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Mensch & Tier

Leonard Nelson, vergessener Tierrechtler

Tiere sind empfindungsfähige Wesen mit eigenen Interessen, sie sind Personen und haben als solche ein Recht auf Leben! Was auch aus heutiger Sicht progressiv klingt, wurde vor fast 100 Jahren bereits von Leonard Nelson vertreten. Der Göttinger Philosoph ist ein zu Unrecht vergessener Tierrechtler, wie tif-Mitglied Urs Müller meint.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Seit fast vier Jahrzehnten wird in der Ethik der moralische Status von Tieren im grossen Stil diskutiert. Bereits jetzt ist man sich weitgehend darin einig, dass Tiere in moralischer Hinsicht berücksichtigt werden müssen. Die Frage ist allenfalls, ob man ihnen gewisse Grundrechte einräumen sollte, und falls ja: welche Rechte.

Prominente Befürworter von Tierrechten sind Tom Regan, Gary Francione oder Mark Rowlands. Wenig bekannt hingegen ist, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Philosoph Leonard Nelson eine ausgereifte Ethik entwickelt hatte, die ausnahmslos allen empfindungsfähigen Lebewesen Grundrechte zugesteht.

Theorie mit Praxis

Leonard Nelson (1882-1927) war ein deutscher Philosoph, der ab 1919 in Göttingen eine ausserordentliche Professur innehatte. An das philosophische Denken stellte Nelson die Forderung nach konsequenter Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit. Was Philosophie lehrt, so war er überzeugt, „soll Wahrheit sein, und die Form, in der sie es lehrt, soll Wissenschaft sein.“

Zur Wahrhaftigkeit gehörte für Nelson unweigerlich, die erkannte Wahrheit in die Tat umzusetzen. Für ihn bildeten Philosophie und Praxis eine Einheit. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass Nelson selbst politisch äusserst aktiv war. Er entwickelte die Idee eines ethisch begründeten Sozialismus, die er ab 1925 in dem von ihm und seiner Mitarbeiterin Minna Specht (1879-1961) gegründeten Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) umzusetzen versuchte; die Organisation agierte auch nach ihrem Verbot im Jahre 1933 gegen die nationalsozialistischen Machthaber im Untergrund weiter.

Das Ziel von Nelsons theoretischer wie auch praktischer Arbeit war eine friedliche und gerechte Gesellschaft frei von jeglichen Ausbeutungsverhältnissen, und zwar sowohl für Menschen wie auch für andere Tiere. Aus diesem Grund lebte Nelson einen strengen Vegetarismus, der auch von den übrigen Mitgliedern des ISK gefordert wurde.

Pflichten und Rechte

Nelsons Ethik beruht auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie des Philosophen Immanuel Kant. Im Mittelpunkt steht das Sittengesetz. Dieses beinhaltet die Imperative, deren Ausführung unbedingt geboten, also Pflicht ist. Pflicht bedeutet Einschränkung unseres beliebigen Handelns. Laut Nelson können allerdings nur Wesen pflichtgemäss handeln, die auch in der Lage sind, das Sittengesetz zu erkennen und es zu einem Beweggrund ihres Willen und Handelns zu machen.

Mit anderen Worten haben nur vernünftige Wesen Pflichten. Bedingung für die Erkenntnis des Sittengesetzes ist folglich, dass sein Inhalt objektiv und eindeutig ist, womit es Allgemeingültigkeit besitzt. Dabei ist wichtig zu sehen, dass gemäss Nelson Handeln nach Pflicht unmittelbar geboten ist und sich nicht auf einen Zweck richtet. Seine Ethik ist deshalb eine sogenannte Sollensethik, die Handlungen unabhängig von ihren Konsequenzen bewertet – dies im Gegensatz zu einer Konsequenzenethik, welche nur die Folgen einer Handlung für moralisch relevant hält.

Eine Einschränkung meines Handelns durch die Pflicht tritt erst dort auf, wo ich mit meinem Tun oder Lassen nicht nur auf meine eigenen, sondern auch auf die Interessen anderer Einfluss nehme. Dabei verfügen gemäss Nelson all jene Lebewesen über Interessen, die Lust und Schmerz erleben können, also empfindungsfähige Wesen sind. Solche Interessenträger nennt Nelson Personen. Sie haben eine persönliche Würde, was bedeutet, dass sie durch die Pflicht unserem Belieben und unserer Willkür entzogen sind. Dadurch haben alle Personen den Anspruch auf Achtung ihrer Interessen, sie haben also Rechte.

Auf den Punkt gebracht, sind alle empfindungsfähigen Tiere Träger von Rechten und alle vernünftigen Wesen sind überdies auch Träger von Pflichten. Beide haben aber, weil sie Personen sind, die gleiche Würde, wenn auch nur vernünftige Wesen sie achten können.

Die Pflicht der Gerechtigkeit

Pflichtgemässes Handeln ist nach Nelson gerechtes Handeln. Es ist nur dann gefordert, wenn es eine Kollision zwischen Interessen unterschiedlicher Personen gibt. In solchen Fällen ist es durch die Pflicht geboten abzuwägen, welche Interessen überwiegen. Zu diesem Zweck entwirft Nelson ein Abwägungsgesetz, welches zugleich als zentraler Grundsatz seiner Ethik betrachtet werden kann; es lautet:

„Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“

Dieses Gesetz ist bewusst sehr offen formuliert, da je nach Umständen unterschiedliche Handlungen geboten sein können. Aus diesem Grund ist es beispielsweise unmöglich, einen Sittenkodex mit Geboten wie „Du sollst nicht lügen“ aufzustellen, denn in gewissen Situationen kann eine Lüge geboten sein, wenn das durch sie geschützte Interesse überwiegt. Konkret bedeutet dies, dass der Einzelne durch hinreichende Prüfung der Umstände selbst gerecht entscheiden soll, welche Handlung nun durch Pflicht geboten ist und welche nicht.

Die Rechte der Tiere

Den Rechten der Tiere widmet Nelson in seinem posthum 1932 erschienenen Werk „System der philosophischen Ethik und Pädagogik“ ein eigenes, rund 10-seitiges Kapitel.

Darin wird erläutert, wie man herausfinden kann, ob Tiere Interessen haben. Nelson ist der Ansicht, dass sich diese Frage mit Hilfe eines Analogieschlusses zwischen unserem eigenen Verhalten und jenem der Tiere beantworten lässt. Den prinzipiellen Einwand, dass wir nie sicher sein können, ob Tiere tatsächlich Interessen haben, kontert er mit dem Argument, dass wir eine solche Sicherheit auch bei anderen Menschen nicht erreichen können; schliesslich sei es immer möglich, dass sie ihr Verhalten durch Sprache und Vernunft verstellen können. Hingegen behauptet Nelson, dass wir Pflanzen oder Steinen gegenüber keine direkten Pflichten haben, da es keinen Grund gibt anzunehmen, dass sie Interessen haben.

„Halten wir uns an das Kriterium der Pflicht, so brauchen wir uns zur Entscheidung darüber, ob es ein Recht der Tiere gibt, nur die einfache Frage vorzulegen, ob […] wir einwilligen würden, als blosses Mittel für die Zwecke eines anderen gebraucht zu werden, der uns an Kraft und Intelligenz weit überlegen ist. Diese Frage beantwortet sich selber. Es ist rein zufällig, dass der Mensch in der Lage ist, die seiner Willkür ausgesetzten Wesen als Mittel zu seinen Zwecken benutzen zu können.“

Im Unterkapitel „Das Interesse des Tieres am Leben“ zeigt Nelson, dass im Falle eine Kollision gleichwertiger Interessen von Tieren und Menschen nicht automatisch die menschlichen Interessen vorzuziehen sind. Schliesslich geht es in beiden Fällen um Wesen mit Personalität. Was also auf dem Spiel steht, sind Interessen von menschlichen und nicht-menschlichen Personen. Entsprechend sei auch jetzt eine Interessen-Abwägung erforderlich.

Für Nelson ist das Interesse am Leben ein, wie er es nennt, „sinnliches Interesse“, das Menschen und Tieren gleichermassen haben. Im Gegensatz zu unvernünftigen Tieren ist der Mensch jedoch in der Lage, sein Leben „um seiner höheren Interessen wegen herzugeben“. Genau dieser Umstand fällt nun aber zugunsten der Tiere aus. Wenn höhere Interessen – so etwa die Entwicklung der Vernunft – immer den sinnlichen Interessen vorzuziehen sind, müsste der Mensch alle seine sinnlichen Interessen jederzeit den vernünftigen Interessen unterordnen. Das aber, so Nelson, würde den Verlust des Anspruchs auf Achtung aller sinnlichen Interessen bedeuten.

Progressive Tierethik

Obwohl Nelsons Ausführungen philosophischer Art sind, sind sie doch allgemein verständlich und damit allen zu empfehlen, die sich für die Herleitung und Begründung von moralischen Geboten und ihre Anwendung auf die Tierethik interessieren.

In der Tat ist es erstaunlich, dass Nelson bereits vor fast 100 Jahren eine streng durchdachte und ausgereifte Tierrechtstheorie ausarbeitete, die in ihrem Kernanliegen den heutigen Ansätzen in nichts nachsteht. Dass Empfindungsfähigkeit eine Voraussetzung dafür ist, dass Lebewesen Interessen haben können, wird auch gegenwärtig diskutiert. Genauso steht zur Debatte, ob Empfindungsfähigkeit das einzig relevante Merkmal ist, wenn es um die Frage geht, ob wir einem Wesen Rechte einräumen sollten. Und schliesslich wird, wenn auch vereinzelt, darüber nachgedacht, ob Tiere nicht als Personen zu behandeln seien.

Zu all diesen brisanten Themen hatte Leonard Nelson eine klare Meinung. Doch hat sein Ansatz bis heute nicht die Beachtung gefunden, die sie verdient hätte. Der Göttinger Philosoph ist ein zu Unrecht vergessener Tierrechtler. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird und mehr Leute in den Genuss seiner interessanten Gedanken kommen werden.

Urs Müller ist Aktiv-Mitglied von tier-im-fokus.ch (tif) und studiert gegenwärtig an der Uni Luzern Philosophie. Von ihm stammt auch der Artikel „Die Maus im Haus: was tun?“.

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9 Kommentare

Tias
vor 3 Jahre

@martin: Nein 🙂
So wie der Satz dasteht müsste jeder (vom Selbstmordattentat) Betroffene das Interesse (in die Luft gesprengt zu werden) haben, damit die Handlung dem Satz entspricht.

Es handelt sich also, wenn auch etwas verklausuriert, um genau die von dir geforderte Regel, die sich auf die Interessen der Betroffenen bezieht.

Arno
vor 11 Jahre

Habe die entscheidenden Passagen von Ethik & Pädagogik (§66 Pflichten gegen Tiere) im Netz gefunden, 36 MB groß. Da Nelson mehr als 70 Jahre tod ist, gibt es keine Probleme mit dem Urheberrecht. Textabschnitt ist hier verlinkt: bit.ly/YRd4ug

Arabella Unger
vor 12 Jahre

Man kann über viele Schwächen der Nelson’schen Theorie lästern,auch über seine Neuformulierung des „Kategorischen Imperativs“, dennoch führt sein Ansatz weit über Kant hinaus und sollte auch in der Kritik der Kantischen Tierethik neben Max Schelers Sympathie-Aufsatz als wichtiges, nach vorne weisendes Korrektiv zu Kant beachtet werden. Nelsons Abwägungstheorie hat, da der Konsequenz-Utilitarismus ähnliche Theoreme hat, insbesondere zur Intensivierung von Nelsons Rezeption in der britischen Philosophie (Z.B. R.M. Hare) beigetragen.

tuli
vor 12 Jahre

Zu Nelson bzw. dem ISK sind auch einige Texte in dem Buch „Das Schlachten Beenden!“ im Verlag Graswurzelrevolution enthalten.

Urs Müller
vor 13 Jahre

Wenn man Nelsons Imperativ einfach für sich nehmen würde, dann hast du recht.

Aber es steckt bei Nelson mehr dahinter. Es geht darum, mit seiner Vernunft zu prüfen, welche Interessen bei der Handlung betroffen sind und welches davon überwiegt. Dabei unterscheidet Nelson zwischen wahren Interessen und faktischen Interessen. Es liegt am Handelnden herauszufinden, ob es sich bei den betroffenen Interessen um wahre oder faktische Interessen handelt. Die durch Pflicht gebotene Achtung gilt nur wahren Interessen! Bei nichtmenschlichen Tieren ist es einfacher, die wahren Interessen herauszufinden, da sich diese nicht durch Vernunft/Sprache verstellen oder irren können.

Als Märtyrer sterben zu wollen wäre ein faktisches Interesse und kein wahres Interesse des Menschen. Ein faktisches Interesse kann sich mit dem wahren Interesse decken, aber in diesem Beispiel wäre das faktische Interesse dem wahren Interesse entgegengesetzt. Das wahre vernünftige Interesse des Menschen ist laut Nelson (neben den sinnlichen wahren Interessen), ein selbsttätiges vernünftiges Wesen zu werden, das heisst, pflichtgemäss zu handeln und somit das Sittengesetz/Vernunftgesetz zu achten.

Ich muss auch bei mir prüfen, ob mein Interesse wahr oder faktisch ist. Dabei ist geboten, Irrtümer auszuschliessen. Würde ich mein Interesse an einem Logenplatz im „Himmel“ durch ein Selbstmordattentat als wahres Interesse behandeln, dann würde ich mich irren. Das wäre ein pflichtwidrige Handlung.

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