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Nutztierhaltung

Transhumanismus, Tierversuche und Tierausbeutung

Krebsverseuchte Mäuse, Mastitis-resistente Kühe, federlose Hühner: Unter dem Schlagwort “Animal Enhancement” wird seit Jahren intensiv daran geforscht, die Leistung von Tieren fortlaufend zu “verbessern”. Davon profitieren sollen auch die Tiere selbst, versprechen die Technologen. Doch was ist davon zu halten? Eine Debatte zwischen Arianna Ferrari und Adriano Mannino.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Mit diesem Artikel antwortet Arianna Ferrari auf den Kommentar von Adriano Mannino zu ihrem Artikel „Animal Enhancement: Künftiger Alptraum für Nutztiere?“.
Zuerst möchte ich mich bei Adriano Mannino für den ausführlichen und interessanten Kommentar zu meinem Artikel „Animal Enhancement: Künftiger Alptraum für Nutztiere?“ bedanken. In meinem Gegenkommentar werde ich auf zwei wichtige Punkte seiner Kritik eingehen. Der erste Punkt betrifft das Thema der antispeziesistischen Identität von Transhumanisten und ihre Stellung zu Tierversuchen; der zweite bezieht sich auf die Bedeutung von Pearces Projekt der Abschaffung von Leiden. Ich werde diese beiden Punkte verknüpfen, um zu zeigen, dass die transhumanistische Vision einer vom Leiden befreiten künftigen Gesellschaft von Herrschaftsverhältnissen geprägt und damit für eine bestimmte Interpretation vom Abolitionismus problematisch ist.

Transhumanismus und Tierversuche

Die unzureichende Kritik von TranshumanistInnen und von Pearce an Tierversuchen im Rahmen ihrer technowissenschaftlicher Visionen ist meines Erachtens aus abolitionistischer Sicht ein wichtiger Punkt, der nicht zu ignorieren ist. Selbstverständlich kann Pearce als Utilitarist nicht pauschal gegen Tierversuche argumentieren, sondern er muss vorher eine Kosten-Nutzen-Abschätzung durchführen. Aber er muss dabei durchaus anerkennen, dass die heutigen Kriterien zur Durchführung von Tierversuchen speziesistisch geprägt sind, und ein extremes Maß an Leiden verursachen. Keiner der angeblich „antispeziesistischen“ Transhumanisten hat sich bis jetzt ernsthaft mit dem Thema Tierversuche und Notwendigkeit der verursachten Leiden (um in Zukunft Leiden zu sparen) auseinandergesetzt. Noch wichtiger ist, dass keiner von ihnen in ihren Veröffentlichungen zur Förderung weiterer Forschung im technowissenschaftlichen Bereich auf dieses Thema aufmerksam gemacht hat. Wenn Humanity+ sich wirklich für das Wohlergehen leidensfähiger Wesen durch technowissenschaftliche Entwicklung einsetzten möchte (wie das in Punkt 7 der Transhumanist Declaration steht), dann sollte das dadurch täglich verursachte Leiden auch als problematisch gesehen werden. Außerdem gibt es bis jetzt keine Schrift von TranshumanistInnen, die sich für mehr Forschung im Bereich Alternativmethoden ausgesprochen hat. Alles und noch viel mehr über die Nicht-Thematisierung sämtlicher Themen rund um die Tierausbeutung kann u.a. hier gefunden werden. Interessant ist dagegen die Liste aller Forschungseinrichtungen, die die transhumanistische Vision unterstützen (S. 52). Mit der Gründung einer wissenschaftlichen Stiftung zu Alternativmethoden hätten sie sicherlich viel effektiver konkretes tierisches Leiden verhindern können als mit einer Stiftung zur Anti-Aging-Forschung an transgenen Mausmodellen. Über die Vertretbarkeit einer reinen utilitaristischen Position in Bezug auf Tierversuche möchte ich mich hier nicht ausführlich äußern. Anzumerken ist, dass auch bei einer reinen Kosten-Nutzen-Abschätzung Grenzen gezogen werden können und müssen, wie Pearce selbst betont. Nicht umsonst ist die klinische Forschung im menschlichen Bereich entsprechend geregelt. In einer antispeziesistischen Perspektive sollten dann klinischen Versuche an nicht-menschlichen Tieren auch entsprechend reguliert werden. Leider findet man auch hierzu keinen Kommentar von TranshumanistInnen. Nicht zuletzt ist zu bemerken, dass Pearce explizit Technologien unterstützt, so z.B. die gentechnische Veränderung und Nanotechnologien (auf der molekularen Ebene), die das Leiden und die Tötung vieler anderer Tiere impliziert, wie ich in meinem Artikel betont habe. Pearce behauptet in einem Interview explizit, dass in die Entwicklung von Nanotechnologien sehr wenige Tierversuche involviert sind. Dies ist so nicht richtig, da sich Pearce hier direkt auf „Nanobots“ bezieht, also auf die Nanomedizin, wo wie allgemein in der biomedizinischen Forschung die überwiegende Mehrheit der Verfahren an Tiermodellen getestet wird. TranshumanistInnen spekulieren gerne über mögliche künftige technologische Entwicklungen, die das Leiden reduzieren. Das Leiden der Tiere in der heutigen Forschung ist aber hier und jetzt auf grausame Art und Weise präsent. Wie viele Tiere ist man bereit zu opfern, um künftig vielleicht Leiden zu ersparen?

Tierversuche als System der Ausbeutung

Pearce möchte das Leiden als biologische Fähigkeit durch technowissenschaftliche Entwicklung abschaffen und argumentiert dabei utilitaristisch. Deswegen unterstützt er Ideen wie die Reprogrammierung von Raubinstinkten bestimmter Tiere und spekuliert über eine Zukunft, in der natürliche Habitats komplett unter Monitoring stehen könnten. Wissenschaft und Technologien sind aber menschliche Praktiken, die sich in einem historischen und sozioökonomischen Kontext entwickeln. Die Abstraktion eines utilitaristischen Kalküls stößt an seine Grenzen, wenn man Tierversuche nicht nur als ein Problem der Güterabwägung zwischen geopferten Individuen und möglichen künftigen Nutzen betrachtet, sondern vor allem als System der Ausbeutung. In der wissenschaftlichen Forschung werden Versuchstiere absichtlich gezüchtet, selektiert bzw. gentechnisch hergestellt. Uniformität und Standardisierung der Tiermodelle dienen zur Gewährleistung der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, die ein Hauptkriterium der heutigen experimentellen Forschung ist (wegen der mangelnden Standardisierung ist die klinische Forschung an Menschen viel komplizierter und aufwendiger). Kurz gesagt, bei den Tierversuchen handelt es sich um ein ganzes System, in dem „Versuchstiere“ absichtlich geschaffen und ausgebeutet werden. Deswegen überrascht es vielleicht nicht mehr, dass TranshumanistInnen Stiftungen gründen, die Tierversuche unterstützen. Ihr primäres Ziel ist nicht die Abschaffung der systematischen Ausbeutung von Versuchstieren, sondern die mögliche Abschaffung vom Leiden und anderen biologischen (unangenehmen) Grenzen. Befreit werden soll der Mensch, wie man in den Transhumanismusdefinitionen zweier wichtiger Gründer der Bewegung, Max More und Nick Bostrom, nachlesen kann.

Abschaffung der Ausbeutung, nicht der Leidensfähigkeit!

Zumindest eine wichtige Interpretation von „Abschaffung“, die die Ausbeutung und Gewaltausübung der Tiere als historische und sozioökonomische (politische) Phänomene betrachtet, soll hier erwähnt werden. Speziesismus ist ihr zufolge nicht nur ein ideologisches (metaphysisches) Phänomen, sondern auch eine praktische Realität (wie z.B. der italienische Philosoph Marco Maurizi hervorhebt). „Ausbeutung“ bezeichnet ein Unterdrückungsverhältnis, bei dem ein Partner nicht frei ist: Versuchstiere und Nutztiere sind gute Beispiele, da sie in ihrer eigenen Existenz von anderen (wissenschaftstechnologisches System sowie Industrie und Konsumenten tierischer Produkte) abhängig sind. Ausbeutung hat deswegen mit der Einschränkung der Freiheit und der Individualität zu tun, aber nicht unbedingt mit allen möglichen Formen von Leiden. Pearces Projekt der Modifikation karnivorer Tiere durch Gentechnik erinnert an die Logik der Zuchtselektion: Bei erstem besteht das Ziel in der Abschaffung von Raubtieren; beim zweiten handelt es sich um den ganzen Prozess, der überhaupt zur Idee von „Nutztieren“ sowie von „Tierrassen“ für die unterschiedliche menschliche Nutzung geführt hat. Im Hintergrund steht in beiden Fällen der Gedanke, dass Tiere zur menschlichen Verfügung stehen, bzw. für Pearce, dass nicht-menschliche Tiere anhand menschlicher Vorstellungen von Gut und Böse zu ändern sind und somit ihre Freiheit eingeschränkt wird. Damit wird meines Erachtens Herrschaft auf neue, subtile Art und Weise reproduziert. Nicht umsonst haben Pearce und andere TranshumanistInnen überhaupt kein Problem damit, sich mit tierausbeuterischen technowissenschaftlichen Institutionen der speziesistischen Gesellschaft (Tierversuche) zu alliieren, und sie in Zukunft auch weiter zu unterstützen. Wie schon betont: Hinter den Tierversuchen steht nicht nur das Opfern bestimmter Individuen in Experimenten, sondern ein ganzes System der Ausbeutung. Pearce stellt sich eine Zukunft vor, in der die Existenz leidensfähiger Lebewesen technologisch kontrolliert und damit möglichst leidensfrei ist. Diese Vision ist aber nicht unbedingt die Vision einer herrschafts- und gewaltfreien Gemeinschaft von Menschen und Tieren. Was für ein Leben kann aber ein leidensfähiges Wesen (sei es Mensch oder Tier) haben, wenn es komplett von Leiden befreit wird? Mir scheint, dass leidensfähige Lebewesen (inklusive Menschen) viele andere Interessen außer dem Vermeiden von Leiden haben. Ein gutes Leben bedeutet auch, seine eigene körperliche Integrität bewahrt zu haben, bzw. frei zu sein, sich frei fortzupflanzen, frei nach Lebenspartnern (Familie und Freunde bzw. sozialer Gruppe) zu suchen usw. Abolitionismus als Abschaffung der Ausbeutung und Unterdrückung qua historische und sozioökonomische Phänomene zu konzipieren bedeutet aber keineswegs, alle menschlichen Eingriffe in die Natur als illegitim zu bezeichnen. Das Thema ist jedoch zu komplex, um hier angemessen diskutiert zu werden. Es gibt jedoch große Unterschiede zwischen dem Gedanken, hungernden Wildtieren oder Wildtieren in anderen Konfliktsituationen zu helfen, und der Unterstützung eines wissenschaftlichen Projekts zur Reprogrammierung von Raubtieren. Ich glaube, über die genaue Bedeutung von „Abschaffung“ sollte die abolitionistische Bewegung ernsthaft nachdenken. Hauptmotiv meines ursprünglichen Artikels „Animal Enhancement: Künftiger Alptraum für Nutztiere?“ ist zu betonen, dass es in der abolitionistischen Perspektive zusätzlich zu kritischen Kampagnen gegen Tierversuche auch eine Reflexion über die Ziele der wissenschaftstechnologischen Entwicklung, d.h. über die Zukunft dieser Entwicklung braucht. Meines Erachtens bietet das transhumanistische Projekt keine gute Alternative zu dem heutigen ausbeuterischen technowissenschaftlichen System und läuft Gefahr, das Risiko der Ausbeutung zu reproduzieren. Ich danke Adriano Mannino nochmals für die Anregungen und hoffe, dass diese knappen Anmerkungen zur Stimulierung weiterer Diskussionen dienen.
Arianna Ferrari studierte Philosophie in Mailand und Tübingen und promovierte in Ko-Betreuung zwischen Tübingen und Turin über gentechnisch veränderte Tiere in der Biomedizin. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am KIT/ITAS Karlsruhe. Ihre Schwerpunkte sind Tierphilosophie, Bioethik, Technikphilosophie, Schnittstelle zwischen Ethik und Politik der neuen Technologien und Wissenschaftsphilosophie. Weitere Arbeiten von ihr (Auswahl): Animal Enhancement. Neue technische Möglichkeiten und ethische Fragen (2010); „Technisch verbesserte Tiere, Mensch-Tier-Chimäre und die Überwindung der Mensch-Tier-Dichotomie in der zeitgenössischen Tierphilosophie“, in: Kovács, L. et al. (eds.) (2010): Darwin und die Bioethik. Freiburg: Karl Alber 2011, S. 115-131; Genetically modified laboratory animals in the name of the 3Rs?, in: ALTEX 23 04/2006: 294-307.
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1 Kommentar

Adriano Mannino
vor 12 Jahre

Liebe Arianna, vielen Dank auch dir für diesen interessanten Austausch und besonders für deinen Gegenkommentar. In der Tat: Deine Anmerkungen wirken stimulierend! Ich werde im Folgenden einige Stellen herausgreifen und mir erlauben, sie noch einmal kritisch zu kommentieren. Du schreibst:

«Aber er muss dabei durchaus anerkennen, dass die heutigen Kriterien zur Durchführung von Tierversuchen speziesistisch geprägt sind, und ein extremes Maß an Leiden verursachen. Keiner der angeblich „antispeziesistischen“ Transhumanisten hat sich bis jetzt ernsthaft mit dem Thema Tierversuche und Notwendigkeit der geschafften Leiden (um in Zukunft Leiden zu sparen) auseinandergesetzt.»

Das tut David Pearce voll und ganz und ich glaube, dies auch mit Quellen belegt zu haben. Und das Wort „angeblich“ ist, wenn wir über Pearce sprechen, wirklich unnötig. Wenn er sich nicht absolut gegen Tierversuche ausspricht, dann hat das – wie du auch bemerkst – mit seiner utilitaristischen Ethik zu tun und keineswegs mit Speziesismus. Weiter habe ich nicht behauptet, der Transhumanismus sei notwendig antispeziesistisch. Er sollte das sein (*alle* sollten es sein!), aber klarerweise richtet er seinen ethisch-politischen Fokus auf das menschliche Enhancement. Die Transhumanisten sind – wie alle Bewegungen, die sich um einen Fokus und ein Label gruppieren – ein recht heterogener Haufen. Egoisten, Rechts-Libertarier und Speziesisten können prinzipiell genauso Transhumanisten sein wie Linksliberale, Anarchosozialisten und Tierrechtler (und selbstverständlich auch die –innen). Wichtig ist aber, dass die offizielle Deklaration von Humanity+ in eine *gute* Richtung weist. Das kommt den aktiven Antispeziesisten und Tierrechtlern unter den Transhumanisten zugute, wenn sie sich – was Pearce beständig tut – in der transhumanistischen Community auch für die Sache der Tiere einsetzen. Ich habe bereits erwähnt, dass der vegetarisch-vegane Anteil unter den Transhumanisten weit überdurchschnittlich ist. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass sie in der Regel eine konsequentialistisch-utilitaristische Ethik vertreten, welche die Interessen der nicht-menschlichen Tiere ihrer Sachlogik gemäss genauso berücksichtigen muss wie die Interessen der Menschen. (Ich will in diesem Zusammenhang auch kurz daran erinnern, dass die utilitaristische Tradition von Jeremy Bentham bis Peter Singer historisch massgeblichen Anteil daran hat, dass sich ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Leid der Tiere und unsere ethischen Pflichten ihnen gegenüber entwickelt hat und weiterhin entwickelt. Entsprechend inspiriert ist beispielsweise auch die Global Happiness Organization, die parallel zu „Human Happiness“ auch „Animal Happiness“ und – transhumanistisch – „Future Happiness“ fördern will.) Jedenfalls sind die Transhumanisten (neben den Veganern freilich) die mit Abstand anti-speziesistischste ethisch-politische Gruppe, die ich unterstütze – die politische Linke, die Umwelt- und Degrowth-Bewegung oder die Atheisten, Freidenker und Humanisten bleiben leider (noch) hinter ihnen zurück. Was die Tierversuche konkret betrifft, setzen sich Transhumanisten gelegentlich durchaus mit der Thematik auseinander, wie dieses Beispiel einer nicht unwichtigen transhumanistischen Stimme zeigt. Aber du hast natürlich insofern Recht, als dies viel zu selten und wenn, dann zu wenig intensiv und tief geschieht. Wir arbeiten daran!

«Außerdem gibt es bis jetzt keine Schrift von TranshumanistInnen, die sich für mehr Forschung im Bereich Alternativmethoden ausgesprochen hat.»

Ich zweifle keine Sekunde daran, dass die Begründer von Humanity+, Nick Bostrom und David Pearce, sich einen künftigen Siegeszug der Alternativmethoden (etwa: Gewebezüchtung und digitale Systembiologie) wünschen (müssen!) und ihn auch voll und ganz unterstützen. Dass sie sich in ihren Schriften höchstens am Rande damit befasst haben, mag drei sachliche Gründe haben: Erstens setzen sie andere Prioritäten (was ich ihnen nicht verübeln kann); zweitens sollten auch Tierrechtsaktivisten quantitativ-praktisch und ethisch andere Prioritäten setzen (denn wenn heute überhaupt eine Tiernutzung gerechtfertigt werden kann, dann höchstens eine noch alternativlose medizinische); und drittens sind sie, wie gesagt, Utilitaristen und halten gewisse Tierversuche zum aktuellen Zeitpunkt für unumgänglich.

Im Übrigen gehören die Transhumanisten zu den entschiedensten Befürwortern und Förderern der Systembiologie, der digitalen Simulation unseres Körpers also, die letztlich jede einzelne zelluläre und molekulare Struktur und Interaktion modellieren wird. Die Optimisten unter ihnen sind der Auffassung, dass der Computerversuch den Tierversuch bereits in wenigen Jahrzehnten vollständig ersetzen wird.

Im weiteren Zusammenhang unterstützen sie auch das In-vitro-Fleisch, das die Veganisierung der Weltgesellschaft in absehbarer Zeit wohl massgeblich unterstützen wird. Man geht davon, dass sich der globale Fleischkonsum bis 2050 noch einmal verdoppeln wird. Mir scheint, die In-vitro-Technologie biete den einzigen halbwegs realistischen Weg, diese globale Katastrophe noch zu verhindern. Es bleibt zu hoffen, dass die Technologie den Erwartungen gerecht werden noch in diesem Jahrzehnt (oder gar in diesem Jahr, s. Link!) erste Produkte auf den Markt bringen kann. Und dass die westlichen genauso wie die aufstrebenden östlichen Gesellschaften in der Folge umzuschwenken beginnen – auch unter dem Druck einer erstarkten Tierrechtsbewegung, primär vermutlich aber aus ökonomisch-ökologischen Gründen.

«Mit der Gründung einer wissenschaftlichen Stiftung zu Alternativmethoden hätten sie sicherlich viel effektiver konkretes tierisches Leiden verhindert als mit einer Stiftung zur Anti-Aging-Forschung an transgenen Mausmodellen.»

Das ist möglich. Aber wenn und weil ich das ethische Gewicht dieser Forschung anerkenne, scheint mir dies leider mitnichten evident. Es gilt, wie ich schon ausgeführt habe, zu bedenken, dass die Alterung nichts anderes ist als die kontinuierliche Erhöhung der Krankheits-, Leidens- und Sterbewahrscheinlichkeit auf letztlich 100%. Primär geht es darum, zu erreichen, dass wir (und andere Tiere!), solange wir leben, gesund und möglichst leidfrei leben können – was unmittelbar eine Verlangsamung der Alterung zur Folge hat. Die Anti-Aging-Forschung tut, was die regenerative Medizin schon lange tut, einfach konsequenter.

«Anzumerken ist, dass auch zu einer reinen Kosten-Nutzen-Abschätzung Grenzen gezogen werden können und müssen, wie Pearce selbst betont (und auch hier). Nicht umsonst ist die klinische Forschung im menschlichen Bereich entsprechend geregelt. In einer antispeziesistischen Perspektive sollten dann klinischen Versuche an nicht-menschlichen Tieren auch entsprechend reguliert werden. Leider findet man auch hierzu keinen Kommentar von Transhumanisten.»

Es ist unbestritten, dass die Grenzen viel restriktiver gezogen werden müssen, als sie heute faktisch gezogen werden (und dass die Alternativen mit Hochdruck zu fördern sind). Solange diejenigen, die Tierversuche bewilligen und durchführen, kein Problem darin sehen, sich von unnötig ausgebeuteten und abgeschlachteten Tieren zu ernähren, wird man ihren Abwägungen ethisch auch nicht vertrauen können. Mir scheint, David Pearce fordere in der von mir zitierten Quelle exakt dies: eine strenge Regulierung der klinischen Versuche an nicht-menschlichen Tieren, wie es sie für die menschlichen auch gibt.

«TranshumanistInnen spekulieren gerne über mögliche künftige technologische Entwicklungen, die das Leiden reduzieren würden. Das Leiden der Tiere in der heutigen Forschung ist aber hier und jetzt auf grausame Art und Weise präsent. Wie viele Tiere ist man bereit zu opfern, um künftig vielleicht Leiden zu ersparen?»

Ich bin leider nicht kompetent, die Entwicklung und das Potenzial der Nanotechnologien ethisch im Speziellen beurteilen zu können. Aber hier geht es um einen allgemeineren Punkt: Man erhebt eben (m.E. nicht zu Unrecht) den Anspruch, mehr als nur spekulieren zu können. Nicht wenige Transhumanisten befassen sich wissenschaftlich mit Technologiegeschichte und –prognostik. Grob verkürzt lautet ihr Fazit: Seit dert technowissenschaftlichen Revolution wurde eine „utopische“ Wundertechnologie nach der anderen entwickelt und im grossen Stil umgesetzt. In vielen – wissenschaftlichen wie technologischen – Bereichen sind sogar *exponentielle* Zuwächse festzustellen, gerade in der jüngsten Vergangenheit. Daraus ergibt sich: Wenn eine Technologie keinen etablierten Naturgesetzen widerspricht, die angesichts der aktuellen Datenlage unumstösslich scheinen, dann ist sie möglich. Und dann muss die Frage lauten, *wann* sie kommt, nicht *ob*. (Nicht selten ist dies früher der Fall, als wir erwarten, u.a. weil wir in *linearen* statt *exponentiellen* Schritten denken.) Wenn eine Technologie in einer ethisch gewichtigen Weise eingesetzt werden kann, dann schlägt jeder weitere Tag, der bis zur Anwendung verstreicht, negativ zu Buche. (Zum Beispiel bedeutet jeder Tag, den Aubrey de Grey vertrödelt, hunderttausendfaches Leid und hunderttausendfachen Tod. That’s what keeps him up at night. And it should.) Insofern ist diese *Vielleicht* oft eben keines oder wenn, dann ein viel geringeres, als man sich das zunächst vorstellt. Kommt hinzu, dass eine biomedizinische Technologie, wenn sie einmal entwickelt ist und sich ethisch positiv auswirkt, dies *auf unbestimmte Zeit hinaus* tut und damit *unbegrenzt viele Individuen* vor Leid und Tod bewahren kann. Insofern ist oft sehr wahrscheinlich, ja praktisch garantiert, dass die ethische Kosten/Nutzen-Abwägung aufgehen wird. Es kommt dann darauf an, die Kosten bestmöglich zu reduzieren, im Idealfall auf null.

«Die Abstraktion eines utilitaristischen Kalküls stößt an seine Grenzen, wenn man Tierversuche nicht nur als ein Problem der Güterabwägung zwischen geopferten Individuen und möglichen künftigen Nutzen betrachtet…»

Der Klarheit halber und um der utilitaristischen Ethik gerecht zu werden, die (m.E. zu Unrecht) als oft als kalter Kalkül abgetan wird, der Individuen einer abstrakten Grösse opfere, müsste es hier heissen: „und einer (vermutlich viel) grösseren Zahl an künftigen, aufgrund unserer heutigen Unterlassung ansonsten ebenso geopferten Individuen…“

«…sondern vor allem als System der Ausbeutung.»

Aber warum ist Ausbeutung denn ein ethisches Problem? Doch wohl, weil sie empfindungsfähige Individuen schädigt, weil sie Leid verursacht, weil sie Bedürfnisse missachtet und unterdrückt und (allenfalls) tötet. Wenn nichts davon gegeben ist, kann kaum mehr von „Ausbeutung“ die Rede sein, zumindest nicht in einem ethisch negativen Sinne, den man noch vernünftig (bzw. ohne „Moralmythologie“, wie ich zu sagen pflege) begründen könnte. Und insofern ist der Utilitarismus auch voll und ganz in der Lage, das Problem der Ausbeutung zu erfassen. Von der Deontologie unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht kategorisch ausschliesst, dass sie unter unglücklichen Umständen als das *geringere Übel* gerechtfertigt, ja (leider) geboten sein kann.

«Uniformität und Standardisierung der Tiermodelle dienen zur Gewährleistung der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, die ein Hauptkriterium der heutigen experimentellen Forschung ist (wegen der mangelnden Standardisierung ist die klinische Forschung an Menschen viel komplizierter und aufwendiger). Kurz gesagt, bei den Tierversuchen handelt es sich um ein ganzes System, in dem „Versuchstiere“ absichtlich geschaffen und ausgebeutet werden.»

Wie sollte es denn anders sein? *Wenn* man schon Tierversuche durchführt, dann wird man sie doch hoffentlich so organisieren, dass sie effizient sind und die riesigen ethischen Kosten, die sie bedeuten (und deren Tragweite eine speziesistische Gesellschaft nicht erfassen kann), dennoch möglichst tief gehalten werden. Wenn man die Tierversuche nicht kategorisch und unter *allen* denkbaren Umständen ablehnt (was mir ethisch unmöglich scheint), dann lautet die entscheidende Frage: Verursacht dieses System bei den Betroffenen Individuen tatsächlich weniger Leid, als es bei anderen verhindert? Wenn die Antwort für alle Teilbereiche negativ ausfällt, schaffen wir sie alle ab. Wenn sie hingegen zumindest für einige Teilbereiche positiv ausfällt (was sie m.E. aktuell leider tut), erhalten wir diese und versuchen nach Kräften, die ethischen Kosten zu senken, letztlich auf null. Aus diesem Grund sind die Tierversuchsgegner politisch auch (so oder so) zu unterstützen: Sie erzeugen einen positiven und dringend notwendigen Druck.

Und ohne hier wirklich in die Debatte um den Utilitarismus einsteigen zu können, will ich doch noch anmerken: Wer Tierversuche unter wirklich *allen* Umständen ablehnt – also auch dann, wenn ihre lebensrettende und unter dem Strich leidmindernde Wirkung feststünde – scheint punkto Ernährung ethisch auf dasselbe festgelegt zu sein. Selbst wenn unsere Leben dadurch geretten werden könnten und die insgesamt leidmindernde Wirkung gegeben wäre, dürften wir kein einziges Tier zu Nahrungszwecken schädigen und töten.

Zudem ist die Bewertung der Ziele des Transhumanismus unabhängig von der Tierversuchsfrage vorzunehmen. Eine deontologische Position könnte z.B. Tierversuche unter allen Umständen ablehnen, den Transhumanismus an sich aber trotzdem befürworten.

«Ihr primäres Ziel ist nicht die Abschaffung der systematischen Ausbeutung von Versuchstieren, sondern die mögliche Abschaffung vom Leiden und anderen biologischen (unangenehmen) Grenzen. Befreit werden soll der Mensch, wie man in den Transhumanismusdefinitionen zweier wichtiger Gründer der Bewegung, Max More und Nick Bostrom, nachlesen kann.»

Wie bereits gesagt, ist die ethische Grundlagentheorie der meisten Transhumanisten eine Variante des Konsequentialismus bzw. konkreter des Utilitarismus. Das gilt sowohl für More als auch für Bostrom. Dieser ethische Ansatz ist a) offensichtlich unvereinbar mit dem Speziesismus und hält b) jede Form der Ausbeutung bzw. allgemein der Schädigung empfindungsfähiger Wesen für ein Übel, das es bestmöglich zu minimieren und, falls es unnötig ist oder wird, gänzlich abzuschaffen gilt. Daraus, dass jemand seinen Arbeitsfokus auf den Transhumanismus legt, folgt nicht, dass es ihm *nur* um die (biologische und soziale) Befreiung des Menschen geht oder dass sein Ziel mit der Befreiung aller anderen Tiere unvereinbar wäre. (Oder ist es etwa ein Argument gegen soziale und grüne Politik, gegen Religionskritik und Humanismus, gegen Kinder-, Frauen- und Menschen- und Bürgerrechtsaktivismus, dass der Fokus jeweils nicht auf der Tierbefreiung liegt? Und wo wir bei der sozialen Politik sind: Max More hat den Extropismus initiiert, eine anarchosozialistische Strömung des Transhumanismus. Aber wir *haben* ja sogar einen Transhumanisten (oder besser: Transanimalisten), der sich schwerpunktmässig auch um die Befreiung der Tiere und die Veganisierung der Welt kümmert: David Pearce, seines Zeichens neben Nick Bostrom der Gründer der World Transhumanist Association WTA, heute Humanity+! Doch bleiben wir bei Bostrom, der hier eine Übersicht über transhumanistische Werte gibt (runterscrollen zur Tabelle). Am Textende liest man:

“Transhumanism advocates the well-being of all sentience, whether in artificial intellects, humans, and non-human animals (including extraterrestrial species, if there are any). Racism, sexism, speciesism, belligerent nationalism and religious intolerance are unacceptable. In addition to the usual grounds for deeming such practices objectionable, there is also a specifically transhumanist motivation for this. In order to prepare for a time when the human species may start branching out in various directions, we need to start now to strongly encourage the development of moral sentiments that are broad enough encompass within the sphere of moral concern sentiences that are constituted differently from ourselves.”

Und den im Zusammenhang mit dem Leid der „Wildtiere“ bereits zitierten Golden Retriever (futuristisches Uplift- und Mind-Upload-Setting) lässt Bostrom u.a. festhalten, dass unser Umgang mit den nicht-menschlichen Tieren ungerecht und diskriminierend sei. Die einzige ethisch (vielleicht) vertretbare Herstellung von Tierprodukten wäre so ausgestaltet, dass man den Tieren ein sozial wirklich bedürfnisgerechtes, gutes Leben gewährte und es am Ende ihrer natürlichen Lebenszeit schmerzfrei beendete (was ihnen auch noch Leid ersparen könnte).

«Zumindest eine wichtige Interpretation von „Abschaffung“, die die Ausbeutung und Gewaltausübung der Tiere als historische und sozioökonomische (politische) Phänomene betrachtet, soll hier erwähnt werden.»

Der Transhumanismus unterstützt diese Abschaffung – sonst würde er eklatant gegen seinen Grundsatz der Förderung des „well-being of all sentience“ und das (u.a.) von Bostrom ausgeführte Gebot der Nicht-Diskriminierung verstossen. Möglich ist allerdings, dass er gewisse Übel tempörär als aller Wahrscheinlichkeit nach geringeren zulässt.

«Pearces Projekt der Modifikation karnivorer Tiere durch Gentechnik erinnert an die Logik der Zuchtselektion: bei erstem ist das Ziel die Abschaffung von Raubtieren; beim zweiten handelt es sich um den ganzen Prozess, der überhaupt zur Idee von „Nutztieren“ sowie von „Tierrassen“ für die unterschiedliche menschliche Nutzung geführt hat. Im Hintergrund steht in beiden Fällen der Gedanke, dass Tiere zur menschlichen Verfügung stehen, bzw. für Pearce, dass nicht-menschliche Tiere anhand menschlicher Vorstellungen von Gut und Böse zu ändern sind und damit ihre Freiheit eingeschränkt wird. Damit wird meines Erachtens Herrschaft auf neue, subtile Art und Weise reproduziert.»

Diese Analogisierung muss ich zurückweisen. Wir haben faktisch die Macht, über das Schicksal unserer Mitlebewesen auf diesem Planeten zu bestimmen. Wir herrschen – nolens volens. Auch wenn wir nichts tun, uns also bewusst gegen eine Intervention entscheiden, *obwohl wir intervenieren könnten*, üben wir indirekt Macht aus, denn von unserer Entscheidung hängt es ab, was den nicht-menschlichen Tieren widerfährt. Oder anders: Wir haben die Macht, über den Gang der Dinge zu bestimmen – und wir können die Verantwortung (auch für ein allfälliges Nichtstun) nicht delegieren. Es kommt also darauf an, dass wir *gut* entscheiden, *gut* „herrschen“, d.h. *zum Wohle aller* oder (bei Konflikten) zumindest möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen. Genau darum geht es David Pearce. Sein Ansatz steht der Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken diametral entgegen. Die Interventionen, die er vorschlägt, sollen nicht uns dienen, sondern möglichst allen fühlenden Wesen, deren Wohl *Selbstzweck* ist. Dass es *schlecht* ist, wenn Tiere langsam an Hunger, Krankheiten, Verletzungen oder zwischen den Klauen und Zähnen von Raubtieren sterben (wie es in der Natur tagtäglich millionenfach geschieht), entspringt nicht unseren arbiträren Vorstellungen von „Gut und Böse“. Es ist *objektiv* der Fall. Dieses Werturteil ist so wenig problematisch wie das Urteil, dass die Situation der Tiere (für die Tiere!) in unserer „Nutztier“-Haltung *schlecht* bzw. ein *Übel* ist und schnellstmöglich korrigiert bzw. beseitigt und überwunden gehört. Konkreter: Wenn die menschliche Jagd ein Übel ist, warum ist die Raubtierjagd dann nicht ebenso eines? Gewiss: Raubtiere wissen nicht, was sie tun, so dass es sinnlos wäre, sie verantwortlich zu machen. Und sie töten, um zu überleben. Aber aus der Perspektive der Opfer gibt es keinerlei Unterschied (bis auf die Tatsache vielleicht, dass die Raubtierjagd für das Opfer im Allgemeinen noch schlimmere Folgen hat). Zudem würden wir auch nicht zögern, einzuschreiten, wenn Menschen von Raubtieren gejagt und bei lebendigem Leibe aufgefressen würden. Ist es dann nicht speziesistisch, bei den „Beutetieren“ zu zögern? Ja, das impliziert wohl eine Einschränkung der Freiheit der Raubtiere bzw. eine Verletzung ihrer Rechte, aber dies ist das *viel* geringere Übel. Zudem gilt es die menschenrechtliche Analogie zu berücksichtigen: Wenn Menschen andere, wehrlose Menschen jagen und töten und wir mit einer Intervention mehr Leid und Tod verhindern können, als wir verursachen, dann scheint das aus menschenrechtlicher Sicht geboten.

Ich muss diesen Spiess aber umdrehen! Denn das vorherrschende Natur- und Arterhaltungsparadigma kann m.E. in der Tat zutreffend als Ausdruck arbiträr-subjektiver menschlicher Vorstellungen von „Gut und Böse“ gedeutet werden. Meist ohne über die Voraussetzungen und Implikationen ihrer Position nachgedacht zu haben, halten viele es für „böse“, am zufälligen (und für die empfindungsfähigen Wesen auf diesem Planeten in vielerlei Hinsicht verheerenden) evolutionären Status quo zu rütteln. Es scheint ganz, als würden hier den Verdammten dieser Erde persönliche öko-ästhetische Präferenzen aufgezwungen. Denn wenn sich die Raubtiere nicht mehr fortpflanzen oder evolutionär weiterentwickeln und herbivor werden, dann kümmert das weder die (inexistenten oder ehemaligen) Raubtiere noch ihre Opfer – sondern höchstens diejenigen, die „Natur“ und „Arten“ um ihrer selbst willen „schützen“ wollen und dabei die Individuen vergessen, um die es ethisch gehen müsste. Die Nicht-(mehr-)Existenz von Raubtieren wäre so wenig problematisch wie die Nicht-(mehr-)Existenz der „Nutztier“-Arten oder -Rassen. Entscheidend ist nicht, wie viele Individuen es gibt, und noch weniger, zu wie vielen Arten sie gehören, sondern: *dass es den Individuen, die es gibt, gut geht.*

«Pearce stellt sich eine Zukunft vor, in der die Existenz leidensfähiger Lebewesen technologisch kontrolliert und damit möglichst leidensfrei ist. Diese Vision ist aber nicht unbedingt die Vision einer herrschafts- und gewaltfreien Gemeinschaft von Menschen und Tieren.»

Sie wird so kontrolliert sein, wie nötig, und so unkontrolliert, wie möglich. Im menschlichen Bereich verhält es sich nicht anders: Jedes Gesetz ist Kontrolle, Macht, Herrschaft und Gewalt – und doch oft das geringere Übel! Die Menschen- und allgemeinen Tierrechte, deren gesetzliche Verankerung und Durchsetzung wir anstreben müssen, üben Herrschaft über Menschen aus. Und zwingen sie notfalls mit Gewalt, Zuwiderhandlungen zu unterlassen. Ist das ein Problem? Durchaus, aber das kleinere.

Zudem: Ist die Mensch/Tier-Dichotomie, die hier wohl implizit unterstellt wird, nicht ein speziesistischer Überrest? Was ist mit der herrschafts- und gewaltfreien Gemeinschaft nicht-menschlicher Tierarten? Oder von Individuen innerhalb einer Art? Alpha-Männchen z.B. bringen oft den Nachwuchs von Rivalen um. Und bei Affenarten wurden sogar Vergewaltigung und Mord, ja Stammeskrieg beobachtet. Aus der Perspektive der Opfer macht es keinen Unterschied, ob die „Täter“ menschlich oder nicht-menschlich sind, moralisch urteilsfähig oder nicht (was ja auch für manche Menschen gilt, die wir ebenfalls davon abhalten, die Rechte anderer zu verletzen).

«Was für ein Leben kann aber ein leidensfähiges Wesen (sei es Mensch oder Tier) haben, wenn es komplett von Leiden befreit wird? Mir scheint, dass leidensfähige Lebewesen (inklusive der Mensch) viele andere Interessen außer dem Vermeiden von Leiden haben. Ein gutes Leben bedeutet auch, seine eigene körperliche Integrität bewahrt zu haben, bzw. frei zu sein, sich frei fortzupflanzen, frei nach Lebenspartnern (Familie und Freunde bzw. sozialer Gruppe) zu suchen usw.»

Das braucht man nicht zu bestreiten, wenn man Pearce zustimmt. Denn wie auch immer deine Ethik bzw. deine Konzeption des guten/besseren Lebens aussieht, sie wird hochgradig unplausibel sein, wenn sie die *Abwesenheit unfreiwilligen Leids* nicht einschliesst. Denn wenn überhaupt etwas die Lebensqualität senkt und ethisch ein unbestreitbares Übel ist, dann ist es das unfreiwillige Leid. Insofern müsste der Leid-Abolitionismus eigentlich allgemein anerkannt sein, wenn vielleicht auch im Rahmen einer umfassenderen Ethik.

«Abolitionismus als Abschaffung der Ausbeutung und Unterdrückung qua historische und sozioökonomische Phänomene zu konzipieren bedeutet aber keineswegs, alle menschlichen Interventionen in der Natur als illegitim zu bezeichnen. Das Thema ist jedoch zu komplex, um hier angemessen diskutiert zu werden. Es gibt jedoch große Unterschiede zwischen dem Gedanken, hungernden Wildtieren oder Wildtieren in anderen Konfliktsituationen zu helfen, und der Unterstützung eines wissenschaftlichen Projekts zur Reprogrammierung von Raubtieren.»

Wie gesagt: Der Leid-Abolitionismus unterstützt auch die Abschaffung der Ausbeutung als Phänomen in der menschlichen Geschichte und Gesellschaft. Und in der Tat: Es gibt Unterschiede. Im Falle der Raubtiere ergeben sich vielleicht ethische Dilemmata. (Allerdings nicht notwendig, wie ich zu begründen versucht habe. Was wäre im Übrigen mit einer Fütterung von Raubtieren durch durch das erwähnte In-vitro-Fleisch?) Doch bezüglich des Hungers, der Krankheiten, Verletzungen und Unfälle, an denen Milliarden „Wildtiere“ zu leiden haben und jeweils langsam verenden, treten keine Konflikte auf. Insofern sollte es aus anti-speziesistischer Sicht auch unbestritten sein, dass wir diesen fürchterlich leidenden Individuen helfen müssen, wenn wir helfen können. Kurz- und mittelfristig kann die Hilfe wohl nur darin bestehen, dass wir insbesondere innerhalb der Tierrechtsbewegung das Bewusstsein auch für das Leid der „Wildtiere“ schärfen und dass wir wissenschaftlich einer nicht-speziesistischen Umweltbiologie das Wort reden, welche die Tiere nicht länger als Masse und Teil der Natur begreift, sondern als empfindungsfähige Individuen mit Interessen, die ethisch nicht weniger zählen als die gleichen Interessen von Menschen. Den praktischen Fokus unserer Arbeit sollte natürlich weiterhin die Abschaffung der menschlichen Tiernutzung und die Veganisierung der Gesellschaft bilden. Erst in einem zweiten, späteren Schritt wird man gesellschaftlich sinnvoll auch über das Leid unserer Mitlebewesen in der Natur diskutieren können.

«Hauptmotiv meines ursprünglichen Artikels ist zu betonen, dass man in der abolitionistischen Perspektive zusätzlich zu kritischen Kampagnen gegen Tierversuche auch eine Reflexion über die Ziele der wissenschaftstechnologischen Entwicklung, d.h. über die Zukunft dieser Entwicklung braucht.»

Absolut einverstanden!
Ich danke dir, Arianna, noch einmal herzlich für diesen Austausch und freue mich natürlich über weitere Kritik.

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