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Ernährung & Konsum

Ist Ernährung Privatsache?

Am 3. und 4. Dezember 2010 fand an der Universität Bern ein zweitägiger Kongress zum Thema "Gut essen: was heisst das?" statt. Im Zentrum stand die Frage, ob unsere Ernährung angesichts der ethischen, ökologischen und soziopolitischen Auswirkungen noch länger als Privatsache gelten darf. Ein Bericht von tier-im-fokus.ch (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Auf Kosten der Tiere essen

Den Einstieg in den Kongress mit dem Thema „Gut essen: was heisst das?“ machten zwei Vorträge aus tierethischer Sicht.

Klaus Petrus von tier-im-fokus.ch (tif) versuchte, aus dem weitherum akzeptierten Prinzip der Vermeidung unnötigen Tierleids eine Pflicht zur Nichtbeeinträchtigung tierlichen Wohlbefindens abzuleiten. Demnach sollte auf die Herstellung und den Konsum tierlicher Produkte verzichtet werden, sofern entsprechende Alternativen verfügbar sind, wobei Petrus die Ansicht vertrat, dass die Frage der Verfügbarkeit von Alternativen nicht absolut, sondern relativ auf Handelnde zu beantworten sei.

Jean-Claude Wolf © tier-im-fokus.ch

Der renommierte Tierethiker Jean-Claude Wolf (Universität Fribourg) votierte in seinem Beitrag für einen ethischen Meliorismus. Dieser Position zufolge besteht zwar eine Pflicht zum Vegetarismus. Doch befürwortet der Meliorismus gemäss Wolf auch schrittweise Verbesserungen im Ernährungsverhalten und baut dabei auf einer Abstufung von gut (z.B. Einschränkung des Fleischkonsums), besser (ovo-lakto-vegetarische Ernährung) und am besten (vegane Kost). Auf diese Weise soll die Diskrepanz zwischen einem „Opportunismus“, der sich z.B. am Konsum von Produkten aus artgerechter Haltung ausrichtet, und einem „Utopismus“, der eine vegane Ernährung als einzige Option für alle Menschen erachtet, überwunden werden.

Klimaschutz mit Messer & Gabel?

Ein zweiter Block befasste sich mit den ökologischen Auswirkungen unterschiedlicher Ernährungsstile.

Der Ernährungsökologe Martin Schlatzer (Universität Wien) diskutierte auf der Basis empirischer Studien gegenwärtige Entwicklungen im Ernährungssektor und analysierte die Ökobilanzen unterschiedlicher Nahrungsmittel sowie Ernährungsstile (omnivor, vegetarisch, vegan). Seiner Ansicht nach sind sowohl auf individueller wie auch auf gesellschaftspolitischer Ebene Massnahmen zur Förderung vegetarisch-veganer Kostformen zu unternehmen.

Zu dieser Schlussfolgerung gelangte auch der Ökotrophologe und Gründer des Instituts für alternative und nachhaltige Ernährung (IFANE) Markus Keller aus Giessen. Er legte in seinem Beitrag den Akzent auf den enormen Bedarf an Wasser und Land, der für die Herstellung und den Konsum tierlicher Nahrungsmittel erforderlich ist. Im Gegenzug legte er dar, welches Einsparpotenzial in dieser Hinsicht pflanzliche Produkte haben können. Gleichzeitig wies Keller darauf hin, dass eine entsprechende „Ernährungswende“ nicht allein in der Verantwortung der KonsumentInnen liegen darf, sondern auf möglichst alle Akteure in der gesamten Ernährungskette zu verteilen ist.

Mit dem Klimawandel im Besonderen beschäftigte sich der Vortrag von Dominic Roser (Universität Zürich). Die Frage, inwieweit die Pflicht zur Reduzierung der menschlichen Treibhausgasemissionen eine Pflicht zur Veränderung der Essgewohnheiten in Richtung pflanzliche Ernährung nach sich zieht, beantwortete er skeptisch. Roser zufolge hätte eine solche Veränderung erhebliche Auswirkungen auf den individuellen Lebensstil, die in einer pluralistischen Welt kaum akzeptiert würden. Hingegen würden Technologien, die einen Klimaschutz unter Aufrechterhaltung des derzeitigen Lebensstils versprechen, eher Chancen haben, effektiv umgesetzt zu werden – ein Punkt, den Marius Christen (Universität Basel) in seinem Ko-Referat zu relativieren versuchte, indem er aufzeigte, wie sich auch Lebensstile auf politischer und damit kollektiver Ebene „reglementieren“ lassen.

Nahrung als soziales Problem

Ein dritter Teil der Tagung befasste sich mit sozio-ökonomischen Aspekten der Ernährungsproblematik.

So widmete sich Sonja Dänzer (Universität Zürich) in ihrem Vortrag den philosophischen sowie ethischen Grundlagen des „fairen Handels“. Auf der Basis einer Analyse unterschiedlicher Konzepte von „fair“ entwickelte die Referentin einen Grundsatz der Reziprozität, der helfen soll, die Verantwortung von KonsumentInnen für faire Produktions- und Handelsbedingungen genauer zu bestimmen und auch ethisch zu begründen. Dabei orientierte sich Dänzer an offensichtlich „unfairen“ Fällen und weniger am Ideal fairer Bedingungen, was von Adrian Müller (Universität Zürich) in seinem Ko-Referat kritisch hinterfragt wurde.

Francisco Mari © tier- im-fokus.ch

Auch Francisco Mari vom Evangelischen Entwicklungsdienst befasste sich mit Problemen des fairen Handels, und zwar am Beispiel der Einfuhr von Geflügelteilen in afrikanische Länder. Dabei legte Mari den Fokus auf die gravierenden Konsequenzen solcher Importe für die dortigen Märkte und skizzierte im Detail Lösungsvorschläge. Dem Appell, in sogenannten Industrieländern auf seriell produzierte Teile vom Huhn zu verzichten und stattdessen Produkte aus artgerechter Haltung zu konsumieren oder vermehrt auf alte Hühnerrassen zu setzen, wurde von Martina Späni von tier-im-fokus.ch (tif) in ihrem Ko-Referat skeptisch begegnet; zum einen stünden solche Alternativen de facto (noch) nicht zur Verfügung, zum anderen sei auch die biologische Hühnerhaltung auf Hochleistungszuchten angewiesen, die weltweit in den Händen weniger Grosskonzerne liegen.

Ein komplexes Thema mit Zukunft

Wie die Organisatorin Sarah-Jane Conrad (Universität Bern) bereits in ihrem Eingangsreferat hervorhob, bestand das Ziel der Tagung in erster Linie darin, sich der Komplexität des Themas bewusst zu werden und einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen unterschiedliche Perspektiven (tierethische, ökologische, soziopolitische, etc.) aufeinander bezogen werden können.

In diesem Zusammenhang stellte sich immer wieder die Frage, welche Geltung Moralprinzipien vor dem Hintergrund realpolitischer Begebenheiten überhaupt haben können oder sogar haben dürfen. Obschon die Mehrzahl der Anwesenden überzeugt war, dass eine nachhaltige Ernährung mit einer Veränderung individueller Essgewohnheiten einhergehen sollte, war doch unklar, welche zusätzlichen Strategien dazu erforderlich sind und wie – ob in Form von positiven Anreizen oder in Gestalt von Sanktionen – sie greifen können.

Die angeregten und durchs Band konstruktiven Diskussionen waren in jedem Fall ein lebhafter Beleg dafür, dass die Debatte in einem öffentlichen Rahmen weitergehen muss.

An der bestens organisierten und überaus gut besuchten Veranstaltung kam auch die Praxis der nachhaltigen Ernährung nicht zu kurz; für das Catering sorgte die Crew vom pflanzenfresser.ch.

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