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Mensch & Tier

Tierrechte und der Fehler des Meliorismus

Der Tierethiker Jean-Claude Wolf hat für tier-im-fokus.ch (tif) einen provokativen Artikel verfasst. Darin erklärt er, weshalb wir einen Mittelweg brauchen zwischen traditionellem Tierschutz und der radikalen Forderung nach Abschaffung der Tierausbeutung. Wolfs Vorschlag: eine Moral des gut, besser, am besten. Was eine durchaus kontroverse Sache ist, wie der Kommentar des amerikanischen Philosophen Gary Steiner zeigt.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Der vorliegende Artikel ist ein Kommentar zu Jean-Claude Wolfs Traditioneller Tierschutz, radikaler Tierschutz und der ethische Meliorismus.

Weitere Kommentare gibt es von Sebastian Leugger, Urs Müller und Martin Pätzold.

Teil 1: Drei konkurrierende Tierethiken

In der modernen Tierethik dominieren drei Ansätze, die den moralischen Status der Tiere zu begründen versuchen. Während in der Vergangenheit utilitaristische und deontologische Theorien überwogen, hat sich jüngst eine Reihe postmoderner Auffassungen entwickelt, die jeglichen Bezug zu Empfindungsfähigkeit und Tierrechten vermeiden möchten und stattdessen unseren moralischen Umgang mit Tieren auf die Idee gründen, dass uns Tierleid nicht gleichgültig ist.

Interessen abwägen: der Utilitarismus

Jeremy Bentham und John Stuart Mill haben der utilitaristischen Tierethik in den letzten Jahrhunderten den grössten Auftrieb gegeben.

Dabei wandte sich Jeremy Bentham gegen die philosophische Tradition, wonach Lebewesen rational sowie sprachbegabt sein müssen, um über moralischen Status zu verfügen. Seiner Ansicht nach lautet die Frage nicht: „Können sie denken? Oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?“ (Bentham 1789: 310-11). Damit wollte Bentham auch denjenigen empfindungsfähigen Wesen moralisches Gewicht verleihen, die keine Sprache haben und somit nicht für sich selbst reden können. Von da an sollte es keine Rolle mehr spielen, ob ein Wesen Selbstbewusstsein besitzt, ob es über Zukünftiges oder Vergangenes nachzudenken in der Lage ist oder ob es aus freien Stücken Rechte und Pflichten übernehmen kann. Was zählt, ist einzig und allein Empfindungsfähigkeit, das Vermögen also, Lust und Schmerz zu erfahren.

Allerdings war Bentham auch der Meinung, dass Tiere keine Rationalität haben, dass sie weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft nachsinnen können und deshalb durch den Tod weniger zu verlieren haben als wir Menschen. Folgerichtig war Bentham davon überzeugt, dass der Tod für Tiere ein geringeres Übel darstellt als für Menschen und dass das Töten von Tieren für den menschlichen Verzehr somit ethisch vertretbar ist.

John Stuart Mill meinte ebenfalls, dass wir die Interessen empfindungsfähiger Wesen moralisch zu berücksichtigen haben. Wie Bentham fand aber auch er eine Möglichkeit, menschliche Interessen letztlich über die Interessen der Tiere zu stellen.

Während Tiere, so Mills Argument, bloss „niedrige“, physische Freuden erfahren können, ist der Mensch zudem in der Lage, „höhere“ Freuden des Intellekts und der moralischen Sensibilität zu erleben. Deshalb ist es nach Mill „besser, ein unzufriedener Narr zu sein als ein zufriedenes Schwein“, denn die Fähigkeit von Schweinen, Freuden zu erfahren, sind grundlegend limitiert, während dies für Menschen nicht im selben Masse gilt. Sie können auf eine Art und Weise Unzufriedenheit verspüren, die Tieren nicht zugänglich ist, da diese viel weniger benötigen als wir, um zufrieden zu sein (Mill 1859: Teil 2, 140).

Die Grundsätze des Utilitarismus haben in der Gegenwart ihren Ausdruck in den Überlegungen von Peter Singer gefunden. Singer meint, wir seien es den Tieren schuldig, ihre Interessen im gleichen Masse zu berücksichtigen wie die unsrigen. Zugleich ist er der Ansicht, dass gleiche Interessenberücksichtigung nicht mit gleicher Behandlung einhergeht. Aus diesem Grund prangert Singer zwar die Massentierhaltung an, hält es aber nicht für falsch, Tiere für den menschlichen Verzehr zu töten – vorausgesetzt, sie werden „artgerecht“ gehalten und „human“ getötet. Deshalb könne er „gewissenhafte Menschen respektieren, die darauf achten, nur Fleisch zu essen, das von Tieren stammt“, die ein „erfreuliches Leben in einer ihren Verhaltensbedürfnissen angemessenen sozialen Gruppe“ verbracht haben und „dann schnell und schmerzlos getötet“ wurden (Singer 1975: 367).

Kant für Tiere: der deontologische Ansatz

Der deontologische Ansatz wurde von Immanel Kant entwickelt und in unserer Zeit von Tom Regan weitergeführt. Nach Regan verfügen alle Wesen, die – wie er sie nennt – „Subjekte-eines-Lebens“ sind, im gleichen Masse über inhärenten moralischen Wert. Solche Subjekte-eines-Lebens sind dadurch charakterisiert, dass sie fähig sind, „Wahrnehmungen, Erinnerungen, Wünsche, Überzeugungen, Selbstbewusstsein und Absichten zu haben sowie einen Sinn für die Zukunft“ (Regan 1983: 81).

Indem Subjekte-eines-Lebens als Wesen mit inhärentem moralischem Wert betrachtet werden, wird in Regans Augen das grösste Defizit der kantischen Ethik korrigiert, nämlich: dass nur moralische Akteure über moralischen Wert verfügen können.

Dennoch gelangt Regan zum Schluss, dass wir in Extremsituationen, bei denen ein Konflikt zwischen menschlichen und tierlichen Interessen besteht, grundsätzlich immer das Leben von Tieren zugunsten der Menschen opfern sollten. Tatsächlich ist es seiner Ansicht nach stimmig, eine Million von Hunden sterben zu lassen, wenn dadurch nur schon ein einziges menschliches Leben gerettet werden kann (Regan 1983: 351).

Soviel zum inhärenten Wert, über den alle Subjekte-eines-Lebens gleichermassen verfügen.

Geteilte Sterblichkeit: der Postmodernismus

Der jüngste Ansatz in der Tierethik gehört dem Lager des Postmodernismus an; er betont die Sterblichkeit, die Menschen und Tiere gemeinsam haben, und gibt unserer ethischen Resonanz auf das verletzte, verwundbare Gegenüber den Vorrang.

So haben Denker wie Jacques Derrida darauf hingewiesen, dass die traditionelle Berufung auf Eigenschaften wie Empfindungsfähigkeit oder Selbstbewusstsein Teil einer versteckten Strategie sei, die darauf angelegt ist, andere auszuschliessen: Damit ein Wesen über moralischen Status verfügen darf, verlangen wir von ihm gewisse Merkmale; und dann suchen wir nach Wegen und Mitteln, ihm die erforderlichen Eigenschaften abzusprechen. So wurden in der Vergangenheit Frauen und Menschen anderer Hautfarbe vom moralischen wie politischen Leben ausgeschlossen, weil sie nicht „ausreichend“ rational waren. Ähnlich argumentierte bereits Aristoteles, demzufolge Frauen und Sklaven nicht als Bürger gelten durften, da ihr Vernunftvermögen von Natur aus defizitär sei (Aristoteles, Politik, I.13).

Für Derrida und gewisse andere postmoderne Denker besteht die Lösung darin, ethische Erwägungen über Fähigkeiten einzelner Individuen gänzlich aufzugeben und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, dass Tiere und Menschen gleichermassen dem Tod ausgeliefert sind. Dieser Umstand sei das Bindeglied, welches uns mit Tieren verbindet und das uns moralisch dazu verpflichtet, sie mit Respekt zu behandeln.

Was Derrida und seine Anhänger jedoch vergessen, ist die Tatsache, dass sich auch ihre Vorstellung von der moralischen Gemeinschaft auf bestimmte Eigenschaften beruft, so auf die Leidensfähigkeit, die den bevorstehenden Tod verkündet. Allerdings versuchen sie diese Konsequenz zu umgehen, indem sie behaupten, dass es sich dabei nicht um eine aktive Fähigkeit handelt, sondern vielmehr um eine Bedingung des passiven Hinnehmens.

Dennoch liegt ihrem Ansatz – wie auch der utilitaristischen und deontologischen Tierethik – der Gedanke zugrunde, dass Entitäten mit moralischem Wert Wesen sind, die kämpfen sowie leiden – und damit Wesen, die über Bewusstsein verfügen und danach streben, ihr natürliches Potenzial auszuschöpfen.

Die Aporie dieser drei Ansätze

Sämtliche dieser Ansätze lassen uns am Ende mit der Frage zurück, wie wir zwischen den oft konkurrierenden, sich gegenseitig ausschliessenden Interessen unterschiedlicher Lebewesen abwägen sollen. Dabei treten solche Interessenkonflikte nicht bloss unter Menschen auf, sondern häufig auch zwischen Menschen und Tieren.

Manchmal wird behauptet, dass Tiere über einen unantastbaren inhärenten Wert verfügen und sie nicht getötet oder genutzt werden dürfen, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings ist es nicht so, dass die obigen Ansätze den Tieren klarerweise das Recht einräumen würden, von Menschen nicht ausgebeutet zu werden. Vielmehr lässt jede dieser Theorien die Möglichkeit zu, die Nutzung von Tieren in ihren vielfältigen Formen zu rechtfertigen.

Der Utilitarismus legitimiert sie dadurch, dass menschliche Interessen grundsätzlich mehr „zählen“ als die Interessen der Tiere. Auch der deontologische Ansatz von Regan kapituliert letztlich vor utilitaristischen Kosten-Nutzen-Berechnungen, da er die Interessen eines einzelnen Menschen über die Interessen einer beliebig hohen Anzahl empfindungsfähiger, nichtmenschlicher Lebewesen stellt. Nach Regan hat ein einziger Mensch durch den Tod mehr zu verlieren als die gesamte, nicht-empfindungsfähige Natur zusammen genommen. Der postmoderne Ansatz von Derrida schliesslich meidet zwar utilitaristische Berechnungen, mit denen moralische Verpflichtungen gegenüber anderen verwundbaren Wesen begründet werden (Wolfe 2003: 69). Zugleich wird aber jeglicher Bezug auf Moralprinzipien preisgegeben, weshalb diese Theorie letztlich ungeeignet ist, um der Tierausbeutung irgendwelche Grenzen zu setzen – sie prangert das Leid der Tiere lediglich in einem sehr allgemeinen Sinne an, geht in ihrer Kritik aber nicht weiter. An etlichen Stellen hinterfragt Derrida sogar die Motive und Legitimation, die hinter dem ethischen Vegetarismus stehen (Derrida 1991: 112; Derrida & Roudinesco 2004: 67, 69).

Allen drei Ansätzen ist gemeinsam, dass sie nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen wollen, dass Tiere – als empfindungsfähige Wesen mit eigenen Zielen und Bedürfnissen – denselben moralischen Status geniessen wie Menschen. Es gibt gute Gründe dafür, intelligenteren Menschen keinen höheren moralischen Wert zuzuschreiben als Menschen, die weniger intelligent sind. Dieselben Gründe sprechen dafür, Menschen moralisch gesehen nicht über Tiere zu stellen. Was uns zur Annahme verleitet, dass wir moralisch höher zu bewerten sind als Tiere, ist letztlich das Vermächtnis des speziesistischen Anthropozentrismus: ein ganz und gar egoistisches Vorurteil, demzufolge nur Wesen mit spezifisch menschlichen Eigenschaften über moralischen Wert verfügen.

Teil 2: Kann uns der Meliorismus retten?

Gut, besser, am besten? © tier-im-fokus.ch (tif)

Jean-Claude Wolf vertritt in seinem Artikel Traditioneller Tierschutz, radikaler Tierschutz und der ethische Meliorismus die Ansicht, dass der Meliorismus etliche der Probleme und Rätsel der traditionellen Tierethik zu lösen vermag.

Er beruft sich dabei auf Voltaires Idee, wonach das Bessere der Feind des Guten sei und stützt auf diese Weise seine Behauptung, dass die Berufung auf Pflichten und Prinzipien letztlich kontraproduktiv ist. Kategorische Verbote lehnt Wolf als „asketisch heldenhaft“ ab und schlägt stattdessen eine Methode der „freundlichen Selbstüberlistung“ vor, mit der sich moralische Ideale möglichst wirksam realisieren lassen.

Statt zu versuchen, nach strengen Prinzipien etwa des ethischen Vegetarismus oder Veganismus zu leben, empfiehlt Wolf eine graduelle, schrittweise Umsetzung moralischer Ideale. Seiner Ansicht nach hat diese Methode ungleich bessere Chancen, das Verhalten der Menschen zu verändern. Tatsächlich ist Wolf der Auffassung, dass ein „nacktes Sollen“ zwecklos ist, solange es keine Möglichkeiten gibt, sich diesem schrittweise anzunähern.

Nach Wolfs Meliorismus ist Moral keine „alles-oder-nichts“-Angelegenheit, sondern eine Art agon oder Wettbewerb, bei dem es einen ersten, zweiten und dritten Rang gibt. Praktiken wie der Fleischkonsum können demnach nicht entweder nur richtig oder aber nur falsch sein. Vielmehr gibt es unterschiedliche Grade der Richtigkeit. Auf diese Weise lassen sich das Töten und Essen von Tieren zumindest in einem eingeschränkten Sinne als „gut“ bezeichnen.

Falls wir den Fleischverzehr gutheissen, gibt es unter Familienmitgliedern bezüglich ihrer Essgewohnheiten keine Konflikte; sie können nach wie vor gesellig am Mittagstisch sitzen und ihren kulinarischen Vorlieben nachgehen, auch wenn die Einzelnen unterschiedliche Ansichten über die moralische Legitimation des Töten und Essens von Tieren vertreten. Einige werden Fleisch konsumieren, andere sind womöglich Vegetarier. Falls ein solches Arrangement als „gut“ gilt, wird damit eine „bessere“ Situation antizipiert, bei welchem sich die Leute bemühen, weniger Fleisch zu essen, und womöglich sogar eine „am besten“-Situation, in der sie überhaupt kein Fleisch mehr konsumieren und auch auf andere Formen der Tiernutzung verzichten.

Nach dieser Ansicht kann der Verzehr von Fleisch also nach wie vor als „gut“ bezeichnet werden – auch wenn dieses Konsumverhalten nicht „besser“ oder „am besten“ ist. Damit vermeiden wir eine moralische Verurteilung fleischessender Menschen, was Wolf als völlig kontraproduktiv erachtet. Vielmehr fokussieren wir auf eine schrittweise Verbesserung des Verhaltens, ohne dabei gewisse Handlungen kategorisch zu verdammen.

Um diesen Punkt zu veranschaulichen, führt Wolf das Beispiel des Rauchens an. Es sei viel effektiver, das Rauchen schrittweise, also Tag für Tag, aufzugeben, als zu verlangen, sofort und für alle Zeiten damit aufzuhören. Falls sich die Logik des ethischen Meliorismus auf das Rauchen übertragen lässt, würde dies bedeuten, dass Rauchen in einem gewissen Sinne als „gut“ gelten kann, auch wenn es „besser“ wäre, weniger zu rauchen, und „am besten“, überhaupt nicht zu rauchen. Aber in welchem Sinne kann Rauchen „gut“ sein? Zumindest in dem Sinne, dass Leute es geniessen zu rauchen, sei es alleine oder in Gesellschaft, wo sie sich nach einem guten Essen eine kubanische Zigarre gönnen. Der ethische Meliorismus von Wolf möchte das Rauchen nicht tout court verurteilen, sondern dazu ermutigen, mit ihm schrittweise aufzuhören.

Der grundlegende Makel des Meliorismus

Es ist fraglich, wie eine Theorie über den moralischen Status von Tieren das grundlegend Falsche am Fleischkonsum erfassen kann, wenn sie dieses Konsumverhalten gleichzeitig als „gut“ bewertet.

Fleischessen und andere Formen der Tiernutzung unterscheiden sich grundsätzlich vom Rauchen, da sie eine Ausbeutung empfindungsfähiger Wesen involvieren. Tatsächlich beruft sich der Meliorismus implizit auf ein Prinzip, welches dazu dienen soll, „gut“, „besser“ und „am besten“ zu messen. Beim Rauchen wird die Empfehlung einer schrittweisen Abkehr von dieser Gewohnheit von der Idee getragen, dass man eigentlich gar nicht rauchen sollte. Genau in diesem (und keinem anderen) Sinne ist Nichtrauchen „am besten“. So betrachtet ist es allerdings höchst fragwürdig, ob Rauchen überhaupt als moralisch „gut“ bezeichnet werden kann.

Wie Denker von Aristoteles bis hin zu Kant betont haben, ist es nämlich eine Sache, etwas zu tun, das einem Genuss und Vergnügen bereitet; eine ganz andere Sache ist es, etwas zu tun, das moralisch vertretbar ist. Wenn wir das Rauchen als „gut“ bezeichnen, so meinen wir das nicht in einem ethischen Sinne. Vielmehr geht es dabei um einen instrumentellen Sinn von „gut“, der aber keinerlei moralische Relevanz hat.

Wenn also Rauchen in einem moralischen Sinne nicht wirklich „gut“ ist, dann kann die Ausbeutung von wehrlosen Lebewesen ohne Sprache a fortiori ebenso wenig moralisch gut sein. Es gibt keinen Sinn, in dem Fleischessen moralisch gut ist, auch wenn der Fleischkonsum für viele Leute, instrumentell gesehen, höchst befriedigend sein mag.

Betrachten wir dazu einige Analogien: Juden ermorden ist „gut“, weniger Juden ermorden (oder sie schneller und/oder weniger schmerzhaft ermorden) ist „besser“ und überhaupt keine Juden ermorden ist „am besten“. Oder: Kinder vergewaltigen ist „gut“, weniger Kinder vergewaltigen (oder sie schneller und/oder weniger schmerzhaft vergewaltigen) ist „besser“ und gar keine Kinder vergewaltigen ist „am besten“. Oder auch: Sklaven besitzen und ausbeuten ist „gut“, weniger Sklaven besitzen und ausbeuten (oder sie netter behandeln) ist „besser“ und überhaupt keine Sklaven besitzen oder ausbeuten ist „am besten“.

Jede dieser Analogien bezieht sich implizit auf ein Prinzip, demzufolge die jeweilige Praxis (Ermordung von Juden, Vergewaltigung von Kindern, Besitz und Ausbeutung von Sklaven) moralisch falsch ist. Unter der Annahme, dass dieses Prinzip Gültigkeit hat, ist es jedoch widersprüchlich, die ursprüngliche Situation als moralisch „gut“ zu beschreiben. Der einzige Sinn, demzufolge es zum Beispiel „gut“ sein kann, Juden zu ermorden oder Kinder zu vergewaltigen, besteht – wenn überhaupt – darin, dieses „gut“ in irgendeiner instrumentellen, ganz und gar nicht-moralischen Lesart zu deuten.

Wen wollen wir eigentlich veräppeln?

Wolf gründet seinen Meliorismus auf der Annahme, dass eine Verbesserung unseres Verhaltens von einem grundlegenden Wandel unseres Rechtsgefühls abhängt. Er ist überzeugt, dass die Berufung auf kategorische Prinzipien und Verbote bloss einen Pessimismus zur Folge hat. Statt uns an unrealistischen Zielen auszurichten – den „am besten“-Szenarien –, sollten wir mit uns selbst vielmehr eine Art Spiel spielen; ein Spiel, bei dem wir so tun, als ob unsere momentanen, kleinen Schritte in Richtung unserer Ziele ausreichend sind.

Die implizite Logik, die dem Ganzen zugrundeliegt, besteht darin, dass wir so tun sollen, als ob wir nicht wüssten, dass Mord, Vergewaltigung oder der Verzehr von Fleisch moralisch nicht vertretbar sind – und dass wir uns damit zufrieden geben, jeweils ein bisschen mehr zu tun als wir ohnehin schon tun.

Tatsächlich aber sollten wir uns niemals damit zufrieden geben, an einer Praxis teilzuhaben, von der wir wissen, dass sie moralisch falsch ist. Moral ist kein Wettbewerb oder Wettrennen. Es geht nicht darum, eine bessere Zeit zu schaffen als beim letzten Mal. Es geht darum, das moralisch Richtige zu erkennen und es zu tun.

Im Fall unseres Umgangs mit Tieren bedeutet das Richtige tun zunächst einmal: Einsehen, dass die Ausbeutung der Tiere grundlegend falsch ist. Daran anschliessend ist der Schritt zum Vegetarismus eine ziemlich offensichtliche Sache. Zumindest gilt das für die meisten – wenn nicht sogar für alle –, die diesen Artikel lesen: Hört hier und jetzt auf, Fleisch zu essen, und tut es nie wieder. Der Schritt zum Veganismus ist weniger einfach, und zwar schlicht deshalb, weil die Tiernutzung derart eng mit unseren kulturellen Gewohnheiten verwoben ist, dass wir über deren Ausmass häufig gar nicht Bescheid wissen.

Das moralisch Falsche an der Tierausbeutung erkennen, heisst aber auch, dass wir dazu verpflichtet sind, uns möglichst ausführlich über die Art und Weise der Tiernutzung zu informieren, damit wir in der Lage sind, die Teilnahme an solchen Praktiken zu verweigern.

Es ist unmöglich, in einer Gesellschaft wie der unsrigen ganz und gar vegan zu leben; unser gesamter Lebensstil gründet in einem schier unermesslichen Ausmass auf der Ausbeutung der Tiere. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir uns damit zufrieden geben sollten, dass weniger Fleischkonsum „besser“ ist als mehr. Diese Art zu denken beschert Fleischessern bloss ein gutes Gewissen. Sie trägt aber nichts dazu bei, das Regime der Tierausbeutung zu beenden.

Meliorismus ist traditioneller Tierschutz

Wenn man Tierethik melioristisch betreibt, sucht man nach einer Möglichkeit, die Unterwerfung von Tieren zum Zwecke menschlicher Bedürfnisse zu rechtfertigen – so etwa im Sinne von: Ja, wir wissen alle, dass der Veganismus in einem noch in ferner Zukunft liegendem, abstrakten Sinne „am besten“ ist; aber weniger Fleisch zu essen oder nur solches Fleisch zu konsumieren, das von Tieren aus „artgerechter“ oder „humaner“ Haltung stammt, macht uns schon mal „gut“ oder vielleicht sogar „besser“.

Wenn wir die missliche Lage der Tiere auf diese Weise betrachten, tun wir nichts, um das Problem der industriellen Tiernutzung anzugehen. Wir geben uns damit zufrieden, dass wir, als einzelne Individuen, etwas „Gutes“ oder vielleicht gar „Besseres“ tun, wenn wir nicht zu McDonald’s gehen. Derweil werden nach Angaben der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) jedes Jahr weltweit 53 Milliarden Tiere allein für die menschliche Ernährung getötet – Fische und andere Meerestiere nicht einberechnet. Dürfen wir uns als „gut“ oder „besser“ bezeichnen, wenn wir unseren Hamburger nur bei Produzenten kaufen, die ihre Tiere „artgerecht“ halten? Immerhin ist es ja nicht so, dass Tiere aus „artgerechter Haltung“ nicht auch getötet werden. Unsere kulinarischen Vergnügen basieren zu einem Gutteil auf der Tatsache, dass wir empfindungsfähige Wesen mit eigenen Anliegen und Bedürfnissen einsperren und töten. Was soll daran „gut“ sein?

Im November 2008 wurde in Kalifornien ein Referendum, „Proposition 2“, verabschiedet. Es sieht vor, dass Tiere, die zum menschlichen Verzehr bestimmt sind, „human“ behandelt werden. Das bedeutet beispielsweise, dass Hühner, die zu Chicken Nuggets verarbeitet werden, in unwesentlich grösseren Käfigen gehalten werden müssen. Proposition 2 wurde mit einer zwei Drittel Mehrheit angenommen, und das in einem Staat, in dem 12 Prozent der US-Bevölkerung leben.

Man könnte demnach meinen, dass ein Grossteil der Leute in meinem Heimatstaat Mitgefühl haben mit Tieren, die sie zu ihrem Nutzen und Vorteil einsperren und töten lassen. Tatsächlich glauben viele, die das Referendum befürworteten, für die Tiere etwas Gutes zu tun, wenn sie sich für „humane“ Haltungs- und Schlachtmethoden einsetzen.

Der Meliorismus begünstigt diese Art von Haltung. Er bestärkt die Leute in ihrem Denken, dass sie etwas moralisch „Gutes“ tun, obschon es in Fällen wie diesen kein „besser“ oder „schlechter“ gibt. Wie Aristoteles bereits sagte: Bei manchen Handlungen gibt es einfach kein „besser“ oder „schlechter“; Ehebruch, Diebstahl und Mord beispielsweise lassen sich nicht „besser“ ausführen (Aristoteles, Nikomachische Ethik: II.6, 1107a9-25). Falls wir derlei tun, tun wir etwas Schlechtes. Sich einzureden, es sei „besser“, weniger Tiere für unseren Genuss zu töten, ergibt genauso wenig Sinn wie wenn ein Spielsüchtiger sich vormacht, er tue etwas „Besseres“, wenn er weniger spielt. An einer solchen Lüge ist nichts Nobles dran.

Meliorismus ist Speziesismus

Wolf ist der Meinung, es sei problematisch, vitale Interessen von Tieren über die Freiheitsrechte menschlicher Individuen zu stellen. Als Beleg führt er an, dass wir uns häufig sogar weigern, Freiheitsrechte den vitalen menschlichen Interessen zu unterwerfen. Beispielsweise würden wir Menschen nicht zu Experimenten zwingen, weil dies eine Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung darstellt.

Allerdings folgt ersteres nicht aus letzterem. Falls wir Tiere als Individuen anerkennen, geht es nicht darum, vitale tierliche Interessen gegen die Interessen von menschlichen Individuen abzuwägen. Vielmehr wägen wir die Interessen unterschiedlicher Individuen gegeneinander ab, wobei manche dieser Individuen Menschen sind, andere Tiere. Wir haben genauso wenig ein moralisches Vorrecht, tierliche Individuen auszubeuten, wie wir ein Recht darauf haben, menschliche Individuen auszubeuten. Im Falle von Menschen können wir unter gewissen Umständen ein wechselseitiges Einverständnis erzielen, welches uns erlaubt, mit ihnen gewisse Dinge zu tun, die wir ohne deren ausdrückliche Genehmigung nicht tun dürften (wir können ihnen z.B. ihr Eigentum wegnehmen). Bei Tieren aber ist es unmöglich, ein vergleichbares Einverständnis zu erreichen, da sie kognitiv sowie sprachlich nicht in der Lage sind, uns eine entsprechende Genehmigung zu erteilen. Daraus sollten wir allerdings nicht schliessen, dass sie damit einverstanden sind, zu unserem Vorteil genutzt zu werden, sondern eher, dass sie es nicht sind (Steiner 2008: 106-108).

Wenn man meint, es sei wichtiger, die Gefühle der Menschen nicht zu verletzten, anstatt die Interessen von Tieren zu respektieren, geht man dogmatisch davon aus, dass wir Menschen den Tieren moralisch überlegen sind. Natürlich zwingen wir andere Menschen nicht zu Experimenten. Die Tatsache aber, dass wir an Tieren experimentieren, ist kein Beleg dafür, dass derlei Praktiken moralisch zulässig sind. Sie zeigt bloss, wie erfolgreich wir Tiere auszunutzen wissen und wie unfähig sie sind, dagegen zu protestieren.

Es trifft zu, dass die meisten Leute die Wahrheit über die Ausbeutung der Tiere nicht hören möchten. Das ist jedoch kein Grund, sie zu verschweigen: Genauso wenig wie wir Menschen ausbeuten dürfen, haben wir ein moralisches Recht darauf, Tiere auszubeuten. Wir benötigen tatsächlich einen Wandel in unserem kollektiven Rechtsgefühl. Die melioristische Politik der kleinen Schritte trägt dazu aber letztlich nichts bei – ausser, dass wir uns „besser“ fühlen, wenn wir Tiere zu unserem Vorteil und Vergnügen nutzen.

Was wir brauchen, ist eine rücksichtslos ehrliche Haltung dem Regime der Tierausbeutung gegenüber. Nur diese Art von Ehrlichkeit hat die Kraft, Menschen dazu zu bewegen, ihre Gefühle, ihre Werte und ihre Gewohnheiten zu verändern. Es geht nicht darum, sich der Gesetzgebung oder anderer Mittel zu bedienen, um die Gesellschaft zu zwingen, mit der Ausbeutung der Tiere aufzuhören. Es geht darum, die Menschen dazu zu bringen, ihren eigenen Widerstand zu überwinden – den Widerstand zu erkennen, dass die Ausbeutung der Tiere grundlegend falsch ist, genauso wie es damals darum ging, den Widerstand zu überwinden einzusehen, dass es falsch ist, sich Sklaven zu halten oder Frauen keine Bürgerrechte einzuräumen.

Wir brauchen einen tiefgreifenden Wandel in der Art, wie wir uns hinsichtlich der Ausbeutung der Tiere fühlen. Nur dann können wir gemeinsam eine Gesetzgebung ausarbeiten, die den Tieren einen echten moralischen Status einräumt und ihn wirksam schützt.

Literatur

Bentham, J. (1789), Introduction to the Principles of Morals and Legislation, New York 1948.

Derrida, J. (1991), „‚Eating Well‘, or the Calculation of the Subject: An Interview with Jacques Derrida“, in: Who Comes After the Subject?, ed. E. Cadava et al., New York, London.

Derrida, J. & Roudinesco, E. (2004), „Violence Against Animals“, in: For What Tomorrow … A Dialogue, Stanford.

Mill, J. S. (1859), On Liberty and Other Essays, Oxford 1998.

Regan, T. (1983), The Case for Animal Rights, Berkeley.

Singer, P. (1975), Animal Liberation: Die Befreiung der Tiere, Hamburg 1996 (Übersetzung nach der 2. Aufl. 1990).

Steiner, G. (2008), Animals and the Moral Community, New York.

Wolfe, C. (2003), Animal Rites: American Culture, the Discourse of Species, and Posthumanist Theory, Chicago, London.

Aus dem Amerikanischen von Florian Wüstholz und Klaus Petrus. Die Übersetzung wurde von Gary Steiner autorisiert.

Gary Steiner ist Professor für Philosophie an der Bucknell University (USA) und Autor u.a. von Anthropocentrism and Its Discontents (2005) und Animals and the Moral Community (2008).

Lesen Sie auch das Interview, das Klaus Petrus von tier-im-fokus.ch (tif) mit Gary Steiner geführt hat: „Wir sollten willens sein, Verantwortung zu übernehmen“.

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