Tiere am Ende des Sommers zurück in den Stall brachte, musste der grosse Schwarze gehen. Für seine Hörner hatte es einfach keinen Platz mehr. Zudem will man keinen Chef im Stall. Werden Rinder nicht permanent angekettet, entwickelt sich rasch ein soziales Gefüge, und da spielt nun mal eine Rolle, wer die grössten hat. Und die sassen auf Odis Kopf.

Auch heute noch hat der vierzehnjährige Odysseus das Sagen. Er führt unsere Herde an, er hat alles im Blick. Wie lange das noch andauern wird, ist schwer zu sagen, Tamay jedenfalls wäre parat. Vor einem Jahr war ich bei einem Rencontre der beiden dabei, da schien mir, Tamay habe sich vor Respekt zurückgezogen. Die Kraft hätte er vielleicht gehabt, um Odysseus abzulösen. Aber Kraft ist beileibe nicht alles, was es dazu braucht.

Geld oder Horn?

Als ich an diesem Nachmittag – fast zwangsläufig – immer wieder Odysseus‘ Hörner ablichte, ertappe ich mich beim Gedanken, wie er wohl ohne aussehen würde. Verstümmelt, amputiert, irgendwie verletzt? Dümmlich? Würdelos?

Obschon ich zugeben muss, dass mir nicht immer klar ist, was mit dieser „Würde des Tieres“ eigentlich gemeint ist, bin ich doch überzeugt: Rinder haben ein Recht auf ihre Hörner! (Und nicht nur das.) Zumindest in diesem Punkt halte ich es mit den alten Bauern: Die Hörner gehören zum Rind wie sein Kopf, sein Schwanz, seine Ohren, seine Launen, sein feinfühliges Wesen. Basta. Im Grunde – ich kann es mir nicht anders vorstellen – wissen das doch alle. Aber eben, hier geht es nicht um Respekt, es geht um Geld.

Und solange in der Werbung die Welt noch in Ordnung ist, fällt das auch niemandem auf. Lovely, die Swissmilk-Comic-Kuh mit perfekt geschwungenem Horn, macht ihren Job jedenfalls gut: Im Winter ist sie am Snowboarden, im Sommer spielt sie mit der Nati Fussball, dazwischen macht sie Yoga-Übungen und immer ist sie prallvoll und spendet unserer Jugend den weissen Saft direkt ab Euter.

All das kann Odi nicht. Aber dafür hat er die grösseren Hörner. Und ist definitiv keine Witzfigur.

Wenn auch Sie an einem Projekt teilhaben wollen, das Raum schafft für einen ganzen, natürlichen Lebenszyklus ehemaliger Nutztiere, dann informieren Sie sich hier über eine Patenschaft.

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4 Kommentare

Denise Marty
vor 13 Jahre

Lieber spät als nie einen Kommentar schreiben… zu diesem schönen Artikel!
Zu Beat Stocker:
Es ist nicht richtig, dass nur im Laufstall enthornt wird. Die Mehrzahl der Schweizer Kühe lebt im Anbindestall, die meisten davon enthornt. Im Anbindestall wird auch aus wirtschaftlichen Gründen enthornt – obwohl die Hörner hier weniger gefährlich sind. Die Gründe dafür: Der Umgang mit den Tieren ist einfacher, behornte Kühe sind auf dem Markt weniger wert und sie brauchen weniger Platz im Laufhof. Dieses routinemässige Enthornen stört KAGfreiland, weil es nicht gerechtfertigt werden kann. Zahlreiche Bauern beweisen, dass die Haltung von behornten Kühen funktioniert – auch im Laufstall! Sie nehmen den Mehraufwand bzw. die Mehrkosten bewusst in Kauf. Schön wäre, wenn sie dafür entschädigt würden – im Markt mit einem besseren Milchpreis oder über die sogenannten Tierwohlbeiträge!

Beat Stocker
vor 13 Jahre

Ich kenne einen Bio-Bauern, der hat einen Laufstall mit Kühen mit Hörnern. Kenne aber auch einen andern, auch Bio-Bauer, der hat einen Laufstall mit Kühen ohne Hörner. Auf meine Frage: Warum ohne Hörner? Antwort: Dann müsste er einen viel grösseren Stall haben, dies sei eine Kostenfrage. Daher meine Befürchtungen.

tif
vor 13 Jahre

Nun, es scheint zumindest nicht so zu sein, dass sich Laufställe und Hörner gegenseitig ausschliessen müssen. Das jedenfalls war auch das Ergebnis einer FiBL-Studie von Claudia Schneider. Nur ist es offenbar aufwändiger, es braucht wirklich genügend Platz, der Bauer muss seinen Stall kennen, die Tiere brauchen Zeit, um sich kennenzulernen und, sofern überhaupt möglich, in die Herde zu integrieren, etc. etc. So gesehen sind Aktionen für Kühe mit Hörnern (wie die von Kagfreiland) wahrscheinlich zunächst mal der Appell an die HalterInnen, sich für einmal den Tieren anzupassen und nicht die Tiere irgendwelchen ökonomischen Zwängen … Davon abgesehen (und deshalb meine Anspielung im Text): die Enthornung geschieht in jedem Fall aus bloss menschlichen Interessen, sie stellt klar eine übermässige Instrumentalisierung dar und läuft damit dem Schutz der Tierwürde zuwider – oder etwa nicht?
Klaus

Link zum Merkblatt von C. Schneider „Laufställe für horntragende Milchkühe„.

Beat Stocker
vor 13 Jahre

Bekanntlich ist das Enthornen der Rinder eine direkte Folge der Laufställe. Die Laufställe sind eine positive Sache. Ein Grossteil der enthornten Rinder lebt in Laufställen. Rinder mit Horn vielfach in Anbindehaltung. Nun bin ich ein bisschen im Clinch ob ich all die Petitionen/Aktionen für Kuh mit Horn unterstützen soll. Bewirke ich in der heutigen Tierausbeutungsgesellschaft vielleicht ein Zurück zur scheusslichen Anbindehaltung?

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