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Interview

«Der Schutz der Würde wird nicht durchgesetzt»

Eine Volksinitiative will die Massentierhaltung in der Schweiz eliminieren. Was sich damit für die Tiere ändern würde, darüber sprach Tobias Sennhauser (TIF) mit Katerina Stoykova, Juristin bei der Stiftung für das Tier im Recht (TIR).

Text: Tier im Fokus (TIF)

TOBIAS SENNHAUSER: Beginnen wir ganz am Anfang. Was ist Massentierhaltung? KATERINA STOYKOVA: Der Begriff der Massentierhaltung steht für eine Vielzahl geläufiger Praktiken in der industriellen Tierhaltung, bei denen das Tierwohl systematisch verletzt wird. Dazu gehören u.a. das Enthornen von Rindern, das Kükenschreddern, das Zusammenpferchen vieler Tiere auf engem Raum, das Verunmöglichen angemessener Sozialkontakte zwischen den Tieren, die Trennung von Mutterkuh und Kalb, züchterische sowie genetische Optimierungen der Tiere und damit verbundene körperliche und psychische Schäden oder das Töten von Tieren in jugendlichem Alter. Die Massentierhaltungsinitiative fordert für Tiere neu den «Anspruch, nicht in Massentierhaltung zu leben». Was bedeutet das? Die Initiative verlangt einen konsequenten Schutz der Tierwürde in der landwirtschaftlichen Tierhaltung. Der Anspruch, nicht in Massentierhaltung zu leben, bedeutet nichts Anderes als den Anspruch auf eine konsequente Anwendung des verfassungs- und gesetzmässigen Schutzes der Tierwürde. Die Massentierhaltungsinitiative schliesst eine gravierende Diskrepanz zwischen Verfassungs- und Gesetzesebene auf der einen und Verordnungsebene und Praxis auf der anderen Seite. Statt dem erwähnten Anspruch wollte Sentience Politics ursprünglich ein Recht einführen. Konkret sollte jedes sogenannten Nutztier das Recht haben, nicht in Massentierhaltung zu leben. Auf Anraten von der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) wurde der Initiativtext indes geändert. Wieso? TIR riet aus Gründen der juristischen Klarheit von der Verwendung des Begriffs «Recht» ab. Tierrechte sind (noch) nicht Teil unseres Rechtssystems. Tiere geniessen zwar rechtlichen Schutz, sie sind aber keine Rechtssubjekte. Sonst hätte die Initiative für ungültig erklärt werden können. Die Initiative gegen Massentierhaltung greift auf den Würde-Begriff zurück. Welche Bedeutung hat die Tierwürde heute? Die Tierwürde ist in der Verfassung verankert. Das bedeutet, dass sie in der gesamten Rechtsordnung und überall dort, wo die Mensch-Tier-Beziehung betroffen ist, zu beachten ist. Das hält das Tierschutzgesetz bereits im Art. 1 fest: «Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen.» Davon bleibt jedoch in der Praxis nicht viel übrig. Leider nicht. In vielen Bereichen wird der Schutz der Würde schlichtweg nicht durchgesetzt. In der Nutztierhaltung werden Praktiken und Umgangsarten mit Tieren geduldet, die der Tierwürde klar widersprechen. Das ist inakzeptabel. Es geht nicht, dass sich die Schweiz mit einem der strengsten Tierschutzgesetze der Welt rühmt, auf Verordnungsebene aber Bestimmungen erlässt, womit Missachtungen der Würde durch die Hintertür legalisiert werden. Die Initiative will den Würdebegriff nun auf Verfassungsebene präzisieren. Was würde sich damit ändern? Die Massentierhaltungsinitiative will den Schutzanspruch der Tiere auf Verfassungsebene verdeutlichen, damit deren Würde endlich ernst genommen wird. Konkret bedeutet das, dass alle mit der Tierwürde unvereinbaren Praktiken nicht mehr erlaubt werden dürfen respektive ausdrücklich verboten gehören. Die Initiative fordert ausserdem, dass der Bund Kriterien festlegt für eine tierfreundliche Unterbringung und Pflege, den Zugang ins Freie, die Schlachtung und die maximale Gruppengrösse je Stall. Ist das nicht schon heute so? Der Schutz der Tierwürde wird momentan nur unzureichend in die Überlegungen des Bundes einbezogen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Schreddern männlicher Küken in der Eierindustrie an ihrem ersten Lebenstag. Das ist gemäss Tierschutzverordnung erlaubt, obwohl dies aus rein wirtschaftlichen Überlegungen geschieht. Die Küken werden somit zum industriellen Abfallprodukt degradiert und als solches entsorgt. Falls die Massentierhaltungsinitiative angenommen wird, muss der Bund alle Kriterien für eine tierfreundliche Tierhaltung neu festlegen. Dabei hat er sich an die Forderung der Initiative zu halten, wonach Tiere Anspruch haben, nicht in Massentierhaltung zu leben. Mit dieser Verdeutlichung wird dem Verordnungsgeber klar signalisiert, dass es keine gesetzliche Grundlage für Würde-missachtende Praktiken gibt. Die Initiative will auch den Import von Produkten aus Massentierhaltung verbieten. Die Welthandelsorganisation (WTO) mag bekanntlich keine Handelshemmnisse. Ist der Streit vorprogrammiert? Einfuhrverbote für Produkte aus Massentierhaltung wirken sich in jedem Fall handelsbeschränkend aus. Für jedes Produkt aus Massentierhaltung müsste die Vereinbarkeit eines Einfuhrverbots oder einer -beschränkung geprüft werden. Allerdings sieht WTO-Recht Ausnahmen vor: Tangiert ein Wirtschaftszweig die öffentliche Moral, sind Ausnahmen vom generellen Verbot von Handelshemmnissen möglich. Die EU erliess 2009 aus Tierschutzanliegen ein Handelsverbot mit Robbenprodukten in Europa. Genau. Kanada und Norwegen fochten es vor den WTO-Gremien an und zogen es weiter bis an die höchste WTO-Instanz. Diese hielt fest, die EU-Regelung verfolge das Ziel, die öffentliche Moral hinsichtlich tierschützerischer Bedenken bei der Robbenjagd zu schützen und entschied zugunsten des EU-Verbots. Ein entsprechendes Einfuhrverbot für Robbenprodukte wurde in der Folge auch in der Schweiz erlassen. Für Produkte aus Massentierhaltung wäre eine ähnliche Lösung durchaus denkbar.
logo_mti Bis Ende 2019 müssen 100.000 gültige Unterschriften gesammelt werden. Unterzeichne auch du die Initiative und druck einen Unterschriftenbogen für dein Umfeld aus. Danke! Oder möchtest du beim Sammeln auf der Strasse helfen? Dann werde jetzt aktiv bei TIF: www.tier-im-fokus.ch/aktiv

Weitere TIF-Materialien zur Massentierhaltung in der Schweiz

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1 Kommentar

Florian Keller
vor 4 Jahre

Frau Stoykovas Worte beweisen einmal mehr: Die Initiative bringt genau gar nichts. Solange es nicht eine nennenswerte Zahl veganer Tierrechtler gibt, wird jeder politische Vorstoss reformistisch sein und deswegen nichts anderes erreichen, als die „Nutztierhaltung“ zu zementieren. Wer eingesehen hat, dass dies zu nichts führt, wird vegan und setzt sich konsequent für Abolitionismus ein.

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