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Rezension

„Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“ (Melanie Joy)

Haustiere füttern wir, Nutztiere futtern wir. Die Psychologin Melanie Joy hinterfragt in ihrem neusten Buch unsere ambivalente Beziehung zu Tieren. Eine Buchbesprechung von Tobias Sennhauser (TIF).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Melanie Joy, Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen, Compassion Media Verlag 2013, Taschenbuch, 200 Seiten, CHF ca. 29.– Als Psychologin versteht es Melanie Joy, unbequeme Fragen zu stellen. Zum Beispiel was unseren widersprüchlichen Umgang mit Tieren betrifft: Während wir Hunde als Familienmitglieder adoptieren, landen andere Tiere auf dem Teller. Möglich mache das ein Glaubenssystem, eine Art Fleisch-Matrix, das unser Verhalten steuert und unsere Werte prägt. Joys vielbeachtete Einführung in das Phänomen Karnismus wurde nun ins Deutsche übersetzt.

Inhalt

Joy beginnt mit einem Gedankenexperiment. Wie würden Sie reagieren, wenn bei einem geselligen Abendessen Hundefleisch serviert wird? Wahrscheinlich mit Ekel. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung von verschiedenen Fleischsorten. Hunde sind (hierzulande) keine Nahrungsmittel. Mit Schweinen dagegen kommen wir primär beim Essen in Kontakt – sie gelten als sogenannte Nutztiere. Aber wieso eigentlich? Dahinter stecke der Karnismus, ein „Glaubenssystem, das uns darauf konditioniert, bestimmte Tiere zu essen“ (S. 32). Er ist eine unsichtbare Ideologie, die die Wertvorstellungen unserer Kultur prägt und im Gegensatz zu anderen Weltanschauungen – wie dem Veganismus – Mainstream ist. Für die Autorin ist es eine „gewalttätige Ideologie, weil sie buchstäblich auf physischer Gewalt beruht“ (S. 35). Dies obwohl viele Menschen nicht bereit seien, ZeugInnen davon zu werden. Denn: „wir Menschen hassen es gewöhnlich, Tiere leiden zu sehen“ (S. 36). In der Unsichtbarkeit sieht Joy den Hauptabwehrmechanismus des karnistischen Systems. Deshalb wendet sie ein Kapitel auf, um „die Unsichtbarkeit des Karnismus auf praktischer Ebene zu dekonstruieren“ (S. 43), und liefert dazu umfangreiche Hintergründe über das Nutztierdasein. Denn es sei unabdingbar, „dem Karnismus einen Namen zu geben und die Praktiken der Fleischproduktion zu entmystifizieren“ (S. 82). Gerade in Undercover-Recherchen sieht die Autorin grosses Potential, weil selbst den Medien meist der Zugang zu Massentierhaltungsanlagen verweigert werden würde. Zu den Eigenschaften des Karnismus gehören jedoch auch eine Gefolgschaft von indirekten Opfern: wir Menschen. Das physische Arbeitsrisiko in der Fleischindustrie sei hoch, genauso schlimm aber auch die psychische Belastung, die nicht selten zu Suchtverhalten führe. Die ArbeiterInnen in den Schlachthöfen betrachtet Joy darum als „weitere Opfer des Karnismus und seiner gewalttätigen Ideologie“ (S. 96). Schlussendlich sind wir indes alle vom Karnismus betroffen: die Produktion von tierlichen Produkten heizt das Klima an und treibt die Gesundheitskosten in die Höhe. Derweil hat das karnistische System eine bedrohliche Dominanz entwickelt: „Das übergeordnete System, der Staat, mag demokratisch erscheinen, das gewalttätige System in seinem Inneren aber ist es nicht“ (S. 101). Die Machtkonzentration in der Branche ist gross, denn sie wird bloss von einer Handvoll Unternehmen kontrolliert. Die Autorin sieht die Wirksamkeit des Wettbewerbs bedroht, was Gefahr für den Verbraucherschutz darstellt. Selbst die Gesetze könne der Agrarfilz zu seinen Gunsten verändern. Demokratie ist für Joy deshalb Geschichte. Heute leben wir in einer „Fleischokratie“ (S. 105). Neben der Unsichtbarkeit wird das karnistische System durch eine Reihe von Fleischmythen getragen. Diese beruhen auf den „Drei Ns zur Rechtfertigung“ (S. 110): Fleischessen sei normal, natürlich und notwendig. Gestützt werden die Rechtfertigungen von bestehenden Institutionen wie Schule, Medizin oder Medien. Die jeweiligen ExpertInnen geben die Grundsätze des Karnismus vor und verleihen dem System die Glaubwürdigkeit. Die Mechanismen des Karnismus sind allumfassend. Joy hält deshalb den Vergleich zum Film The Matrix für angebracht. Die Fleisch-Matrix sei Teil unseres Bewusstseins geworden und verzerre unsere Wahrnehmung. Die wichtigsten Abwehrmechanismen sieht die Autorin – sie spricht vom Kognitiven Trio – in der „Verdinglichung, Entindividualisierung und Dichotomisierung“ (S. 132). So werden Tiere zu anonymen, andersartigen Objekten degradiert. Doch Melanie Joy formuliert auch Hoffnung. Das karnistische System sei auf unsere Gleichgültigkeit angewiesen und beruhe auf Täuschung. Dank Empathie und Mitgefühl können wir aus dem Gewaltregime Fleisch-Matrix ausbrechen. Joy rät, Zeugnis abzulegen, und zwar in Form von „Demonstrationen, Mahnwachen, Lichterketten, Bannern, Vorträgen oder Kunst und Kreativität“ (S. 157).

Kommentar

Was die Gewaltkultur in der sogenannten Nutztierhaltung anbelangt, konzentriert sich Melanie Joy auf die Schlachtung. Dies macht Sinn. Einerseits ist dieser Abschnitt des Nutztierdaseins – trotz allen Reformen – stets mit Gewalt verbunden. Andererseits greift der bisweilen zur Apathie führende Karnismus bei der (serienmässigen) Tötung am stärksten. Angebracht scheinen auch Joys Verknüpfungen zur Militärforschung. Ähnlich wie MetzgerInnen müssten sich auch SoldatInnen vom Töten bzw. von den Opfern emotional abgrenzen: „Sie müssen lernen, nicht zu fühlen“ (S. 38). Interessant sind auch die zahlreichen Parallelen, die die Autorin im Verlauf der Lektüre zieht. Das Patriarchat beispielsweise war hierzulande genauso wie der Karnismus lange unsichtbar. Die Dominanz der Männer galt als natürlich, normal und nötig (drei Ns) und ist damit ebenso eine Ideologie, die „uns bestimmte Denk- und Handlungsweisen anerzieht“ (S. 34). So führt die Lektüre auch zu einem grösseren Verständnis von anderen sozialen Bewegungen – wie eben dem Feminismus. Die grosse Stärke des Buches liegt indes in der sozio-psychologischen Mischung. Joys Herangehensweise ist eine erfrischende Alternative zu den abstrakten Theorien der Tierethik. Zudem bietet der Karnismus die Möglichkeit die Gewaltkultur gegenüber Tieren grundsätzlich zu hinterfragen, was grosse deutsche Medienhäuser bereits taten. So gesehen ist Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen eine handfeste Bereicherung für die Mensch-Tier-Debatte!

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2 Kommentare

Christiane K.
vor 10 Jahre

Ob Fleischmatrix oder System … ich denke, der Mensch ist von Natur aus erst einmal sehr konservativ, greift auf scheinbar Bewährtes zurück und auf das, was ihm lieb geworden ist. Das Archaische beim Grillen hat sich tief in seinem Hirnstamm eingebrannt – das (mit Hilfe von Hunden) erlegte Fleisch auf dem offenen Feuer … Rituale, Tradition … Aber das Ambivalente weicht inzwischen auf: Die meisten (jungen) Menschen, die hierzulande Kapuzenanoraks mit Fellbesatz tragen, wissen, dass es sich bei dem Fell um Hunde- oder Katzenfell handelt, dass sie also auch Hunde anziehen. Und neulich in einer Comedie-Sendung auf 3Sat sang einer (ansonsten kritisch was Menschenleid angeht) dass er endlich auch einmal Hund probieren möchte.
Menschen essen gerne Schweine, weil Schwein gut schmeckt, Schweine leicht zu züchten und einfach zu füttern sind – abgesehen von Moslems werden sie überall auf der Welt gegessen. Den Asiaten dagegen schmecken die Hunde (genauso), während sie gleichzeitig Hunde als Gefährten nutzen.
Was ich ja – in Deutschland lebend – gar nicht verstehe, ist, warum die Leute bzgl. des Umgangs mit Pferden schweigen – da lieben und verhätscheln sie ihre Pferde bis diese nicht mehr laufen können – und obwohl sie so viel Schönes mit ihnen über viele Jahre hinweg erlebten, legt plötzlich einer einen Schalter bei ihnen um und aus dem Pferd wird – Sauerbraten. Und jeder findet das lustig. (Nur ca 5 Prozent der geliebten Pferde darf alt werden) Was Menschen sich bewusst machen sollten, ist, dass wir die gesamte Welt unserem totalitärem Terror-Regime unterworfen haben und kein Lebewesen, keinen Bereich ausgespart haben – wir bestimmen, wer wo ob und wie (und wie lange) leben darf. Den meisten Menschen scheint das überhaupt nicht bewusst. In Bezug auf sämtliches Leben auf der Erde verhalten wir uns wie die Diktatoren, die wir ansonsten ächten.

Marc Bonanomi
vor 10 Jahre

zu undercover: ich bin fan vom VGT

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