17
Internes

Die Fleischindustrie in Schieflage

Die Tierrechtsbewegung ist im Aufwind. Immer mehr wehren sich gegen die Tierausbeutung. Nun spürt die Tierindustrie den Widerstand. Doch zum Jubeln ist es noch zu früh.

Text: Tier im Fokus (TIF)

«Wir müssen keine Angst haben.» So klingt der oberste Schweizer Metzger in der Defensive. Rolf Büttiker, ehemaliger National- und Ständerat sowie Präsident des Schweizerischen Fleischerverbandes, macht gegenüber Blick gute Miene zum bösen Spiel. Dabei lassen die Zahlen wenig Optimismus zu.

Der Fleischkonsum liegt auf einem Rekordtief. Seit 1990 sank er von rund 60 Kilogramm pro Person auf rund 50 Kilogramm. Das ist ein Rückgang um 16 Prozent. Vor allem Schweinefleisch wird immer unbeliebter. Doch auch Hühnerfleisch wurde 2017 – erstmals seit vielen Jahren des Wachstums – weniger konsumiert.

Die Gier am Tier schwindet | Grafik: Proviand/LID

Das merkten auch die Grossverteiler. 2017 wurde im Detailhandel fast 16 Tonnen weniger Fleisch verkauft. Der Absatz sank um 0.7 Prozent. Für die Fleischindustrie bedeutet das einen Verlust von CHF 3.3 Millionen. Am grössten war der Rückgang beim Schweinefleisch (-1.8 Prozent) und beim Kalbfleisch (-2.6 Prozent).

Den Konsumwandel bekamen daraufhin auch die Bäuer*innen zu spüren. Coop kaufte seinen Produzent*innen 50.000 weniger Schweine ab. Für sie bedeutete das einen Verlust von über zwei Millionen Franken. Die BauernZeitung titelte: «So eine Sauerei».

Schockierende Zustände

Die Tierindustrie gibt sich zwar mit millionenschweren Imagekampagnen alle Mühe, um sich im besten Licht zu präsentieren. Doch der gute Ruf bröckelt. Mitverantwortlich dafür sind verdeckte Aufnahmen, die die ungeschminkte Realität an die Öffentlichkeit tragen.

2018 wurden schweizweit gleich mehrere Recherchen veröffentlicht. Zum Beispiel publizierte die Welschschweizer Tierrechtsorganisation Pour l’égalité animale (PEA) verdeckte Aufnahmen von zwei Schweizer Schlachthäusern, die Tierschutzklagen nach sich zogen. Ausserdem deckte PEA krasse Missstände in einem Optigal-Stall der Migros auf.

Ähnliche Zustände dokumentierte die umfangreiche TIF-Recherche Der grosse Hühner-Schwindel. Unsere Kampagne deckte auf, dass in der Hühnerindustrie flächendeckend das staatliche Label «Besonders tierfreundliche Stallung» (BTS) vergeben wird. Wie die Aufnahmen zeigen, wird mit BTS auch die Massentierhaltung kaschiert.

=> Video: www.youtube.com/watch?v=yMqgZ2NrKBI

Der dazugehörige Bericht im «10vor10» hatte ein Nachspiel. Micarna beschwerte sich bei der Ombudsstelle der SRG, doch der Migros-Fleischkonzern blitzte ab. Mehr noch: Der SRG-Ombudsmann betonte, dass die verdeckte Recherche «ausnahmsweise zulässig ist, weil die problematischen Zustände nur auf diese Weise dokumentiert werden konnten.» Für alle sogenannten Nutztiere ist das ein wegweisender Entscheid.

Unter internationalem Einfluss

Besonders aktiv war die Tierrechtsbewegung heuer auf der Strasse. Neue, international erprobte Ideen fanden den Weg in die Schweiz. Dazu gehört The Save Movement. An weltweit über 500 Standorten finden regelmässig Nachtwachen vor Schlachthäusern statt. Sie sollen den Tieren ein Gesicht geben und die Gewaltkultur ins Bewusstsein der Bevölkerung rufen. 2018 fanden bei Schlachthäusern in Zürich, Sursee, Basel sowie Thun 15 Schlachthaus-Nachtwachen statt, teils mit über 80 Teilnehmenden.

Ebenso weltweit operiert Anonymous for the Voiceless (AV). Bei den Strassenaktionen tragen die Leute Laptops oder Tablets, die Aufnahmen aus der Massentierhaltung zeigen. Schweizweit fanden 2018 fast wöchentlich Aktionen statt, oft mit dutzenden Aktivist*innen. Doch unumstritten ist AV nicht. Wegen diskriminierender Äusserungen von AV-Exponent*innen oder fehlenden organisatorischen Freiheiten spaltete sich in der Schweiz die Gruppe Circle of Compassion ab.

Fotos: Jamani Caillet, Manuel Lopes, Sergio Daniels

Auch das politischen Mittel schlechthin – die Demonstration – fand 2018 in der Tierrechtsbewegung rege Anwendung. So wurde etwa gegen Schlachthäuser, gegen Pelz, gegen Speziesismus oder gegen Nutztierhaltung protestiert. Die Frequenz lässt sich sehen, doch die Zahl der Teilnehmenden lässt noch Luft nach oben. Bisher ist es nicht gelungen, die wachsende vegane Bewegung nachhaltig zu politisieren.

Mehr Direkte Aktionen

Manchen Aktivist*innen indes geht der Strassenprotest nicht weit genug. Sie belassen es nicht bei der Kritik, sondern widersetzen sich aktiv der Tierausbeutung. Besonderes Aufsehen erregte die Blockade bei Bell, dem grössten Schlachtkonzern der Schweiz und Tochterfirma von Coop. Dabei nahmen über 100 Aktivist*innen aus mehreren Ländern teil. Trotz eines polizeilichen Grosseinsatzes mussten die Schlachtanlagen ruhen.

Die Aktion sorgte in der Bewegung für Zündstoff. Viele Tierrechtler*innen reagierten mit Euphorie, andere mit Empörung. Ebenso kontrovers wurden die zertrümmerten Scheiben von Metzgereien aufgenommen, die primär anfang Jahr in der Westschweiz passierten und jüngst zu mehreren Verhaftungen führten. Wie weit der Aktivismus gehen darf oder soll, bleibt in der Bewegung umstritten. Zumindest kurzfristig war die «Propaganda der Tat» aber erfolgreich: die ganze Schweiz sprach 2018 über Antispeziesismus.

Auf der nationalen Politbühne

Um politische Veränderung zu erwirken, gibt es in der Schweiz als direkte Demokratie freilich eine weitere Option: die Volksinitiative. Diese kann sozialen Fortschritt nachhaltig in der Verfassung verankern. Allerdings ist die Hürde hoch. Bei einer eidgenössischen Volksinitiative sind 100.000 Unterschriften nötig.

2018 betrat die Tierrechtsbewegung erstmals die nationale Politbühne. Die Massentierhaltungsinitiative fordert nichts weniger als die Abschaffung der Tierindustrie und käme einem Kahlschlag in der Nutztierhaltung gleich. Sie wurde von Sentience Politics lanciert, dahinter stehen weitere 17 Organisationen. Die Initiative ist auch ein Test: Sind wir als Bewegung «Initiativ-fähig»? Oder überlassen wir die (Agrar-)Politik weiterhin der Tierindustrie?

Eine Umfrage im Auftrag von TIF fühlte der Bevölkerung den Puls |
Design: Daniel Rüthemann

In der Gesellschaft, der Wirtschaft oder der Politik – die Tierrechtsbewegung kämpft an allen Fronten. Trotz Erfolgen bleibt die Befreiung der Tiere unerreicht. Um den Druck nachhaltig zu erhöhen, muss die Tierrechtsbewegung weiter wachsen. Sie muss neue Mitstreiter*innen rekrutieren und – ebenso wichtig – die alten halten. Dazu sollte sie nicht nur für die Tiere arbeiten, sondern auch für sich selbst.

Beteilige dich an der Diskussion

1 Kommentar

Renato Werndli
vor 5 Jahre

Zu erwähnen wäre auch die IG Tierversuchsverbotsinitiative, die bereits über 110 000 beglaubigte Unterschriften für ein Verbot hat und noch bis April 19 weitersammeln kann. Die Motivation der Initiierenden ist eindeutig ethisch begründet. Aber im Laufe der Recherchen wird immer bewusster, wie unwissenschaftlich diese total veraltete Forschungsmethode ist. Bitte an alle Tierbefreiende: Unterstützt diese Initiative, die nicht nur Erleichterung sondern wirkliche Befreiung anstrebt.

Ähnliche Beiträge

Einladung zur TIF-Mitgliederversammlung
Weiterlesen

Einladung zur TIF-Mitgliederversammlung

Weiterlesen
Jahresbericht 2022
Weiterlesen

Jahresbericht 2022

Weiterlesen
Covid-19 Update
Weiterlesen

Covid-19 Update

Weiterlesen
TIF-Pot – ein Grundeinkommen für Aktivist*innen
Weiterlesen

TIF-Pot – ein Grundeinkommen für Aktivist*innen

Weiterlesen
bern-vegan.ch ist online!
Weiterlesen

bern-vegan.ch ist online!

Weiterlesen
Weiterlesen

Stellungnahme zur rechtlichen Auseinandersetzung mit Erwin Kessler und dem Verein gegen Tierfabriken (VgT)

Weiterlesen
Vegan werden – so geht’s
Weiterlesen

Vegan werden – so geht’s

Weiterlesen
Der Küche ein Kompliment hinterlassen
Weiterlesen

Der Küche ein Kompliment hinterlassen

Weiterlesen
Die einen stört’s, die anderen freut’s
Weiterlesen

Die einen stört’s, die anderen freut’s

Weiterlesen