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Interview

„Containern ist ein politischer Protest“

1/3 aller Lebensmittel werden verschwendet. Ein Teil davon fällt im Grossverteiler an, woran sich mitunter sogenannte Mülltaucher bedienen. Dazu gehört auch Tobias Sennhauser (TIF). Manuel Kammermann hat mit ihm gesprochen.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Manuel Kammermann im Gespräch mit Tobias Sennhauser von tier-im-fokus.ch (TIF) [1] Manuel Kammermann: Wie bist du darauf gekommen zu containern? Tobias Sennhauser: Ich habe einen Bericht übers Containern auf YouTube gesehen, der mir zu denken gab. Wer im Grossverteiler einkauft, unterstützt damit die systematische Vernichtung von einwandfreien Lebensmitteln. Das war die Botschaft des Berichts. Und das wollte ich nicht. Um meine Nachfrage zu reduzieren, wurde ich selbst zum Mülltaucher. Könnte man rein von Containern leben? Man kann das nicht pauschal sagen. Containern ist in jeder Stadt anders. Ich selbst finde primär Frischprodukte wie Gemüse, Obst oder Brot. Davon alleine lässt sich schlecht leben. Energiequellen wie Teigwaren, Reis oder Linsen kaufe ich deshalb ganz normal. Wie viel Geld sparst du dadurch, dass du nicht oft einkaufen gehen musst? Das ist unterschiedlich. Manchmal finde ich viel, manchmal wenig. Wie viel ich schlussendlich spare, ist schwer zu sagen, da die gefundenen Waren meist mehreren Haushalten zugute kommen. Aber der finanzielle Aspekt ist nur einer von vielen. Für mich ist Containern primär ein politischer Protest, um auf die folgenschwere Verschwendungskultur im Lebensmittelsektor aufmerksam zu machen. Hat es dich Überwindung gekostet, containern zu gehen? Nein, gar nicht. Als ich zum ersten Mal im Container wühlte, hatte ich erfahrene Begleitung. So lernte ich schnell, wie es funktioniert. Und dass man beispielsweise darauf achtet, alles so zu hinterlassen, wie man es vorgefunden hat. Sind wir VerbraucherInnen so anspruchsvoll, dass wir nur noch top aussehende Ware kaufen? Ich würde eher sagen: wir sind verwöhnt. Durch die Zucht und die Selektion bei der Ernte sind die optischen Standards massiv gestiegen. Und daran gewöhnt man sich natürlich mit der Zeit. Heute wissen viele Leute gar nicht mehr, wie vielfältig Gemüse und Früchte daherkommen. Aber wer bestimmt denn eigentlich die hohen Standards? Wir KonsumentInnen gehen ja nicht zu den BäuerInnen und verlangen grosse, einheitliche Auberginen. Vielmehr ist es der Detailhandel, der diese Entscheidung fällt – wahrscheinlich, weil sich die prächtigen Exemplare besser verkaufen. Im Gegensatz zu den KonsumentInnen üben die Grossverteiler eine direkte Nachfrage auf die Produktion aus, während wir bloss indirekt aus ihrem Sortiment auswählen können. Um auf die Frage zurückzukommen: Anspruchsvoll sind also primär die HändlerInnen. Sind die KonsumentInnen verführbar und oft nicht in der Lage, ihren tatsächlichen Bedarf realistisch einzuschätzen? Einkaufen ist tatsächlich eine höchst irrationale Angelegenheit. Im hektischen Alltag bleibt meist keine Zeit, um sich über die Herkunft oder Produktionsbedingungen zu informieren. Vielmehr konsumieren wir nach dem Lustprinzip – vor allem, wenn wir mit leerem Magen einkaufen gehen. Entsprechend sind wir anfällig für Sonderangebote, wir vertrauen in fast kindlicher Naivität allen Labels und lassen uns von der Werbung zum Kauf von Produkten verleiten, die wir eigentlich gar nicht bräuchten. Unser Verhalten im Grossverteiler ist bestens erforscht. Die richtige Musik oder grössere Einkaufswagen beispielsweise kurbeln den Konsum weiter an. Wir KonsumentInnen sind zwar verführbar, ja, aber das wird im Detailhandel auch gnadenlos ausgenutzt. So kaufen wir mehr als geplant – und dann sind plötzlich wir für die Lebensmittelverschwendung Schuld. Wie könnte aus deiner Sicht ein Gesamtkonzept gegen Lebensmittelverschwendung aussehen, das die Verlagerung der Verantwortlichkeit für die Verschwendung innerhalb der Herstellungskette verhindert und so alle Beteiligten in eine Problemlösung einbindet? Ich bin skeptisch, ob die Lösung in den bestehenden Handelsstrukturen zu finden ist. Migros und Coop liefern sich seit Jahren einen Preiskampf und versuchen sich gegenseitig zu unterbieten. Dass plötzlich ein Detailist zur Konsumreduktion aufruft und beispielsweise ab 17 Uhr kein frisches Brot mehr anbietet, widerspricht der kapitalistischen Logik, denn das schadet dem Geschäft. Deshalb wird sich bei der Lebensmittelverschwendung kein Player freiwillig bewegen. Wir müssen also anderswo nach Lösungen suchen. Und wo? Je länger die Lebensmittelkette, desto grösser die Abfallberge. Wenn wir die Lebensmittelverschwendung sinnvoll angehen wollen, muss die Lebensmittelkette möglichst verkürzt werden. Unverarbeitetes, regionales Gemüse und Obst schneidet aus ökologischer Sicht am besten ab. Die schlechteste Bilanz hat übrigens Fleisch: Im Schnitt werden in der Fleischproduktion 6 von 7 Kalorien vernichtet. 5 Kaloren gehen durch den Stoffwechsel des Tieres verloren und 1 Kalorie verschwindet in Form von Schlachtabfällen (Knochen, Haut, Innereien). So bleibt am Schluss eine konsumierbare Kalorie übrig. Das ist eine Verschwendung von über 80%! Potential zur Reduktion von Lebensmittelverschwendung sehe ich deshalb in den bäuerlichen Strukturen. Wenn die Schweizer Landwirtschaft auf den saisonalen Pflanzenbau ausgerichtet würde, wäre die Verschwendung massiv kleiner. Leider sind wir davon noch weit entfernt, da gegenwärtig 80% der Subventionen in die Tierhaltung fliessen. Aus ökologischer (und natürlich tierethischer) Sicht landet das Geld also völlig am falschen Ort. Welche Massnahme hältst du für die beste, um die Wertschätzung in der Lebensmittelherstellung wieder zu erhöhen. Was könnte die Wirtschaft und die Politik diesbezüglich tun? Am besten wäre es vielleicht, wenn man wieder zu ackern beginnen würde. Denn wer sich aktiv an der Wertschöpfung beteiligt, lernt auch die Wertschätzung. Tatsächlich gäbe es mit dem neuen Phänomen Urban Gardening auch für StädterInnen eine Möglichkeit, Lebensmittel zu produzieren. Das Beste ist aber in diesem Fall nicht das Realistischste. Viele haben weder Zeit noch Lust selbst zu ackern. Trotzdem finde ich den Ansatz, den Urban Gardening verfolgt, richtig: Die Lebensmittelproduktion sollte wieder dezentral geschehen. Heute ist es umgekehrt: Durch den Agrarfreihandel wird die Produktion zentralisiert, so dass jeder Staat oder jede Region einige Produkte zum Welthandelt beisteuern. Das ist weder ökologisch noch sozial und trägt zum Strukturwandel in der Landwirtschaft bei, indem die BäuerInnen vor die fatale Entscheidung gestellt werden: wachse oder weiche. Also sollte die Lebensmittelproduktion wieder näher zu den KonsumentInnen kommen? Genau. Eine Möglichkeit ist die regionale Vertragslandwirtschaft. Die Idee dahinter ist simpel: KonsumentInnen bezahlen quartalsweise im Voraus und ermöglichen den BäuerInnen damit ein gesichertes Einkommen für eine nachhaltige, bio-regionale Produktion. Bei der Vertragslandwirtschaft begegnen sich ProduzentInnen und KonsumentInnen auf Augenhöhe, sie verhandeln gemeinsam über Inhalt und Preis, es gibt kurze Transportwege und eine deutlich kürzere Lebensmittelkette. Obwohl Vertragslandwirtschaft seit einigen Jahren einen kleinen Boom erlebt, könnte die Politik diese Entwicklung weiter fördern, indem Subventionen auch kleinbäuerlichen Strukuren, die nicht für den Weltmarkt produzieren, zugute kommen. Könnte eine gesetzliche Verpflichtung zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen beitragen? Und wie müsste ein solches Gesetz aussehen? Ja, ein Gesetz könnte durchaus etwas bewegen. Würde etwa die Verursachung von Abfall besteuert, hätten die Grossverteiler einen Anreiz, die Lebensmittelverschwendung zu verringern. Genauso wie RaucherInnen verstärkt für die Gesundheitskosten aufkommen, sollte der Preis der Lebensmittel den wahren Preis wiederspiegeln, inklusive die ökologischen Folgekosten. Das Problem daran ist jedoch, dass solche Massnahmen politisch fast keine Chance haben. Wir leben in einer (wirtschafts-)liberalen Gesellschaft, wo die Interessen der Unternehmen die Gesetze mitbestimmen. Steuern bedeuten immer einen Eingriff in wirtschaftliche Freiheiten und werden deshalb (leider meist erfolgreich) bekämpft. Welchen Einfluss haben die Handelsnormen auf das Wegwerfen von Lebensmitteln? Sie haben einen grossen Einfluss! Denn sie trennen das Spreu vom Weizen im Bereich Lebensmittel – freilich nach völlig irrelevanten ästethischen Gesichtspunkten, wie Farbe, Form oder Grösse. Geschmack und Qualität bleiben auf der Strecke. Das zeigt, dass es nicht die KonsumentInnen sind, die sich für den grossen, makellosen Sellerie entscheiden. Vielmehr trifft die Entscheidung der Handel. Und die BäuerInnen bleiben dann auf ihrer Ernte sitzen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Lebensmittelabfällen in der Schweiz und der Hungerproblematik in Entwicklungsländern? Ja, wenn auch nur indirekt. Wenn ein Rest Brot hart wird und im Abfall landet, verhungert deswegen nicht ein Kind. Trotzdem haben die Überproduktion und die damit verbundene Lebensmittelverschwendung einen Einfluss. Zuerst muss man festhalten, dass Hunger eine Folge von ungerechter Verteilung ist. Es gäbe genug Lebensmittel für alle. Das Problem ist, dass sich viele – rund 800.000.000 Menschen – keine Grundversorgung leisten können. Die direkte Ursache für Hunger ist also die Armut, und dazu trägt die Lebensmittelverschwendung bei. Zum einen fördert das neoliberale System den agroindustriellen Strukturwandel hin zu wenigen Grossbetrieben. Kleinbäuerliche Strukturen werden verdrängt und viele Familien geraten in die Armut. Zum anderen werden durch die Verschwendung dem Markt Lebensmittel entzogen. Die Verknappung der Waren führt bei gleichbleibender Nachfrage zu höheren Preisen. Und das trifft wiederum die Ärmsten. Die sozialen Auswirkungen der modernen Landwirtschaft zeigen einmal mehr: die Ernährung gehört unbedingt auf die politische Agenda!

[1] Das Interview ist erschienen in Manuel Kammermann: „Lebensmittelverschwendung“, Maturaarbeit  Gymnasium Thun Schadau, August 2013.

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3 Kommentare

clara
vor 3 Jahre

Hoi 🙂

Ich suche die Quelle zu dieser Aussage, die ich sehr gerne in einem Bericht Zitieren würde:
„Leider sind wir davon noch weit entfernt, da gegenwärtig 80% der Subventionen in die Tierhaltung fliessen. Aus ökologischer (und natürlich tierethischer) Sicht landet das Geld also völlig am falschen Ort.“

Danke 🙂

miri ruck
vor 9 Jahre

Ahoi zusammen , ich würd ja gern Mülltauche doch wo söll mer das in Züri /Aargau ohni e Azeig zbecho ? es grüessli Mir alias Frau Fleisch -LOS

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