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Mensch & Tier

„Gansabhauet“ in Sursee – hau ab!

Nein, nichts gegen feucht-fröhliches Festen und schrägen Humor! Aber weshalb man etwas gegen eine Volksbelustigung haben kann, an der toten Gänsen der Rumpf vom Kopf getrennt wird. Martina Späni von TIF über ein unnötiges Spektakel.

Text: Tier im Fokus (TIF)

11. November, Martinitag, Tag des Heiligen Martin. Auch dieses Jahr werden sich wieder tausende von Schaulustigen in Sursee versammeln. Einheimische und Zugereiste spielen, essen, trinken und gaffen. Ein Stadtfest also. Kinder können sich am Sackhüpfen, Stangenklettern und dem Grimassenschneiden vergnügen. Abends wartet ein Räbeliechtli-Umzug. Kleine Preise winken überall. Das gilt alles aber nur als Rahmenprogramm. Im Zentrum steht etwas anderes: Das Herunterschlagen einer am Hinterkopf aufgehängten toten Gans, eben eine: „Gansabhauet“.

Geschütztes Kulturerbe

Auf der Kulturseite der Stadt Sursee wird das jährlich wiederkehrende Geschehen so beschrieben:

„Begleitet von Pauken- und Trommelschlägen ziehen die Organisatoren, der Stadtrat, die Zunft ‚Heini von Uri‘ und die geladenen Gäste um 15 Uhr zum Festplatz. Um 15:15 Uhr darf der erste Schläger – nach einem Glas Wein und einigen Drehungen um die eigene Achse – sein Glück versuchen. […] Gekleidet in einen roten Umhang, bewaffnet mit einem stumpfen Dragonersäbel, die Augen hinter der goldenen Sonnenmaske verbunden, versuchen die jungen Frauen und Männer das Federvieh mit einem einzigen Hieb herunterzuschlagen. Wem das Kunststück gelingt, dem winkt neben Ruhm und Ehre auch ein leckeres Festmahl.“

Das Spektakel zählt zum schützenswerten und repräsentativen schweizerischen Kulturerbe und wird in der Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz aufgeführt, die wiederum Teil des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ist, dem die Schweiz im Jahr 2008 beitrat.

So richtig viel weiss die Forschung jedoch nicht über dieses in den Rang des Kulturerbes erhobenen Spektakels zu berichten. Eines ist aber sicher: „Von Flandern bis Italien und von Spanien bis Bayern lassen sich in spätmittelalterlichen Quellen diverse Belege für das Köpfen und Strangulieren der Vögel im Rahmen von brauchtümlichen Wettspielen finden“, so der eidgenössische Eintrag zur Gansabhauet in Sursee. Nicht bloss in mittelalterlichen, sondern auch in frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Quellen ist die Rede vom „Gansabreiten“, „Gänserichreiten“, „Gänseabrennen“, „Gänserennen“, „Gansplätschen“, „Gänssäbeln“, „Gänsereisset“, „Gansreissen“, „Gansköpfen“, „Ganshalsbreichen“, „Gansschlagen“, „Gansabschlagen“ oder eben vom „Gans-Abehauet“ bzw. „Gansabhauet“.

Schlagen, plätschen (=klatschen), reissen, köpfen, hauen

Im Fokus des Brauchs steht nicht die unmittelbare schnelle Tötung des Tieres, sondern das spektakuläre Drumherum: Die zulässigen Handlungen sollen komisch wirken und die Tötung und damit das Spiel schwierig und spannend machen; die ZuschauerInnen, Kinder und Erwachsene reagieren mit Lachen, lauten Zurufen, mit Schreien und Klatschen. Das Ziel des Spiels ist immer die Durchtrennung des Halsbereichs bzw. die Zweiteilung der Gans in Kopf und Rumpf.

Die Gänse werden an den Füssen oder am Kopf aufgehängt oder im Erdreich eingegraben; man schlägt zu Pferd oder zu Fuss mit einer Peitsche oder einem stumpfen oder hölzernen Säbel auf den Halsbereich des Tieres ein oder versucht den Kopf im Sprung oder zu Pferd im Galopp per Faust zu erheischen und abzureissen (wie hier). Teilweise wird der Halsbereich der Gans mit Fett eingerieben, damit das Greifen schwerer fällt.

Als Preis winkt die Gans – oder was davon übrigbleibt: ein zerschundener, zweigeteilter Körper. Dieses weitverbreitete Brauchtum erregte immer und immer wieder nicht nur Applaus und Gelächter, sondern auch: Abscheu und Ablehnung.

Verbot und Veränderungen des Brauchs

Tote Gans an der Gansabhauet in Sursee © Sigi Tischler (Keystone)

Fast überall wurde das für die notabene lebende Gans qualvolle Spiel ab dem späten 18. Jahrhundert verboten oder verändert. Keine lebenden, sondern allenfalls tote Gänse durften für das Spiel verwendet werden. So geschehen auch in Sursee.

Wo das Spiel bis heute mit toten Tieren weitergeführt wird, ist Kritik programmiert. Und sie setzt sich längerfristig durch. Im deutschen Drolshagen-Bühren etwa wurde es 1988 verboten, ebenso in Bornheim und Leverkusen, sowie seit 1993 im Kreis Euskirchen. Oder das Spektakel wurde reformiert und durch alternative Formen ersetzt. Das Jugendamt in Bochum setzte 2006 für das Gänsereiten im Stadtteil Wattenscheid-Höntrop zum Beispiel durch, dass die „Junggänsereiter“ nicht mehr tote Gänse drangsalieren dürfen, sondern Hufeisen auf ihrem Ritt mit ihrer Reitgerte zu durchstechen haben.

Darf man mit toten Tieren spielen?

Wo das Spiel mit toten Tieren überlebt, geht die Auseinandersetzung weiter. So auch in Sursee.

Mitunter wird das Ganze mit dem Argument verteidigt, dass die Gans nicht leiden müsse, da sie ja tot sei! Wie steht es aber dann mit toten Hunden oder Katzen oder gar Menschen – die spüren auch nichts mehr? Darf wirklich alles geschlagen und getreten werden, das nichts mehr spürt? Öffentliches Schlagen ist auch ein symbolisches Schlagen und es trifft nicht nur den toten Körper, sondern auch die lebende Gattung. Deshalb hat die Sitte, „Hexen“ zu verbrennen, auch mit toten nicht überlebt.

Oder man sagt: Es gibt doch viel Schlimmeres auf dieser Welt und dagegen sollte man sich wehren. Darf man sich also über weggeworfenes Plastik nicht mehr ärgern, weil das Müllproblem in Indien immens grösser ist? Ignoranz im Kleinen kann zu einem Problem im Grossen werden.

Oder man sagt: Da wird nicht mit dem Tier gespielt, sondern das Tier wird als „wertvolle Trophäe“ geschätzt. Einwand: Wieso die „edle Trophäe“ mit blinden Schlägen zuerst verunstalten? Unter derlei Vorzeichen wäre das eine höchst irrationale Strategie – und schliesslich auch ein unglaubwürdiges Argument.

Sinnstiftendes Brauchtum?

Oder man sagt: Die Tradition ist eine sinnstiftende Autorität und darf deshalb nicht verändert werden. Ja, das sinnstiftende Brauchtum des Gänseschlagens: Volkskundlich versucht man es mythologisch zu verorten (Hoffmann-Krayer 1918) und in Verbindung zu bringen mit dem Fastenbrauchtum oder den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zehntabgaben im Herbst (Röllin 1981, S. 263). Es gibt aber nur Vermutungen und keine sichern Deutungen des Spektakels (u.a. Haldenwang 2004). Dabei stellt sich auch die Frage, ob es richtig ist, eine Tradition weiter zu führen, deren Kern aus nichts anderem als aus Tierquälerei besteht, die einst „eine gebilligte Form gesellschaftlicher Lustbarkeit, für Kinder wie für Erwachsene, darstellte.“ (Bellwald 2004, S. 243)

Wie wertvoll ist die „Gansabhauet“ also, angesichts dessen, dass es nichts Edles, Erhabenes oder menschheitsgeschichtlich Interessantes zu entdecken gibt als eben die Ritualisierung von Tierquälerei? Gehört die Gansabhauet tatsächlich mit Recht zum schweizerischen „immateriellen Kulturerbe“, das wir bewahren sollen?!

Ein letztes, besseres pro-Argument?

Nun, es gibt noch ein anderes Argument der BefürworterInnen der „Gansabhauet“: Die Gänse werden ja sowieso getötet und gegessen. Wer sich über den Brauch aufregt, gehört zu jenen „vielen Leute“, die dem Leben und Sterben von Tieren auf Bauernhöfen fern stehen“ (Wunderlin 2009, S. 3). In einer Kultur, in der es Sitte ist, Gänse als Masttiere bzw. als fleischproduzierenden Organismus wahrzunehmen, ist es ein Klacks mit den toten Tieren Schabernack zu treiben, bevor sie auf dem Teller landen. Wie steht es um dieses Verteidigungsargument; ist es hieb- und stichfest?

Die blosse Tatsache des gebräuchlichen Umgangs ist kein moralisches Argument. Vielmehr drängt sich die Frage auf, wie wir mit Tieren umgehen sollen. Dieser Umgang ist kulturell offen, gestaltbar und nicht naturbedingt.

Also retten wir die toten Gänse und ihre Gattung vor dem symbolischen Overkill durch einen stumpfen Dragonersäbel und schaffen einen neuen Brauch, der ein Zeichen setzt gegen die Tradition der Tierquälerei: als ein Fest für Kinder und ihre Erwachsenen, und das in Sursee und anderswo. Der Ideenwettbewerb ist eröffnet!

Weiterführende Literatur und Links

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1 Kommentar

Beat
vor 8 Jahre

Abartiges Volk. Mit toten Tieren zu spielen wenn man das auch ohne Probleme mit einer Gans aus Holz, Metall und Stoff machen könnte. Wir sollten in Zürich statt dem Böög wohl auch Menschen verbrennen. Wenn er schon tot ist, machts je nichts, oder?

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