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Mensch & Tier

Anti-Speziesismus und Tierbefreiung

Die Tierbefreiungsbewegung versteht sich als Teil der emanzipatorischen Tradition. Sie will nicht-menschliche Tiere von menschlichen Nutzungansprüchen befreien und beruft sich dabei auf Herrschaftskritik, Antikapitalismus sowie moderne Theorien verschiedener Geisteswissenschaften. Ein Artikel von Tobias Sennhauser (TIF).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Herrschaft und Ausbeutung bilden unschöne Konstanten in der menschlichen Geschichte. Trotzdem haben es emanzipatorische Bewegungen immer wieder geschafft, benachteiligte Gruppen aus ihren Abhängigkeitsverhältnissen zu befreien. Die afroamerikanische Bürgerrechts- oder die Frauenrechtsbewegung sind Beispiele dafür. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es eine neue soziale Bewegung: die „Befreiung der Tiere“. Ist diese Forderung im Sinne einer Erweiterung des Emanzipationsgedankens zu verstehen oder handelt es sich dabei bloss um sentimentale Tierliebe?

Denken in Schubladen

Tiere werden oft in sogenannte Nützlichkeitskategorien eingeteilt: „Versuchstiere“ sorgen für den wissenschaftlichen Fortschritt, „Zirkustiere“ dienen der Unterhaltung und „Haustiere“ bereichern das Private. Mit biologischen Kategorien hat diese Einteilung freilich nichts zu tun. Vielmehr verdeutlichen sie den vielseitigen, willkürlichen menschlichen Nutzungsanspruch gegenüber Tieren: von ökonomischer Verwertbarkeit bis hin zu sozialer Nützlichkeit.

Das bekommen auch „Nutztiere“ zu spüren: Rinder, Schweine, Hühner werden funktionalisiert und müssen für die Milch-, Fleisch- oder Eierproduktion herhalten. Ihr Daseinszweck: den TierhalterInnen finanziell über die Runden zu helfen. So werden sie zu Opfern von bürgerlich-kapitalistischen Produktionsverhältnissen. „Nutztiere“ werden industriell – indoor, en masse und vollautomatisiert – ausgebeutet und möglichst effizient zu einem konsumfertigen Produkt „veredelt“.

Gewaltkultur

Beim System „Nutztierhaltung“ wird permanent eine Gewaltkultur aufrecht erhalten. Die Basis dafür ist die Zucht. Dort werden Hybride – sprich: „Einwegtiere“ – erzeugt und nach bestimmten Merkmalen wie „Frohwüchsigkeit“ oder „Milchleistung“ gekreuzt. Später werden die „Nutztiere“ im Namen der Effizienz an ihre Haltungsform angepasst: Kastration, Schnabelkürzen, Enthornen oder Zähne schleifen sorgen für eine möglichst reibungslose Produktion. Probleme werden mit Antibiotika gelöst. Ein vorzeitiges Ende nimmt das Nutztierdasein im Schlachthof, wo den Tieren in Reih und Glied, idealerweise maschinell, der Garaus gemacht wird.

Grundlage für dieses System ist ihr rechtlicher Status: Tiere sind unser Eigentum. Obwohl Tiere hierzulande juristisch nicht als Sachen gelten, werden sie in der Buchhaltung als „lebendes Inventar“ aufgeführt. Das hat folgenschwere Konsequenzen: Eigentum ist stets von seinen EigentümerInnen abhängig. In der „Viehwirtschaft“ werden die (existenziellen) Interessen der Tiere den (ökonomischen) Interessen der EigentümerInnen untergeordnet (Francione 2008: 37ff.).

Sprachlich entwertet

Als Rechtfertigung für die sinnlose – und tatsächlich: Fleisch, Milch und Eier sind ernährungsphysiologisch unnötig – Ausbeutung von „Nutztieren“ dient eine hierarchische Weltanschauung, die den Menschen als Krone der Schöpfung versteht. Durch diese anthropozentrische Ideologie entsteht ein Gesellschaft/Natur-Dualismus, der sich auch in der Sprache äussert.

Der Begriff „Tier“ dient als diffuses, meist negativ konnotiertes Sammelbecken. „Tiere“ – vom Einzeller bis zu dem mit dem Menschen genetisch (fast) identischen Schimpansen – gelten als naturverbunden, instinktiv, primitiv und triebgesteuert. Menschen dagegen sind kulturell, rational, zivilisiert und (meist) triebkontrolliert. Euphemismen für tierliche Handlungen fördern diese dualistische Verfremdung: Leichenteile werden als „Fleisch“ vermarktet, Nachwuchs wird „geworfen“, der Tod ist ein „Abgang“ bzw. eine „Schlachtung“, wenn er im Namen der Fleischproduktion geschieht.

Durch diesen Mensch/Tier-Dualismus werden Tiere als „das Andere“ konstruiert und es kommt zur dichotomischen Unterscheidung von „wir“ und „sie“. Diese ideologisch motivierte Ausgrenzung führt zu einer willkürlichen Gruppenbildung, die mit dem Sammelbegriff „Tier“ untermauert und reproduziert wird. Nicht-menschliche Tiere werden entwertet und dadurch die alltägliche, institutionalisierte Gewalt legitimiert (Mütherich 2005: 8f.).

Speziesismus

Auch in der Philosophie wurde die Mensch/Tier-Beziehung in den wissenschaftlichen Diskurs aufgenommen. 1975 machte Peter Singer in seinem Buch Animal Liberation den Begriff „Speziesismus“ populär, der die Diskriminierung aufgrund der Artzugehörigkeit kritisiert. Speziesismus führt zu einem Artenegoismus bzw. zur willkürlichen Privilegierung der eigenen Art. Tiere dürfen gemäss der speziesistischen Logik deshalb versklavt werden, weil sie nicht Menschen sind. Für Singer ist die Spezieszugehörigkeit kein moralisch relevantes Kriterium. Bei der Folter ist die Zahl der Beine der Opfer egal. Es sei das Schmerzempfinden, das zählt (Singer 2009: 6ff.).

Und was ist mit dem Speziesismus? © tier-im-fokus.ch (tif)

Oft wird der Speziesismus in die Reihe anderer „-ismen“ gestellt, allen voran: Rassismus und Sexismus. Überall kommt es zu sozialer Diskriminierung aufgrund von körperlichen Merkmalen. Beim Rassismus ist es die Hautfarbe, beim Sexismus das Geschlecht, und beim Speziesismus die Artzugehörigkeit. Stets wird von der privilegierten Gruppe willkürlich ein Kriterium definiert, das die Ungleichbehandlung legitimieren soll. Aufgrund von diesen Parallelen könnte der Anti-Speziesismus der nächste Schritt in der moralischen Evolution darstellen: nach der Abschaffung der (institutionalisierten) Sklaverei im 19. und der (juristischen) Gleichstellung der Geschlechter im 20. Jahrhundert, käme im 21. Jahrhundert die „Befreiung der Tiere“ (Best & Nocella II 2004: 13f.).

Die Parallelen zwischen Rassismus, Sexismus und Speziesismus existieren nicht nur moralisch, sondern auch strukturell. Machtasymmetrien, die es aus herrschaftskritischer Sicht zu überwinden gilt, existieren überall. So basiert die Volkswirtschaft darauf, dass Männer in leitenden Funktionen tätig sind und Frauen selbst bei gleicher Qualifikationen rund 20 Prozent weniger verdienen. Ebenso beruht die Landwirtschaft auf der Instrumentalisierung von „Nutztieren“. Die Überwindung von Ausbeutungsverhältnissen kann deshalb nicht nur auf moralischer, sondern muss zwangsläufig auch auf struktureller Ebene geschehen (Mütherich 2005: 16ff.) – zum Beispiel mit veganen Menus im Sous le Pont.

Animal Liberation!

Es gibt jedoch auch Unterschiede zu menschlichen Benachteiligungsformen. Menschen können auf der Strasse demonstrieren und sich gegen Herrschaft und Unterdrückung auflehnen. Zudem können sie – im Erfolgsfall – ein Subjekt von Befreiung sein (Twelve 2007: 25).

Tiere können sich jedoch nicht selbst von ihrem Eigentumsstatus und Abhängigkeitsverhältnis befreien, sondern sind auf fremde Hilfe angewiesen. Andere müssen das strukturelle Unrecht aufdecken und den Nutzungsanspruch gegenüber Tieren beenden. Vegan liefert dafür die moralische Grundlage. Packen „wir“ es an!

Literatur

Best, Steve &  Nocella II, Anthony J. (2004): Terrorists or Freedom Fighters?, Lantern Books.

Mütherich, Birgit (2005): Speziesismus, soziale Hierarchien und Gewalt, ed. Autonome Tierbefreiungsaktion Hannover.

Francione, Gary L. (2008): Animals as Persons, Columbia University Press.

Singer, Peter (2009): Animal Liberation, 4. Auflage, Harper Perennial (1. Aufl. 1975).

Twelve, Espi (2007): Befreiung mit Fragezeichen, in: Mensch. Macht. Tier: Antispeziesismus & Herrschaft, Seitenhieb Verlag.

Der Artikel ist erstmals erschienen in: Megafon. Magazin der Reitschule Bern, Nr. 374, Dezember 2012, 8-9.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Speziesismus aus philosophischer Sicht findet sich im Artikel von Martin Pätzold „Argumente pro und contra Speziesismus“.

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2 Kommentare

Christiane
vor 11 Jahre

Eine ganz hervorragende Analyse und Zusammenfassung. Herzlichen Dank.

Damit sich etwas Grundlegendes ändert, setze ich voll auf Aufklärung. Gleichzeitig ahne ich, dass es dennoch ein weiter, steiniger Weg sein wird, bis die Menschen verstehen (wollen).

Vor einem gutem halben Jahr, am 12. Juli 2012, unterschrieb eine Gruppe hochkarätiger Neurowissenschaftler die Deklaration von Cambridge zum Bewusstsein von Tieren. Fazit: Das Bewusstsein aller höheren Säugetiere und Vögel ist mit dem des Menschen vergleichbar.

Die international anerkannten, hochrangigen Forscher stützen ihre Aussagen alle auch auf praktische Erfahrungen mit Tieren, es handelt sich also nicht nur um eine rein neurologische Gleichheit.

Ich hatte gehofft, dass diese Erkenntnis als Sensationsmeldung wie ein Lauffeuer um die Welt ginge, dass eine Sondersendung, eine Diskussionsrunde die andere jagen würde. Weil doch das, was sich hinter dieser Deklaration verbirgt, alles auf den Kopf stellt, was Menschen gemäß ihren irrationalen Vorstellungen bislang legitimierte, die anderen Tiere derart zu be- bzw. misshandeln.

Doch nichts erschütterte das festzementierte System … als hätte es die Konferenz nie gegeben …

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