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Mensch & Tier

Traditioneller Tierschutz, radikaler Tierschutz und der ethische Meliorismus

In seinem Artikel erklärt der renommierte Tierethiker Jean-Claude Wolf, weshalb wir einen Mittelweg brauchen zwischen traditionellem Tierschutz und der radikalen Forderung nach Abschaffung der Tierausbeutung. Sein Vorschlag: eine Moral des gut, besser, am besten. Was eine durchaus kontroverse Sache ist, wie die Kommentare zu Wolfs Beitrag zeigen:

Text: Tier im Fokus (TIF)

Gut, besser, am besten? Eine Kontroverse

In seinem Artikel erklärt der renommierte Tierethiker Jean-Claude Wolf, weshalb wir einen Mittelweg brauchen zwischen traditionellem Tierschutz und der radikalen Forderung nach Abschaffung der Tierausbeutung. Sein Vorschlag: eine Moral des gut, besser, am besten. Was eine durchaus kontroverse Sache ist, wie die Kommentare zu Wolfs Beitrag zeigen:

Traditioneller und radikaler Tierschutz

Traditioneller Tierschutz stellt den Status von Tieren als Eigentum nicht grundsätzlich in Frage; vielmehr versucht er, Eigentum an empfindungsfähigen Lebewesen von Eigentum an Sachen zu unterscheiden, indem das Verfügungsrecht durch das Verbot der Grausamkeit eingeschränkt wird.

Dieses Vorgehen mag pragmatisch und politisch betrachtet Vorteile haben, doch es hat auch den Nachteil, dass systemische Nebenwirkungen der Behandlung von Tieren als Waren nicht als solche erkannt und bekämpft werden. Man könnte diese Art von Tierschutz auch als Symptombekämpfung bezeichnen. Überdies gehen die Wahrnehmungen weit auseinander, was als Grausamkeit wahrgenommen und bewertet wird: ob nur absichtliche und direkte Zufügung von Leiden, oder auch das bloße Inkaufnehmen von Leiden.

Angesichts der für das Wohl und Leben von Tieren schädlichen Nebenwirkungen eines Systems von Eigentumsrechten an Tieren drängen sich zwei radikale Formen des Tierschutzes auf: die Strategie der Abolitionisten, d.h. die Aufhebung des Systems von Eigentumsrechten an Tieren, oder die Strategie der Ausweitung von Eigentumsrechten an Tiere. Nach der zweiten Strategie werden auch Tiere als Eigentümer in einem elementaren Sinne betrachtet, und eine Reihe von Schutzrechten wird als Eigentumsrechte gedeutet oder aus ihnen abgeleitet.

Abolitionismus

Die erste Strategie, der Abolitionismus, orientiert sich an gewissen Konzepten von Befreiungsbewegungen und geht in die gleiche Richtung wie jene der Abschaffung der Sklaverei (vgl. Francione 2000).

Unterwerfung, Gewalt und Instrumentalisierung sollen als solche überwunden werden. Allerdings geht es im Kontext einer advokatorischen Ethik, in der sich Gruppierungen von Menschen stellvertretend für die Tiere selber wehren und durchsetzen müssen, nur darum, die menschlichen Neigungen zur Beherrschung, Gewalt und Unterwerfung zu begrenzen, und nicht so sehr darum, den Tieren Gelegenheit zu einer Befreiung und Selbstbestimmung anzubieten. Die schwache Analogie zu Befreiungsbewegungen könnte allenfalls darin bestehen, einige Tiere unter Wildnis- oder Prozessschutz zu stellen. Die Analogie mit der Sklavenbefreiung bleibt jedoch schwach.

Tierbefreier (sog. Abolitionisten) stehen überdies unter dem Generalverdacht der Missachtung der bestehenden Rechtsordnung. Wer sich in der Praxis gegen Eigentum an Tieren als solches richtet, wird von der Mehrheit der Menschen als Feind der Eigentumsordnung wahrgenommen. So lange Tiere als Eigentum gelten, sind „Tierbefreier“ radikale und gefürchtete Randfiguren; deren Aktionen werden als „terroristisch“ empfunden. Zwischen Tierbefreiern und Eigentümern von Tieren besteht ein potentieller Bürgerkrieg, denn Kompromisse und Anpassungen sind kaum möglich. Ob der „Terrorismus“ der Tierbefreier nur eine Konstruktion der Mehrheit der Gesellschaft ist oder ob diese als Minderheit tatsächlich zu Terroristen und „moralischen Fanatikern“ werden (müssen), ist nicht einfach zu entscheiden. In letzter Instanz geht es um die Frage, wie man mit dem Konflikt zusammenleben kann, der aus folgendem Dissens resultiert:

Für die Mehrheit ist die Nutzung von Tieren als Eigentum eine moralische Selbstverständlichkeit; für eine Minderheit handelt es sich dabei um Formen der Ausbeutung, Sklaverei und des Massenmordes.

Tiere als Eigentümer

Die zweite Strategie anerkennt Tiere als Eigentümer. Sie knüpft dabei an jene Erklärungen oder Rechtfertigungen an, welche von Cicero bis Locke und Hegel das Repertoire der Argumente für Eigentum ausmachen: Selbsteigentum an Körper, Organen und dem eigenen Leben, Eigentum durch erste Besetzung und Gestaltung der Umwelt, durch Gebrauch und Markierung von Dingen und Orten, die in menschlichen Verhältnissen in vertraglichen Fixierungen kulminiert. Die positiv-rechtliche Bestätigung erfolgt so betrachtet nachträglich und setzt bereits natürliche oder naturrechtliche Eigentümer voraus.

Auch in diesem Vergleich zwischen Menschen und Tieren als Eigentümern kann es sich nur um einen approximativen Vergleich handeln. Die inhärenten Probleme und Kontroversen der Eigentumstheorien lassen sich nicht ausklammern. Derart umstrittene und im Detail komplexe Theorien wie die Theorien zur Begründung von Eigentum tragen deshalb nicht viel bei zu einer politisch durchsetzbaren Konsolidierung der Auffassung von Tieren als Eigentümern.

Immerhin wird mit dieser zweiten Strategie die Intuition bedient, auf die sich jene Tierschützer und Tierbefreier stützen, die den Slogan plakatieren: „Mein Pelz gehört mir.“ Tiere als Eigentümer sind zu verstehen als Lebewesen mit einem eigenen Zweck und einem eigenen Wert, der unabhängig ist von menschlichen Verwertungsinteressen. Eigentumsrechte funktionieren so betrachtet wie „normative fences“ (vgl. Waldron 1986: 377) oder logische Räume für die Begründung und Bestätigung von spezifischen Schutzrechten gegenüber den Begehrlichkeiten der Menschen.

Haben Tiere spezifische Schutzrechte, können diese nicht mehr einfach mit dem Appell an menschliche Bedürfnisse relativiert oder eingeschränkt werden. Lust auf Abwechslung im Geschmack oder der Konsistenz von Mahlzeiten oder Traditionen des Genießens sind nicht geeignet, um echte Schutzrechte zu brechen.

Entfernung vom moralischen common sense

Abolitionismus und Ausweitung von Eigentumsrechten auf Tiere führen weit weg vom moralischen common sense bezüglich der ethischen Behandlung von Tieren.

Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass ein wichtiger Faktor der Kohäsion einer Gruppe ihre Verachtung für jene ist, die nicht dazu gehören. Die einzige Gemeinsamkeit der Menschen, was sie gerade noch als grosse Familie zusammenhält, scheint ihr Stolz zu sein, Menschen – und keine Tiere zu sein. Der gemeinsame Nenner ist der species bias, die Neigung zur Bevorzugung der eigenen Spezies.

Common sense ist zwar keine unfehlbare moralische Autorität, doch eine Voraussetzung eines mehr oder weniger friedlichen Zusammenlebens der Menschen.

Die Frage, worüber sich Menschen einig sind und worüber sich Einigkeit und Zustimmung erreichen lässt, bleibt für die Politik wichtig, sofern sie nicht in Despotie oder Diktatur abgleiten soll. Die Frage der Übereinstimmung wird politisch immer dringender, je mehr radikal abweichende Splittergruppen es in einer Gesellschaft gibt, welche die Mehrheit mit der Zumutung konfrontieren, den Lebensstil zu ändern.

Wie lässt sich vermeiden, dass eine Rechtsgemeinschaft auch angesichts tiefer moralischer Uneinigkeiten nicht zerbricht? Sind es die Tiere wert, dass die Menschen ihnen ihren Rechtsfrieden opfern?

Der ethische Meliorismus

Gut, besser, am besten? © tier-im-fokus.ch (tif)

Ein möglicher Ausweg besteht im ethischen Meliorismus. (Ich verwende diesen Begriff in Erinnerung an den amerikanischen Philosophen William James.) Für den Meliorismus gibt es nicht nur gut und böse, sondern auch gut, besser und am besten.

Der Meliorismus anerkennt die moralische Superiorität der Ziele der Tierbefreiung, der Abschaffung von Eigentum an Tieren, ohne deren direkte oder gar gewaltsame Umsetzung zu befürworten. Änderungen der Eigentumsordnung brauchen Zeit und werden manchmal durch nicht-moralische Faktoren begünstigt, z.B. durch gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Veränderungen. Die Sklaverei hat sich zum Teil als ökonomisch ineffizient selber abgeschafft. Sie hat sich aber auch immer wieder in neuen Formen und unter anderen Etiketten etabliert.

Was die Aufgaben der Kritiker – Theoretiker und Aktivisten – betrifft, so gilt die Maxime: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“ Der moralische Meliorismus beurteilt kleine Schritte im Tierschutz als gut („besser als nichts“) und große Veränderungen und Umstellungen als besser. Nach der melioristischen Auffassung gilt z.B. folgende Stufenleiter: Menschen, die wenig Fleisch essen, sind gut, Laktovegetarier sind besser, Veganer am besten.

Ermutigen statt kriminalisieren

Ethischer Meliorismus gibt guten Handlungen eine kleine Anerkennung, ein komparatives Lob (gut ist besser als schlecht), in das sich auch ein kleiner Tadel mischen kann (das Bessere ist des Guten Feind). Etwas kann besser sein relativ zu Vergleichsgruppen – Menschen, die wenig Fleisch essen in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit täglich Fleisch konsumiert. Etwas kann besser sein relativ zu früheren Lebensphasen – z.B. die Lebenssituation einer Person, die aufgehört hat, täglich Fleisch zu essen und nur noch zweimal pro Woche Fleisch isst.

Die Ermutigung des Meliorismus besteht darin, dass er versucht, der Neigung zum Pessimismus angesichts der vergangenen und gegenwärtigen Tierleiden zu widerstehen, ohne dem Optimismus zu verfallen. Der Optimismus geht zu weit, wenn er glaubt, die Menschen würden sich in (naher) Zukunft zu vollkommenen Altruisten entwickeln.

Der Meliorismus zieht ein ermutigendes Lob einer vernichtenden Kritik vor. Er will nicht die Rivalitäten unter den Tierschützern schüren, sondern sie im Feldzug gegen die Massenkultur vereinen und stärken.

Freundliche Selbstüberlistung statt strenge Verbote

Aus der Sicht des Meliorismus empfehlen sich gewisse Verfahren, wie man von „schlechten Gewohnheiten“ loskommt. Wenig hilft es, dass ich mir sage: „Heute rauche ich noch eine Zigarette, morgen werde ich damit definitiv aufhören.“ Diese Strategie errichtet ein strenges Verbot für den Rest meines Lebens. Wirksamer ist der folgende Monolog: „Heute verzichte ich auf eine Zigarette – vielleicht morgen wieder.“ Ich verbiete es mir nicht für alle Zukunft, aber ich vertröste mich auf morgen oder übermorgen.

Wer diese Strategie jeden Tag erneut anwendet, ist – ohne es direkt anzustreben – beinahe „clean“. Ausnahme und Regel werden umgekehrt. War bisher das Fleischessen die Regel und der Vegetarismus die Ausnahme, so wird nun das Fleischessen die Ausnahme.

Ähnliche Formen der freundlichen Selbstüberlistungen könnten uns von schlechten Essgewohnheiten abbringen, die sowohl der Gesundheit als auch der Umwelt und dem Wohl der Tiere schaden. „Heute brauche ich das nicht“ heißt nämlich so viel wie „eigentlich brauche ich das nicht“. Es ist eine Form der Autosuggestion, die nicht in der Gestalt eines Verbots und einer asketischen Heldentat auftritt.

Der Meliorismus trägt auch der Tatsache Rechnung, dass es realistischer ist, jüngere Menschen dazu zu ermutigen, ihr Leben zu ändern, als älteren Menschen einzureden, sie hätten in ihrem bisherigen langen Leben alles falsch gemacht.

Der Meliorismus als Beitrag zur Humanisierung des moralischen Wettbewerbs

Wenn wir unterscheiden zwischen einem ersten, zweiten und dritten Platz im moralischen Wettkampf, dann humanisieren wir diesen Wettkampf.

Es gibt darin nicht nur Gewinner und Verlierer, sondern es gibt neben der Goldmedaille auch eine Silber- und eine Bronzemedaille. Der Meliorismus verzeichnet die Licht- und Schattenseiten der drei Stufen der Reduktion von Fleischkonsum.

Auf der ersten Stufe besteht noch ein enger Zusammenhang mit dem moralischen common sense der Mehrheit, dass die (schmerzlose) Tötung von Tieren moralisch erlaubt sei und der Fleischkonsum nicht per se kriminalisiert werden sollte. Mit dieser Einstellung einer Kritik ohne Verteufelung des Fleischkonsums wird die Konvivialität von Vegetariern und Nicht-Vegetariern einfacher.

Dies trifft zum Beispiel auf das Familienleben zu: Kinder, die sich gegen den Vegetarismus ihrer Eltern entscheiden, werden nicht von der Tischgemeinschaft ausgeschlossen. Der Vegetarismus soll nicht zu Familienzerwürfnissen und einem permanenten Kleinkrieg im Privatleben führen.

Trotzdem bleibt der „stille Vorwurf des guten Vorbilds“ bzw. der Anreiz, über den Fleischkonsum nachzudenken und sich als Karnivore unter Vegetariern zu schämen. Ob es sinnvoll und legitim ist, Kinder zum Ekel vor dem Genuss von „Tierleichen“ zu konditionieren, mag dahingestellt bleiben.

Licht und Schatten des traditionellen und des radikalen Tierschutzes

Der Meliorismus ist nicht identisch mit dieser ersten Stufe des Tierschutzes. Vielmehr hält er auch deren Mängel fest. Ein Nachteil der Reduktion des Fleischkonsums ist ein Mangel an Konsequenz und Kohärenz sowie die permanente Versuchung, den Fleischkonsum wieder zu steigern und dem Konformitätsdruck des Massenkonsums zu erliegen.

Durch eine sichtbare Präsenz von Vegetariern und Veganern entsteht ein Stachel zur Problematisierung, ein Anreiz zur Debatte und zur Bewusstseinsbildung. Dies trifft in erhöhtem Masse auf die Wirkung des Veganismus zu. Das bloße Wissen um die Existenz des moralisch Besseren. Dieser Stachel kann als Motivation zur Aufklärung und Überzeugungsarbeit genutzt werden.

Die Schattenseiten der konsequenteren und radikaleren Haltung bestehen in einer Moralisierung des Alltags („Hypermoral“), in der Bagatellisierung von echten Wertkonflikten (wie z.B. der völligen Abwertung der Privatsphäre zur möglichst effizienten Kontrolle des Konsumverhaltens), in einer Tendenz zur subkulturellen Abschottung und einem Rückzug in sektierische Stützgruppen, in denen Widerspruch und abweichende Meinung nicht mehr geduldet werden.

Der hohe Stellenwert von menschlichen Freiheitsrechten

Freiheitsrechte werden oft höher gewertet als vitale Interessen anderer Menschen; so wird z.B. das Interesse von Menschen, nicht ohne ihre Zustimmung gefährlichen Humanexperimenten durch künstliche Ansteckung mit Krebs unterworfen zu werden, höher bewertet als das vitale Interesse an wirksamen Krebsmedikamenten. Angesichts dieser Gewichtungen erscheint es problematisch, Freiheitsrechte von Menschen unter Berufung auf vitale Interessen von Tieren zu brechen.

Der Meliorismus erfüllt die Aufgabe, alle diese Licht- und Schattenseiten im Auge zu behalten und keine der Optionen als den einzigen Heilsweg zu verabsolutieren oder zu kriminalisieren. Das Strafrecht wäre ein stumpfes Instrument in einem Kontext, wo zum Teil das elementare Unrechtbewusstsein fehlt. Es ist mit anderen Worten die Aufgabe, Widersprüche zu reflektieren, auszuhalten und den Weg vom Guten zum Bessern und Besten immer wieder klar vor Augen zu führen.

Unparteilichkeit – die Kluft zwischen Urteil und Motivation

In der üblichen und verbreiteten Auffassung von Tieren als Eigentum steckt eine radikale Asymmetrie, die nicht vereinbar ist mit der strikten Unparteilichkeit des moralischen Standpunktes.

Die Auffassung, Tiere seien nur Eigentum und könnten nicht als Träger von moralischen und gesetzlichen Rechten betrachtet werden, bringt eine Parteilichkeit des „Speziesegoismus“ zum Ausdruck. Ihr entspricht eine Form des kategorischen Ausschlusses von allen Wesen, die nicht zur Spezies homo sapiens gehören, aus dem Kreis der moralisch erwägenswerten Wesen. Die Parteilichkeit und Willkür dieses Ausschlusses wird uns gelegentlich bewusst, besonders dann, wenn keine unmittelbaren Interessen von Verwertung im Spiel sind.

Unparteilichkeit ist die Frucht des Nachdenkens „in a cool hour“ (Joseph Butler), eines Urteils unter Bedingungen einer empathischen Äquidistanz zu allen Lebewesen, deren Interessen wir erkennen können.

Unparteiisch betrachtet zählt ein Interesse an Vermeidung von schweren Schmerzen unabhängig davon, ob es das Interesse eines Menschen oder eines Tieres ist.

Die Forderung der Unparteilichkeit steht an der Spitze mancher Moraltheorie. Sowohl für den Utilitarismus als auch für Kant ist der moral point of view durch Unparteilichkeit charakterisiert. Unparteilichkeit bildet den Anstoß zum Abolitionismus und zur zweiten Strategie, die darin besteht, das natürliche Recht auf Eigentum auf Tiere anzuwenden.

Unparteiisches Verhalten ist selten

In der Praxis, auf der Ebene der Handlungen und der moralischen Motivation, sind wir jedoch meist weit entfernt von dieser Unparteilichkeit.

Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem, was Menschen sagen, ihren Lippenbekenntnissen, und dem, was sie tun, und es besteht ebenfalls eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen der Beurteilung des Verhaltens anderer und der Beurteilung des eigenen Verhaltens.

Kants Postulat, dass wir können, was wir sollen (oft als „ought implies can“ zusammengefasst), ist problematisch und wurde z.B. in der Tradition des Calvinismus abgelehnt, und zwar als eine Parole der Überheblichkeit und Selbstüberschätzung des Menschen nach dem Sündenfall.

Man braucht aber nicht so weit wie die Calvinisten zu gehen und kann sich auf die Beobachtung stützen, wie das Montaigne in seinem Essay De la vanité tut. Nüchtern betrachtet können/wollen wir oft genug nicht tun, was wir tun sollten. Wir überschätzen unseren Wert und stabilisieren das Bewusstsein der Superiorität im Vergleich des Menschen mit dem Tier. Wir sind religiös gesprochen „Sünder“, die zwischen dem Status des Engels und jenem des Tieres oszillieren. Unsere „Größe“ (als die seltene und große Kunst des fairen Urteils) und unsere „fragilité“ (in den Praktiken des Nepotismus, Rassismus, Sexismus, Diskrimination von Fremden und Tieren) liegen nahe beieinander (vgl. Wolf 2003).

Die Last der Pflicht

Die Einführung und Durchsetzung der Befolgung von moralischen Pflichten ist häufig kontraproduktiv – Menschen tun lieber, was sie freiwillig tun dürfen, als was sie unter der Androhung von Sanktionen tun müssen. Spenden ist süß, steuern ist bitter. Deshalb ist der Jargon von Sollen, Pflicht, moralischem Gesetz und Schuld unbeliebt.

Kant, obwohl der bekannteste Pflichtethiker, versucht sogar, alle Pflicht nur auf vernünftige Selbstnötigung zu stützen, externe moralische Autoritäten zu ersetzen durch die einzig mögliche Autonomie bewahrende Autorität, die Autorität der Vernunft. Wie auch immer man Zwang und Kontrolle ersetzt oder abschwächt, sie lassen sich realistischerweise nicht aus dem Bereich der Ethik verbannen. Zwang und Kontrolle sind häufig kontraproduktiv, besonders wenn sie nicht mit einem Wandel im Rechtsgefühl verbunden sind. Sie erzeugen Trotz und Widerwillen, und sie sind mit hohen Sanktionskosten verbunden, d.h. mit den psychischen Frustrationen und ökonomischen Kosten von Zwang und Freiheitseinschränkungen.

„Die Autorität der Vernunft“ und andere suspekte Metaphern

Das Verhältnis von Ethik und Sanktionen erweist sich als überraschend komplex. Eine scheinbar simple Lösung besteht darin, Ethik völlig von Sanktionen zu trennen, wie das z.B. Immanuel Kant vorgeschlagen hat, doch der Preis dieser Separation ist hoch.

Ethik beruht demnach lediglich auf „Selbstzwang“, und dieser „zwanglose Zwang“ (oder dieses „sanfte Joch“) geht von der Vernunft allein aus. Die Berufung auf die Autorität der Vernunft ist der Appell an eine Autorität, die keine ist, an eine geschlechtsneutrale und speziesneutrale Instanz, die nirgends existiert. Was wäre das für eine Instanz oder für eine Macht, die weder Mensch noch Tier ist?

Wäre es Gott oder ein göttlicher Hybride, teils Mensch, teils Gott? Oder spalten sich Personen auf in ein besseres Selbst, das ihr schlechteres Selbst „nötigt“?

Herkunft, Status und Geltung der Unparteilichkeitsnorm sind obskur und verlieren sich in einem Schwarm von Metaphern wie „Reinheit“, „Autorität der Vernunft“,“Selbstzwang“, „moralisches Gesetz“, „kategorischer Imperativ“ usw. Kant glaubt, das moralische Gesetz sei ein ungeschriebenes Gesetz, das gleichsam darauf wartet, als „Faktum der Vernunft“ entdeckt zu werden.

Keine Ethik ohne Perspektiven auf die Umsetzung

Es ist zwecklos, ein „Nacktes Sollen“ oder einen Katalog angeblich objektiver moralischer Pflichten zu deklarieren, wenn es keine schrittweise Einführung und Umsetzung dieses Sollens gibt oder wenn die Umsetzung in Politik, Recht und Erziehung völlig im Dunkeln liegt.

Es ist ein schlechter Schachzug, in der Ethik Fragen der Politik, Psychologie und Erziehung auszuklammern. Der ethische Meliorismus baut auf die schrittweise und graduelle Veränderung von Einstellungen und Praktiken, ohne das Fernziel einer Abschaffung von Gewalt aus den Augen zu verlieren. Auch kleine Schritte zugunsten des Wohls von Tieren werden im größeren Spektrum einer Überwindung der Kultur der Gewalt gewürdigt (vgl. Quelquejeu 2010: 59-71), und nicht als bloße Symptombekämpfung abgewertet. Auch viele kleine Schritte zählen in der „moralischen Mathematik“, und sie sind nach der Denkart des Meliorismus „Geschichtszeichen der Hoffnung“, welche gegen Pessimismus und Resignation sprechen.

Literatur

Francione, G. L. (2000), Introduction to Animal Rights: Your Child or the Dog?, Philadelphia.

Quelquejeu, B. (2010): Sur le chemins de la non-violence. Études de philosophie morale et politique, Paris.

Waldron, J. (1986): The Right to Private Property, Oxford.

Wolf, J.-C. (2003): Interspezies-Unparteilichkeit? Kritische Rückfragen in: Tiere beschreiben, ed. A. Brenner, Erlangen.

Foto © tier-im-fokus.ch

Jean-Claude Wolf wurde geboren 1953 in Davos, studierte in Zürich, Bern und Heidelberg Philosophie, Germanistik und Literaturkritik. Doktorat und Habilitation an der Universität Bern. Seit März 1993 ist er Ordinarius für Ethik und politische Philosophie an der Universität Freiburg, Schweiz. Er gehört zu den renommiertesten Tierethikern im deutschsprachigen Raum. In seinem Buch Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere (2. Aufl. 2005) präsentiert er die wichtigsten philosophischen Argumente für und gegen die Anerkennung grundlegender Rechte für Tiere; dazu auch sein Artikel Argumente pro und contra Tierrechte (Information Philosophie 3/2008) sowie ein Vortrag (Video) zum selben Thema. Wolfs Arbeitsgebiete sind ausserdem Ethik, Rechtsphilosophie, Utilitarismus, Liberalismus, philosophischer Pragmatismus, Spinoza, Kant, Schopenhauer und Nietzsche.

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1 Kommentar

Karin Hilpisch
vor 13 Jahre

Es ist schon aufregend: Immer wenn man denkt, man kenne mittlerweile alle Anläufe des Neuen Tierschutzes (Gary L. Francione), mit der Verwerfung des Abolitionismus einen alternativen Ansatz zu präsentieren, gibt es wieder was Neues. Nach dem populären Modell eines “Kontinuums“ (Martin Balluch, VGT), in dem Tierschutz und Tierrechte die Pole bilden, logisch gesprochen also eines Kontinuums zwischen X und Nicht-X, bereichert Jean-Claude Wolf nun die Diskussion über die Anwaltschaft für Tiere mit seinem “ethischen Meliorismus“. Letzterem zufolge gibt es kein “richtig“ oder “falsch“, sondern nur ein “gut“, “besser“ und “am besten“: eine Stufenleiter im “moralischen Wettbewerb“, der “humanisiert“ werden soll. Auch wenn man wie ich Mensch/ Tier-Analogien im Allgemeinen für wenig hilfreich hält, die moralische Dimension der Tiernutzung zu erhellen, kommt man hier schon in Versuchung, das Modell “gut, besser, am besten“ auf humanethische Fragen anzuwenden (auf die er sie sicherlich nicht angewendet sehen will).

Die von Wolf gewählte, unter Vertretern des Neuen Tierschutzes auch sehr beliebte Gleichsetzung des Konsumierens von Tieren mit dem Rauchen übersieht, dass letzteres eine “schlechte Gewohnheit“, ersteres aber ein Unrecht ist. Vom Rauchen kann man sich durch “freundliche Selbstüberlistung“ oder “Autosuggestion“ entwöhnen; vom Konsumieren von Tieren lässt dauerhaft nur, wer es als das erkannt hat, was es ist: moralisch falsch. Wolfs Vorstoß mutet wie der der verzweifelte Versuch an, einem Unrecht unermesslichen Ausmaßes dadurch abzuhelfen, dass man es umdefiniert: Tiere zu essen (ihr Fleisch, ihre Milch, ihre Eier) ist laut Wolf gut, wenn es wenige Tiere sind; viele zu essen wäre demnach nicht gut, aber davon sprechen wir erst gar nicht, um “der Neigung zum Pessimismus angesichts der vergangenen und gegenwärtigen Tierleiden zu widerstehen.“

Zugleich aber dürfen wir nicht “dem Optimismus .. verfallen“‘, der “zu weit (geht), wenn er glaubt, die Menschen würden sich in (naher) Zukunft zu vollkommenen Altruisten entwickeln.“ Es entspricht dem weit verbreiteten Verständnis von Veganismus, der hier gemeint ist, als “Ideal“, wenn Wolf ihn als vollkommenen Altruismus charakterisiert. Abolitionisten verstehen Veganismus dagegen als moralische Grundlinie, als moralischen Imperativ. Vegan zu leben ist keine “asketische Heldentat“, sondern das, was Menschen Tieren als ihren Mitwesen schuldig sind.

Wenn Wolff ethischen Meliorismus in Abgrenzung vom Abolitionismus als “schrittweise.. Veränderung von Einstellungen und Praktiken“ ohne “eine gewaltsame Umsetzung“ des Ziels, das Eigentum an Tieren abzuschaffen, zu verfolgen, ohne “strenge Verbote“, “Zwang“, “Kontrolle“, “Sanktionen“ darstellt, dann insinuiert er damit ziemlich unverblümt, dass Abolitionismus, den er fälschlicherweise mit “Tierbefreiung“ identifiziert, das Gegenteil dessen, was er befürwortet, repräsentiere. Ich weiß nicht, auf welche Quellen er sich dabei stützt. Der Ausdruck “Abolitionismus“ ist nicht patentrechtlich geschützt. Allerdings dürfte ihm bekannt sein, dass der Begründer und namhafteste Vertreter des abolitionistischen Ansatzes, Gary L. Francione, sich seit vielen Jahren gegen jegliche Gewalt in der Anwaltschaft für Tiere ausspricht und für eine Änderung des Leitbildes von Tieren als Eigentum, was nicht durch Verbote, Zwang, Sanktionen geschehen kann, selbst wenn es in irgendeines Abolitionisten Macht läge, diese auszuüben. Francione hat zu keiner Zeit einen Zweifel daran gelassen, dass die Änderung der Einstellung Tieren gegenüber schrittweise durch das friedliche Werben für Veganismus erfolgen muss. Gänzlich ungeniert stellt Wolf das von Francione vertretene Recht von Tieren, kein Eigentum zu sein, neben die “Ausweitung von Eigentumsrechten auf Tiere“, die nichts mit dem abolitionistischen Ansatz zu tun hat, als zwei “radikale Formen des Tierschutzes.“ Sollte ihm entgangen sein, dass Abolitionisten Tierschutz radikal ablehnen?

Klar ist, dass es Wolff nicht um eine sachliche Erörterung der von ihm abgelehnten Position zu tun, dessen Vertreter er in einem “potentiellen Bürgerkrieg“ gegen die Eigentümer von Tieren (die den Eigentumsstatus von Tieren aufrechterhalten wollen) begriffen sieht, bereit, für die Tiere den “Rechtsfrieden [zu] opfern“. Und natürlich darf das Attribut “terroristisch“ nicht fehlen, wobei Wolf als wahrer Meister der Anspielung keine direkte Zuschreibung vornimmt, sondern es als nicht einfach zu entscheidende Frage offen lässt, “[o]b der ‚Terrorismus‘ der Tierbefreier nur eine Konstruktion der Mehrheit der Gesellschaft ist oder ob diese als Minderheit tatsächlich zu Terroristen und ‚moralischen Fanatikern‘ werden (müssen).“ Selbst wenn Abolitionismus irgendetwas mit der Vogelscheuche zu tun hätte, als die Wolf ihn zeichnet, finde ich es einigermaßen schwierig, mir einen “Bürgerkrieg“ zwischen einer Gruppe, die eine Minderheit unter den ein Prozent oder weniger ausmachenden Veganern bildet, und dem Rest der Bevölkerung vorzustellen.

Summa summarum bringt Wolfs ethischer Meliorismus nichts wirklich Neues aus dem Lager des Neuen Tierschutzes, nichts als die übliche Verzerrung der gegnerischen Postion und bizarre Vorstellungen von Moral; um derlei als ernstzunehmenden Entwurf einer Anwaltschaft für Tiere auszugeben, muss man schon Professor der Philosophie sein.

Eine satirische Behandlung der Strategie des Neuen Tierschutzes findet sich auf Franciones Blog und in deutscher Übersetzung hier.

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