24
Interview

„Das Katzenleid in der Schweiz ist riesig“

Zu viele Katzen leiden in der Schweiz, weil es zu viele von ihnen gibt. Esther Geisser, Präsidentin von "NetAP – Network for Animal Protection", ist überzeugt: ohne Kastration keine Besserung. Deshalb hat sie jetzt eine Petition zur Kastrationspflicht lanciert. Klaus Petrus hat sich mit ihr darüber unterhalten.

Text: Tier im Fokus (TIF)

KLAUS PETRUS: Esther Geisser, lieber Kaffee oder lieber Tee? ESTHER GEISSER: Ich mag beides. Lieber Katzen oder lieber Hunde? Sowohl als auch. Ich bin mit Katzen aufgewachsen, lebe seit jeher mit ihnen zusammen. Deswegen verstehe ich sie am besten. Mit Hunden ist das ein wenig anders. Viele sind mir sympathisch, manche weniger. Aber es gab in meinem Leben bisher immer einen Hund, der mein Herz im Sturm erobert hat. In der Schweiz leben ca. 1.4 Millionen Katzen, rund eine Viertel Million ist „herrenlos“. Das sind viele, oder? Ja, wir haben eine Überpopulation von Katzen. Kein Wunder werden sie häufig als Störfaktor wahrgenommen. Vor allem die „Freigänger“ und verwilderten Katzen sind vielen ein Dorn im Auge. Sie verunreinigen die Gärten, jagen Tiere, markieren und geben während der Paarungszeit ziemlich markante Laute von sich. Es gibt viele Gründe, wieso sich die Leute wegen Katzen nerven. Unterm Strich: Wie geht es unseren Katzen? Das Katzenleid in der Schweiz ist riesig. Echt? Ja. Nur wird es nicht wahrgenommen. Denn Katzen leiden stumm. Wenn sie Schmerzen haben oder krank sind, ziehen sie sich zurück. Gerade herrenlose Katzen leben – auch in unserem Land – unter sehr harten Bedingungen, ihr Leid ist immens. Und je mehr es von ihnen gibt, desto grösser ist das Elend. Gleichzeitig gibt es zu viele zahme Katzen, die in Tierheimen leben und kaum Aussicht auf ein Zuhause haben. Deshalb sollte man Katzen kastrieren. So ist es. Zumal sich sie sehr schnell vermehren. Aus einem nicht kastrierten Katzenpaar könnten innerhalb von zehn Jahren acht Millionen Katzen hervorgehen. Wie bitte? Rein rechnerisch gesehen, ja. Natürlich sterben viele Katzen schon früher. Aber das zeigt gleichwohl, wie rasch sich das Leid vervielfacht, wenn man nicht früh genug einschreitet. Wer die eigene Katze nicht kastriert, ist an diesem Elend also mitschuldig? All die privaten Haushalte oder Landwirte, die sich weigern, ihre Katzen zu kastrieren, tragen dazu bei, dass sich der Kreislauf des Leidens ständig weiterdreht. Wenn alle Katzen kastriert werden sollen, wird es bald keine „Hauskatzen“ mehr geben… Es sind nur jene Katzen zu kastrieren, die unkontrollierten Freigang geniessen. Der Grund ist dieser: Man kann nicht wissen, ob und wann sich solche Tiere paaren und damit für unerwünschten Nachwuchs sorgen. Unsere Forderung stellt lediglich eine erforderliche Konkretisierung der bereits in der Tierschutzverordnung enthaltenen Pflicht dar. Denn Art. 25 Abs. 4 TSchV schreibt bereits heute vor, dass ein Tierhalter die zumutbaren Massnahmen treffen muss, um zu verhindern, dass sich die Tiere übermässig vermehren. Es bleibt dem Gesetzgeber überlassen, ob und welche Ausnahmeregelungen er vorsehen will. Die Kastration ist ein massiver, ein irreversibler Eingriff in das natürliche Verhalten eines Tieres. Kannst du Leute, die das nicht verantworten wollen, trotzdem verstehen? Wäre die Welt perfekt, würde ich das wohl nachvollziehen können. Aber die Welt ist nun mal nicht perfekt. In Anbetracht des Katzenleids, das durch die Überpopulation entsteht, ist es müssig darüber zu debattieren, ob Kastrationen ethisch vertretbar sind. In meinen Augen ist das eine reichlich intellektuelle Diskussion. Sie blendet aus, dass Sexualität für Katzen generell mit viel Stress verbunden und für die weiblichen Tiere äusserst schmerzhaft ist. Und sie sieht darüber hinweg, dass durch die unkontrollierte Vermehrung Krankheiten wie „Katzen-AIDS“ (FIV) und Leukämie (FelV) laufend weiterverbreitet werden. Sicher, es mag schön sein, wenn Tiere in einem behüteten Umfeld ihre Jungen aufziehen dürfen. Wenn sie aber jeden Tag ums eigene Überleben kämpfen müssen, hat dies nicht auch noch Platz. So sterben viele Jungtiere wegen Unterernährung, Unfällen, Krankheiten oder weil sie von Menschen getötet werden. Dagegen bringt die Kastration gesundheitliche Vorteile für die Tiere. Trotzdem: Man könnte argumentieren, die Kastration verletze die Tierwürde. Seit über 25 Jahren fange ich nun schon herrenlose Katzen ein, um sie zu kastrieren und medizinisch zu versorgen. Und ich kann dir sagen: In sehr vielen Fällen wurden aus mageren, kränklichen Wesen mit struppigem Fell schöne, wohlgenährte und gesunde Tiere, die sehr viel mehr Lebensfreude zeigten als zuvor. Für mich passt dies viel besser zu einem würdigen und tiergerechten Dasein. Gibt es denn keine Alternativen? Was ist mit der Pille für die Katze? Die Pille für die Katze macht nur kurzfristig Sinn, so etwa zur Überbrückung bis zu einer Operation. Für einen langfristigen Einsatz ist sie nicht geeignet. Ihre Wirksamkeit verlangt wie beim Menschen zudem eine disziplinierte Verabreichung: Die Katze muss die Pille regelmässig kriegen. Das setzt ein konsequentes Management der HalterInnen voraus. Auch ist zu bedenken, dass es für Katzen – anders als für Menschen – bisher keine massgeschneiderten Pillen gibt. Deshalb ist die Dosierung für jede Katze gleich hoch, was bedeutet: es wird mit einem groben Mittel in deren Hormonhaushalt eingegriffen. Wenn Kastrationen derzeit die beste Lösung sind: Wieso gibt es dann nicht bereits eine gesetzlich verankerte Kastrationspflicht? Warum muss dafür jetzt eine Petition lanciert werden? Wie gesagt, das Katzenleid ist weitgehend unsichtbar. Und was nicht sichtbar ist, muss auch nicht bekämpft werden, oder? Dabei werden tausende von Kätzchen getötet, nur weil sie überflüssig sind. Oder sie werden ausgesetzt, weil man sich ihrer überdrüssig ist. Die Wegwerfmentalität macht auch vor Katzen nicht Halt. Allzu schnell entledigt man sich eines Tieres, wenn es nicht mehr so funktioniert, wie man will. Schliesslich kann man sich an jeder Ecke fast umsonst ein neues anschaffen, wenn es dann wieder passt. Was sagst du Menschen, die mit einer Katze zusammenleben möchten? Sie sollen sich wirklich eingehend über die Bedürfnisse der Tiere informieren. Oft heisst es, Katzen seien Einzelgänger, aber das stimmt nur in seltenen Fällen. Sie lieben die Abwechslung, was gerade in einer Wohnungshaltung viel Zeit und Aufwand erfordert. Und sie kosten. Es kann sehr schnell etwas Unerwartetes passieren, ein Unfall etwa oder eine Krankheit. Neben Futter, Katzenstreu, Impfung, Kastration und Spielzeuge sollte das von Anfang an einkalkuliert werden. Ich empfehle daher allen TierhalterInnen, eine Tierversicherung abzuschliessen oder mindestens ein Tier-Sparkonto einzurichten, auf das man monatlich etwas einzahlt, so dass man für Notfälle gezielt auf diesen Spargroschen zurückgreifen kann. Zurück zur Kastrationspflicht. Fehlt es am politischen Willen sie durchzusetzen? Seien wir ehrlich: PolitikerInnen gewinnen weder einen Blumentopf noch Wählerstimmen, wenn sie sich einem Thema wie der Katzenkastration annehmen. Politisch ist das aber durchaus umsetzbar. Die ÖsterreicherInnen machen es uns vor, sie haben schon längst eine Kastrationspflicht für Freigänger-Katzen. Seit dem 1. April 2016 sind da ausdrücklich auch die Katzen von Landwirten eingeschlossen. Auch in Deutschland haben bereits zahlreiche Städte und Kommunen eine Kastrationspflicht ins Gesetz aufgenommen. Wie ist eure Kampagne aufgebaut? Zunächst ging es darum, MitstreiterInnen für unsere Sache zu gewinnen, also all jene Tierschutzorganisationen und Verbände, die um das Leid der Katzen in der Schweiz wissen und sich für eine Kastrationspflicht aussprechen. Über 100 Vereinigungen unterstützen diese Petition, das ist gewaltig. Ja, mir ist nicht bekannt, dass bisher schon so viele Schweizer Organisationen gemeinsam am gleichen Strick gezogen haben, und dieser Zusammenhalt freut mich besonders. Und trotzdem sind innert zwei Monaten nur knapp 10.000 Unterschriften zusammengekommen. Bisher wurde fast nur auf elektronischem Weg für die Petition geworben. Die Unterschriftensammlung auf der Strasse geht erst los. In einem nächsten Schritt werden wir auf PolitikerInnen zugehen, ihnen unser Anliegen vortragen und um Unterstützung bitten. Wenn alles gut läuft, werden wir unsere Forderung in Bern formell einbringen. Bist du zuversichtlich? Das Ganze ist ist ein Marathon, aber wir glauben fest daran, dass sich der langfristige Einsatz für die leidenden Katzen lohnt.
Esther Geisser, Tierschützerin seit Kindsbeinen, ist Gründerin und Präsidentin von „NetAP – Network for Animal Protection“. Die Schweizer Tierschutzorganisation hat sich im In- und Ausland mit nachhaltigen Projekten einen Namen gemacht, darunter viele zu streunenden Katzen und Strassenhunden. Im Frühjahr 2016 hat NetAP zusammen mit der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) eine landesweite Petition zur Kastrationspflicht lanciert.
Starte eine Diskussion

Noch keine Kommentare

Ähnliche Beiträge

«Die Schule ist kein Ort, um Werbung zu machen»
Weiterlesen

«Die Schule ist kein Ort, um Werbung zu machen»

Weiterlesen
«Die Tierschutzbewegung stilisierte einige Tiere als Kriegshelden»
Weiterlesen

«Die Tierschutzbewegung stilisierte einige Tiere als Kriegshelden»

Weiterlesen
«Werft unsere Geschichte nicht weg!»
Weiterlesen

«Werft unsere Geschichte nicht weg!»

Weiterlesen
«Der Drache war zuerst da!»
Weiterlesen

«Der Drache war zuerst da!»

Weiterlesen
«Der Schutz der Würde wird nicht durchgesetzt»
Weiterlesen

«Der Schutz der Würde wird nicht durchgesetzt»

Weiterlesen
«Wir sind ein Querschnitt der Gesellschaft»
Weiterlesen

«Wir sind ein Querschnitt der Gesellschaft»

Weiterlesen
«Die Initiative wäre der Start einer Veränderung»
Weiterlesen

«Die Initiative wäre der Start einer Veränderung»

Weiterlesen
«Es gab kein milderes Mittel, um den Tieren zu helfen»
Weiterlesen

«Es gab kein milderes Mittel, um den Tieren zu helfen»

Weiterlesen
«Mortalitätsraten in der Massentierhaltung dürfen nicht akzeptiert werden»
Weiterlesen

«Mortalitätsraten in der Massentierhaltung dürfen nicht akzeptiert werden»

Weiterlesen