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Mensch & Tier

Der Veganismus und die politische Linke

Willkürliche Herrschaft über die Tiere, verheerende Auswirkungen der Tierindustrie auf Menschen und Umwelt: die Linke muss den Anti-Speziesismus und Veganismus auf ihre politische Aganda setzen. Und die VeganerInnen sollten endlich politisch aktiv werden, meint tif-Mitglied Adriano Mannino.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Die meisten VeganerInnen sind der Überzeugung: Essen ist keine Privatsache. Der Veganismus wird demnach nicht bloss als privater Lifestyle gelebt, sondern mit einem öffentlichen Anspruch vertreten. Öffentliche Ansprüche sind aber naturgemäss politische Ansprüche. So stellt sich die Frage, wo der Veganismus politisch zu verorten ist bzw. wo er sich, wenn überhaupt, politisch verorten und engagieren kann und soll. Im Folgenden sind Gründe zusammengestellt, welche die politische Linke dazu veranlassen müssten, den Veganismus aufzunehmen, und VeganerInnen motivieren können, sich insbesondere linkspolitisch zu engagieren.

Menschliche Bedürfnisse und Menschenleid

Die Argumente für den Veganismus sind zahlreich. Ökologisch wirkt sich die Herstellung von Tierprodukten in vielerlei Hinsicht verheerend aus, beispielsweise punkto Klimawandel, Energie-, Land- und Wasserverbrauch. Der Nahrungsumweg über das Tier vergeudet und verknappt Ressourcen, was der Logik des Profits entspricht, ökonomisch deshalb aber nicht weniger unsinnig ist.

Auch in sozialer Hinsicht hat der Tierkonsum äusserst problematische Folgen: Unser „Bedarf“ – er beläuft sich hierzulande für das Fleisch auf über 1 Kilogramm pro Kopf und Woche – erfordert den Import riesiger Futtermengen. (Quantitativ ist das „Schweizer Fleisch“ mindestens zur Hälfte ein Etikettenschwindel.) Wir stützen damit den grossflächigen Anbau insbesondere von Soja-Monokulturen in den Ländern des Südens, der von wenigen multinationalen Grosskonzernen beherrscht wird. Nicht nur die Regenwälder, sondern auch indigene kleinbäuerliche Strukturen fallen ihm systematisch zum Opfer. Ausserdem mutet der Ressourcenverschleiss, auf dem die Tierprodukte beruhen, angesichts des Welthungers geradezu grotesk an. Über 1.000 Millionen Menschen sind permanent unterernährt und bis zu 30.000 Kinder sterben Tag für Tag an den Folgen, während wir uns (vor allem auch an den ungesunden Tierprodukten) gütlich tun und „zivilisationskrank“ werden.

Man mag einwenden, die Tierprodukte seien für den Welthunger nicht ursächlich, sei das Problem doch primär eines der Verteilung im Weltmarkt und der global-lokalen politischen Rahmenbedingungen, die oft zu wünschen übrig lassen. In der Tat: Der Welthunger ist ein strukturelles Problem. Insofern aber das Steak des Nordens das Soja des Südens ist, prägt der Nahrungsumweg über das Tier die strukturelle Situation nicht unwesentlich mit; ohnehin schon bestehende Verteilungsprobleme werden durch die Ressourcenverknappung verschärft; und die gigantische Soja- und Getreidenachfrage der reichsten Länder treibt die Weltmarktpreise in die Höhe, was die ärmsten trifft. (Von der Spekulation auf Nahrungsmittel gar nicht zu reden.)

So fasst auf der internationalen Politbühne denn auch mehr und mehr die Erkenntnis Fuss, dass die (tierbasierte) Ernährung nicht Privatsache, sondern Politikum ist, und in wissenschaftlichen UN-Reports ist zu lesen, ein Abschied von den Fleisch- und Milchprodukten sei der Welt dringend anzuempfehlen: Der Veganismus kann einen wichtigen Beitrag zur Lösung der vielfältig-verzahnten ökologischen und sozioökonomischen Probleme leisten, die sich angesichts des Weltwirtschafts- und -Bevölkerungswachstums noch gefährlich zu verschärfen drohen.

Tierliche Bedürfnisse und Tierleid

Wahl-Slogan der SP Schweiz 2011

Keine Linke, die ihren Namen verdient, kann diese Argumente ignorieren – sie sollten im Gegenteil völlig unbestritten sein. Insofern hätte auch eine anthropozentrische Linke, welche die Interessen der Tiere (im Extremfall) gänzlich ignorierte, allen Grund, den Veganismus aufzunehmen. Ist der Speziesismus, d.h. die Mindergewichtung der Interessen von Individuen, die einer anderen (Tier-)Art zugehören, mit den Grundsätzen linker Politik aber überhaupt verträglich?

Der aktuelle Wahlspruch der Sozialdemokratischen Partei (SP) der Schweiz lautet „Für alle statt für wenige“. Das kann, ja muss man aus ethischer Sicht natürlich unterschreiben. Doch wer sind „alle“? Vernünftigerweise alle, für die bzw. für deren Wohl oder Bedürfnisbefriedigung man etwas tun kann. [1] Wohl und Wehe bzw. das Haben genuiner Bedürfnisse wiederum sind an das Bewusstsein, an Empfindungs- und insbesondere Leidensfähigkeit gebunden.

Nun ist der Mensch aber offensichtlich nicht das einzige empfindungs- und leidensfähige Lebewesen. Die Fähigkeit zur Schmerzwahrnehmung ist evolutionsgeschichtlich sehr alt und so teilt sie der Homo sapiens denn auch mit vielen anderen Tierarten. Unter ihnen willkürlich eine herauszugreifen – diejenige freilich, der man selbst auch angehört – und ihr Wohl zu privilegieren, ist eine Form des Gruppenegoismus bzw. der Diskriminierung, die allem zuwiderläuft, wofür die Linke eigentlich steht.

Die Mensch/Tier-Konstruktion im Licht der Evolution

Wir brauchen die Evolutionstheorie nicht, um den Speziesismus zu überwinden. Die ethische Argumentation gegen ihn hängt nicht von empirischen Theorien darüber ab, wie die Vielfalt des Lebens auf diesem Planeten entstanden ist, sondern beruht einzig darauf, dass es die Empfindungsfähigkeit bzw. die Bedürfnisse sind, die einem Wesen moralischen Status verleihen, nicht irgendwelche sonstigen Gruppenzugehörigkeiten (Ethnie, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale Stellung, Intelligenz oder eben auch die Art). Das heisst: Der Speziesismus wäre auch dann unhaltbar, wenn es keine Evolution gegeben hätte.

Dennoch zwingt uns das Faktum der Evolution geradezu, die moralische Mensch/Tier-Differenz zu hinterfragen, von der wir traditionell ausgehen. Es ist nämlich ein Zufall der Evolutionsgeschichte, dass neben den Menschenaffen keine noch näheren Verwandten der Tierart Homo sapiens (mehr) existieren. Stellen wir uns all unsere evolutionären Vorfahren nebeneinander aufgereiht vor – jede einzelne Generation, um den graduellen Übergang von „Art“ zu „Art“ ersichtlich werden zu lassen. Bei welcher Generation wollte man sagen: Ab hier – ab hier zählen die Individuen bzw. ihre Bedürfnisse moralisch voll?

Ein Schwein hat einen Bewusstseinsgrad, der denjenigen mancher Menschen übertrifft (man denke etwa an Kleinkinder, geistig Schwerstbehinderte oder Demente im fortgeschrittenen Stadium). Mit welcher Berechtigung sprechen wir ihm das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ab, degradieren wir es zum blossen „Nutztier“, zu einem Mittel unserer Zwecke? Sieht es „falsch“ aus? Hat es die „falsche“ DNA? Oder gilt plötzlich das Recht des Stärkeren, obwohl wir eine ethisch-politische Wahl haben und im Umgang mit den Schwächeren der „richtigen“ Spezies nicht auf die Idee kämen, dieses blutig-brutale „Recht“ der Natur zu imitieren?

Linker Speziesismus – ein Widerspruch in sich

Das kann nicht unser Ernst sein – und zu allerletzt kann es der linke Ernst sein, für den der politische Kampf gegen willkürlich-egoistische Herrschaft, Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung historisch doch so zentral ist. Ausgerechnet dort nun, wo die Verwertung empfindungsfähiger Individuen total ist, wo die Herrschaft in der Zerstückelung und schliesslich der Einverleibung der Herrschaftsobjekte gipfelt, soll die Linke schweigen? Klassismus, Rassismus, Sexismus und Homophobie nein – Speziesismus ja?

Historisch hat die Linke – der hochgradig speziesistischen religiösen und philosophischen Tradition des Abendlandes folgend – diesen Widerspruch leider kaum bemerkt (oder bemerken wollen). Die nicht-menschlichen Tiere wurden mehrheitlich der natürlichen Umwelt und damit den Produktionsressourcen zugerechnet. Dabei wird man ihnen offensichtlich nicht gerecht, wenn man sie nicht als eigenständige, empfindungsfähige Wesen begreift (die, wie die Verhaltensbiologie längst gezeigt hat, oft auch ein komplexes soziales Beziehungsgefüge unterhalten).

Abweichungen vom speziesistischen Paradigma sind historisch rar, aber nicht inexistent: Leonard Nelson, Philosoph und Gründer des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds ISK, beispielsweise hat die Widersprüchlichkeit des linken Speziesismus klar erkannt und deutlich benannt: [2]

„Die Art der Behandlung, die dieses Problem [der unmittelbaren Pflichten gegenüber nicht-menschlichen Tieren] in der Ethik erfahren hat, würde ein vernichtendes Zeugnis für die Kräfte des menschlichen Verstandes abgeben, wenn nicht von vornherein klar wäre, dass hier weniger der Irrtum als ein Interesse im Spiele ist.“

„Wem dies [die moralische Unhaltbarkeit der Verwendung von Tieren als blosse Mittel zu unseren Zwecken] nicht einleuchtet, oder wem die damit erhobene Forderung zu weitgehend erscheint, der braucht sich nur die Frage vorzulegen, ob er für sich selbst damit einverstanden sein würde, von einem ihm an Macht überlegenen Wesen nach dessen Belieben missbraucht zu werden.“

„Wer gegen die Ausbeutung mit Erfolg kämpfen will, der darf nicht seine eigenen Ausbeuter unterstützen. […] Ein Arbeiter […] kann das, indem er dasselbe, was der Kapitalist mit ihm macht, mit denen tun, die sich gegen ihn noch viel weniger wehren können als er gegen die Kapitalisten – die die Allerwehrlosesten sind, die sich nie durch eine Koalition zusammentun können, um allmählich ihre Rechte in einem Klassenkampf zu erobern. Ein Arbeiter, der nicht nur ein ‚verhinderter Kapitalist‘ sein will, und dem es also Ernst ist mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Mord […]. Entweder man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder man lässt es bleiben. Aber wer als Sozialist über diese Forderungen lacht, der weiss nicht, was er tut. Der beweist, dass er nie im Ernst bedacht hat, was das Wort ‚Sozialismus‘ bedeutet.“

„Es ist der untrüglichste Massstab für die Rechtlichkeit des Geistes einer Gesellschaft, wie weit sie die Rechte der Tiere anerkennt. Denn während die Menschen sich nötigenfalls, wo sie als Einzelne zu schwach sind, um ihre Rechte wahrzunehmen, durch Koalition, vermittelst der Sprache, zu allmählicher Erzwingung ihrer Rechte zusammenschliessen können, ist die Möglichkeit solcher Selbsthilfe den Tieren versagt, und es bleibt daher allein der Gerechtigkeit des Menschen überlassen, wie weit diese von sich aus die Rechte der Tiere achten wollen.“

Ergänzend bemerken kann man, dass auch für viele Menschen (etwa aufgrund des Alters, einer Behinderung oder Krankheit) gilt, dass es alleine unserer Gerechtigkeit überlassen ist, wie weit ihre Rechte gewährt sind.

Tierschutz, der unnötige Leidstrukturen nicht grundsätzlich in Frage stellt, ist Tierquälerei

Traditioneller Tierschutz reicht nicht aus © tier-im-fokus.ch (tif)

Die Linke tut also gut daran, in ihrer politischen Arbeit auch die Ausbeutung und das Leid der nicht-menschlichen Tiere zu berücksichtigen. Doch setzt sich linksgrüne Politik denn nicht bereits für tierschützerische Anliegen ein? Sicherlich, nur wird der Tierschutz den Forderungen, die sich aus den linken Grundsätzen selbst ergeben, schlicht nicht gerecht.

Jedes empfindungsfähige – menschliche wie nicht-menschliche – Wesen, dem unnötig Gewalt angetan wird, ist eines zu viel. Tierquälerei liegt dann vor, wenn Tieren ohne Not Leid zugefügt wird. Die Nahrungsgewinnung kann das Tierleid höchstens dann legitimieren, wenn es alternativlos ist, wenn also Leid gegen Leid und Leben gegen Leben steht. Mit dem Veganismus gibt es aber eine gesunde (bzw. gesündere!) und gute Ernährungsalternative. Man kann sich vor diesem Hintergrund der Folgerung nicht entziehen, dass nicht-vegane Ernährungsformen auf Tierquälerei beruhen.

Die „Nutztiere“ gehören nicht „geschützt“ und damit „human“ eingesperrt und angebunden, zwangsgeschwängert, qualgezüchtet, von ihren Müttern getrennt (wie die Kälber), leidvoll vergast (wie die männlichen Küken in der Eierwirtschaft), in Lastern transportiert (regelmässig mit Todesfolge, sie sind halt überaus „stressempfindlich“), schliesslich aufgeschlitzt und umgebracht (teilweise noch bei Bewusstsein, da die Betäubung nicht immer funktioniert). Nein: Der Nutztierstatus selbst gehört abgeschafft!

Das ethische Gewicht der Effizienzfrage

Wenn wir als VeganerInnen schon etwas für die Tiere tun (wollen), dann richtig – wir geben uns ja auch bei der Ernährung nicht mit halben Sachen zufrieden. Die schreckliche Situation der Tiere verpflichtet uns, vegane Ressourcen möglichst effizient einzusetzen.

Empirische Unsicherheiten darüber, was letztlich wie effektiv ist, legen eine strategische Vielfalt und damit die gegenseitige Anerkennung verschiedener Aktionsformen nahe. Auch motivational ist es selbstredend wichtig, dass sich die AktivistInnen mit ihren Aktionsformen identifizieren und auf gegenseitige Unterstützung zählen können. Gleichwohl ist ein gemeinsamer, offener Diskurs über die Effizienzfrage von grosser Bedeutung. Nur so lässt sich der Ressourceneinsatz verbessern – was in unser aller Interesse und vor allem natürlich im Interesse der Tiere ist.

Vegan-engagierte Einzelpersonen und Organisationen sollten sich daher immer wieder mit der Frage konfrontieren: Haben wir Grund zur Annahme, dass ein anderer Einsatz der verfügbaren Ressourcen (noch) geeigneter ist, Tiere vor dem Nutztierdasein zu bewahren bzw. die Gesellschaft zu veganisieren?

Die Antwort, die wir geben, ist folgenschwer und daher hoffentlich richtig. Obwohl die Marktrechnung natürlich nicht so einfach ist (und durch die Subventionen zusätzlich erschwert wird), gilt prinzipiell: An der Ernährungsweise einer einzigen omnivoren Person hängen hunderte „Nutztier“-Leben. Jede einzelne Person, die wir infolge einer suboptimalen Strategie nicht erreichen, kann (auch für unsere soziale Bewegung!) einen riesigen Unterschied machen – denn jedes einzelne Leben zählt und jedes gequälte Individuum ist eines zu viel.

Was für die Politik spricht

Individuell-autonomer Aktivismus, themenspezifische Vereine und Pressure Groups oder Parteiarbeit: Politisches Engagement kann verschiedene Formen annehmen. Es geht mir an dieser Stelle – im Sinne eines Diskussionsbeitrags – vorrangig um die Frage, was aus veganer Sicht für ein Engagement (auch) in politischen Vereinigungen und Bewegungen spricht, die nicht primär (oder vielleicht noch gar nicht) für eine Abkehr von den Tierprodukten eintreten, und welche Gründe nahelegen, sich insbesondere in linkspolitischen Organisationen und Parteien aktiv für den Veganismus einzusetzen – hierzulande etwa bei der Juso / SP, bei den (Jungen) Grünen, bei Greenpeace, der Erklärung von Bern (EvB) oder bei Décroissance.

Zunächst ist relevant, dass man in politischen Kontexten gehäuft Menschen antrifft, die sich genuin für die Regeln unseres Zusammenlebens und die Folgen ihres eigenen Tuns interessieren. Insbesondere in linksgrünen Kreisen ist mit einem ausgeprägten sozialen und ökologischen Verantwortungsbewusstsein zu rechnen, so dass sich die Argumente für den Veganismus, wie oben gezeigt wurde, bestens, ja zwingend in die entsprechenden politischen Ansätze einfügen. Zudem begegnet man systemkritischen, alternativen und „radikalen“ Anliegen dort grundsätzlich wohlwollend(er). Wo also könnte die vegane Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit auf fruchtbareren Boden fallen?

Intermezzo über die Freiheit, die wir vernünftigerweise meinen

Auch die liberale und insbesondere die libertäre Tradition bieten mit dem individualistischen Grundrechts- und Freiheitsfokus Anknüpfungspunkte, obwohl es zunächst meist die Tierkonsumenten sind, die sich auf sie berufen: Essensverbote? Nicht mit mir und meiner kulinarischen Wahlfreiheit! Essen ist Privatsache!

Aber so einfach ist die Sache nicht. Hier geht nämlich des Prinzip des Nichtschadens – das Herzstück jeder halbwegs plausiblen Freiheitskonzeption – völlig vergessen: Wir sind frei, zu tun und zu lassen, was wir wollen, solange wir niemanden schädigen. Fremdschädigendes Verhalten kann nicht mit dem Verweis auf die Freiheit gerechtfertigt werden, denn die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Insofern hat, wer andere schädigt, auch die Freiheit gegen sich: Solches Verhalten ist freiheitsfeindlich, denn die Freiheit steht allen gleichermassen zu und sie ist gerade nicht die Willkür der Stärkeren, sondern sichert die Grundrechte aller.

Nicht-Vegane Ernährungformen schädigen die Umwelt bzw. letztlich die menschlichen wie nicht-menschlichen Wesen, die sie bevölkern; sie schädigen die Menschen, die hungern, und unter Umständen auch jene Unterprivilegierten, die indirekt gezwungen werden, in den Tier(todes)fabriken zu arbeiten; nicht zuletzt schädigen sie natürlich die „Nutztiere“, die für unseren Teller zu leiden haben und in industriellen Massen getötet werden. Wer wollte angesichts dieser Vielzahl nicht-privater Auswirkungen ernsthaft behaupten, Essen sei Privatsache? Und öffentliche Auswirkungen legitimieren öffentliche Reglementierungen, sprich: Gesetze.

Zurück zur Realpolitik

Leider hat sich der (Neo-)Liberalismus inzwischen weit von seinen noblen Wurzeln entfernt – es ist heute die Linke, die diese Wurzeln verteidigt und weiterführt. Am Gängelband der Privatwirtschaft (und vor allem auch des Grosskapitals) hängend, praktiziert er Politik allzu oft als Vertretung ökonomischer Partikularinteressen. Wenn man als vegane Kraft bei den Liberalen etwas bewirken will und kann, wunderbar.

Aber machen wir uns keine Illusionen (und stellen wir uns auch hier die gewichtige Effizienzfrage): Trotz des fruchtbaren ideellen Bodens ist die Überwindung des Speziesismus auch im linksgrünalternativen Bereich des Spektrums eine Herkulesaufgabe. Realistischerweise aussichtslos ist sie gegenwärtig dort, wo man auch innerhalb der Herrenspezies Mühe bekundet, die Freiheit (d.h. oft die Willkür) des Stärkeren einzuschränken zugunsten der Freiheit der Schwächeren. Und jene, die aus der Verwertung von „Nutztieren“ Profit schlagen oder politisch entsprechende Wirtschaftsinteressen vertreten, werden wir ohnehin nicht überzeugen können.

Sie werden uns im Gegenteil mit allen sauberen und – wie die Geschichte der sozialen Bewegungen zeigt und die politische Erfahrung lehrt – auch mit allen unsauberen Mitteln bekämpfen. Das erstaunt nicht weiter, wir bedrohen schliesslich ihre (aktuelle) wirtschaftliche Existenz.

Für die Befreiung von Mensch und Tier! © tier-im-fokus.ch (tif)

Allgemein kommen in gesellschaftlich-politischen Machtkämpfen gegen diejenigen, die von ungerechten Verhältnissen profitieren, die wirklich progressiven Impulse fast ausschliesslich von links. Wenn es uns längerfristig gelingt, den Veganismus und den Antispeziesismus einzureihen in den Kanon und die Allianz progressiver Anliegen und Kräfte, wird dies einen Meilenstein bedeuten. Dazu ist es aber essentiell, dass wir uns öffnen für die Befreiungsanliegen anderer sozialer Bewegungen, denn vom Single-Issue-Denken zur letztlich apolitischen Küchenmoral ist es nicht weit. Wenn wir von unseren natürlich-notwendigen Partnern ernst genommen werden wollen, müssen wir politische Kompetenz beweisen, müssen wir aufzeigen, inwiefern die Befreiung von Mensch und Tier, inwiefern Menschenrecht und Tierrecht zusammenhängen und zusammengehören.

Progressive Allianzen können einen transformatorischen Schwung erzeugen, gerade in Zeiten der multiplen Krise und des globalen Protests. Sobald unser Anliegen über eine nicht-vernachlässigbare, etablierte politische Basis verfügt, sind zudem – analog etwa zur Atomfrage [3] – auch (medizinische oder ökologische) Katastrophenszenarien denkbar, die den Widerstand gegen die Tierausbeutung von der progressiven Front in die Mitte der Gesellschaft tragen und Mehrheiten greifbar machen.

Der todbringende EHEC-Vorfall beispielsweise hätte zu einer massiven Kampagne gegen den tierausbeuterischen Landbau Anlass geben können – wäre denn eine Pressure Group mit entsprechender politisch-sozialer Basis in den Startlöchern gestanden. Eine solche Basis könnte künftig auch dem In-vitro-Fleisch zum Durchbruch verhelfen, das die Veganisierung der Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich beschleunigen wird.

Politische Multiplikatoreffekte

Ist von den etablierten politischen Organisationen – auch von den linksgrünen – aber überhaupt etwas zu erwarten? Muss der Druck nicht von aussen und unten kommen? Müssen wir nicht zu den einzelnen Menschen sprechen und sie dazu bringen, ihr Konsumverhalten zu verändern?

Durchaus, aber das tun wir in politischen Kontexten und im politischen Bekanntenkreis ja auch – mit mindestens so grossen Erfolgschancen. (Es sei denn vielleicht, man agiert dort, wo es zentral um traditionelle Tierschutzpositionen geht, die sich gefestigt und identitätsstiftenden Charakter angenommen haben.) Ausserdem sind gerade die linksgrünen (Jung-)Parteien nach „unten“ und „aussen“ gut vernetzt und prägen soziale Bewegungen wesentlich mit.

Interessant sind die Multiplikatoreffekte, die sich ergeben können: Überzeugt man Menschen, die selbst auch politisch tätig sind, nehmen sie das Anliegen vielleicht in ihren thematischen Aktionsradius auf. Die Organisation von Vortragsveranstaltungen und Workshops, zum Beispiel aus einer linksgrünen Partei heraus, oder die Teilnahme an Politevents bieten die Möglichkeit, Information einem interessierten Publikum gezielt zur Verfügung zu stellen, aber auch medien- und öffentlichkeitswirksam zu streuen. In Partei- und Vereinsblättern, Positionspapieren [4] oder in Arbeitsgruppen und Fachkommissionen – etwa zu den Themen Umwelt, Landwirtschaft, Konsum oder unmittelbar zum Thema Tiere und tierbasierte Ernährung – kann man Einfluss nehmen.

Nicht zuletzt stehen uns hierzulande natürlich auch die (direkt-)demokratischen Mittel und Wege offen. Die Formierung einer vegan-abolitionistischen Pressure Group, die – ähnlich beispielsweise der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) – auch parteipolitisch hervorragend vernetzt ist und von entsprechenden Ressourcen profitiert, ist längerfristig gewiss erstrebenswert. Parlamente (bzw. Kandidaturen) bieten, wo erreichbar, selbstverständlich auch ein hervorragendes Forum.

Der Vorteil der Demokratie

Allgemein zeigt sich in diesem Zusammenhang ein entscheidender Vorteil der Demokratie gegenüber dem Markt: Die ethisch-politische Einstellung vieler Menschen unterscheidet sich erheblich von ihrem faktischen Marktverhalten. Psychologisch scheint es leider so zu sein, dass wir unsere eigenen Prinzipien oft vergessen, sobald ihre Umsetzung mit den geringsten individuellen und sozialen Kosten verbunden ist. So wird in Umfragen etwa mehrheitlich angegeben, man sei gegen die Massentierhaltung, während das Konsumverhalten entsprechende Veränderungen vermissen lässt.

Diese Divergenz kommt uns entgegen, wenn wir politische Aktionsformen wählen. Einer Initiative u.a. der VeginossInnen ist es beispielsweise fast gelungen, die Forderung nach einer vegetarisch-veganen Mensa durch den Zürcher Studierendenrat zu bringen: Zwei Stimmen haben gefehlt – und unsere düsteren Erwartungen Lügen gestraft. Mit deutlichem Mehr verabschiedet wurde schliesslich ein Gegenvorschlag, der nicht fünf, sondern lediglich einen vegetarischen Wochentag vorsieht, ansonsten aber alle ursprünglich geforderten Punkte enthält: tägliches veganes Menü, Verbilligung des Salatbuffets auf den Pauschalpreis und bessere Deklaration.

Im Studierendenparlament ernährt sich nur eine Minderheit vegetarisch und kaum jemand vegan. Dennoch waren Mehrheiten für strukturelle Veränderungen zu gewinnen. Werden sie tatsächlich umgesetzt, erleichtern sie ihrerseits den ethischen Bewusstseinswandel, indem sie die psychologisch-praktische Wirkung der veganen Argumente verstärken. (Wie die politische Linke seit Gründerzeiten weiss, bestimmt das Sein das Bewusstsein – zumindest signifikant mit. Das dürfte auch für die erwähnte In-vitro-Technologie gelten. [5])

Nachfrageträgheit und Angebotshebel

Insofern ist es von Bedeutung, nicht nur zu individuellen Köpfen und Herzen zu sprechen, sondern eine dezidiert politische Linie zu fahren und, wo immer möglich, sozioökonomische Strukturen zu verändern. Dazu kann auch die direkte Schaffung bzw. Erweiterung des veganen Marktangebots unsererseits gehören. Der moralische Appell an die KonsumentInnen jedenfalls wird es allein nicht richten – das zeigt exemplarisch auch die Geschichte der Umweltbewegung.

Denn die Nachfrageseite des Marktes lässt sich nur schwer beeinflussen: Was im Angebot steht und billig ist, wird gekauft. Wer als Produzent ökosoziale und tierethische Standards einhält, nimmt Marktnachteile in Kauf und kann sich höchstens marginal etablieren. Das erschwert Veränderungen auf der Nachfrageseite zusätzlich, weil sich mit Nischenmärkten begnügen und nicht selten auch noch Aufpreise bezahlen muss, wer ethisch bewusst konsumiert.

Dagegen bietet die Angebotsseite quantitativ formidable Hebelwirkungen – wenn es denn gelingt, die Hebel zu betätigen. Gewiss: Wer strukturelle Veränderungen anstrebt, muss zunächst Individuen überzeugen, als KonsumentInnen und politische Akteure. Es spricht aber einiges dafür, den Fokus möglichst bald auf sozioökonomische Hebel zu richten, so bescheiden sie auch sein mögen, zumal politische Kontexte uns ja erlauben, beides zu verbinden: den individuellen Appell und den strukturellen Fokus.

Vegane AktivistInnen können in der Politik nur gewinnen

Nicht zuletzt ist es – und dies verstärkt die positive Tendenz, die sich aus der Abweichung der ethischen Einstellung vom Konsumverhalten ergibt – naturgemäss und statistisch so, dass wir in der Demokratie weniger Leute überzeugen müssen als auf dem Markt, um einschneidende Veränderungen zu erwirken: Es genügen Mehrheiten innerhalb der gesellschaftlichen Teilmenge der politisch Nicht-Abstinenten. Sie nehmen zudem, insbesondere wenn sie in Parteien organisiert sind, Impulse nicht nur aus der Gesellschaft auf, sondern prägen die Gesellschaft umgekehrt auch aktiv mit, indem sie Themen setzen, Positionen erarbeiten und sie ihrer aktuellen und potenziellen Basis anempfehlen, ja aufdrängen.

Die progressiven Bewegungen und Parteien werden wir wohl oder übel gewinnen müssen, denn das tierrechtliche Anliegen ist letztlich ein rechtliches, gesetzliches. Alleine der Beitritt und die sichtbare Mitgliedschaft der VeganerInnen macht politische Vereinigungen tierrechtsfreundlicher – und löst vielleicht Entwicklungen aus, die man bei den linksgrünen Jungparteien schon ausmachen kann und die, so darf man hoffen, Zuversicht rechtfertigen.

Fussnoten

[1] Auch Marx war der Meinung, das Ziel müsse darin bestehen, dass „jedem nach seinen Bedürfnissen“ gegeben werde. Zeitgenössische Marxisten wie Marco Maurizi sehen das genauso, stellen aber endlich und folgerichtig den Speziesismus in Frage: Wenn es die Bedürfnisbefriedigung ist, die letztlich zählt, kann die Artzugehörigkeit eines Wesens, das Bedürfnisse und an ihrer Nicht-Befriedigung zu leiden hat, keine Rolle spielen.

[2] Für die folgenden Zitale vgl. Leonard Nelson, System der philosophischen Rechtslehre und Politik, in: Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik, Göttingen 1924; System der philosophischen Ethik und Pädagogik, in: Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik, Göttingen 1932.

[3] Parallel zum und verbunden mit dem Atomausstieg ist auch der Fleischausstieg auf die Agenda der ökosozialen Bewegung zu setzen. Wir müssen an ihr partizipieren und uns aktiv einbringen, etwa bei Protest-Picknicks oder in Klimacamps – nicht nur als Catering-Team, sondern als unentbehrlicher Teil einer universellen Befreiungsbewegung.

[4] Auf Antrag der VeginossInnen (Arbeitsgruppe der Juso) wurden ein nationaler Vegi-Tag sowie eine Fleischsteuer in das Positionspapier zur Energie- und Umweltfrage aufgenommen (S. 5).

[5] Dazu Martin Balluch in seinem Artikel über Abschaffung versus Reformierung der Nutztierhaltung: „Regarding meat, the biggest hope for vegan alternatives lies in plant based meat substitutes and tissue engineered meat, i.e. in-vitro produced muscle cell cultures […]. If this kind of future food can establish itself on the market, it will be in direct competition with animal meat. When strict animal laws make the production of animal meat much more costly, then the ground is set for tissue engineered meat to win out. That would further accelerate the abolition process of animal production, since weakened animal industries mean harsher animal laws. If tissue engineered meat manages to completely eradicate animal meat, then a ban on animal farming of any kind will be coming by itself. And that we managed to achieve without having changed people to vegans first. In fact, most people could still eat the same sort of meat, consisting of the same cells. But because of the psychological continuum from animal welfare to animal rights, a shift in public attitudes towards animal rights and veganism will be expected in practice. When all animal usage is banned, then animal rights will be established in no time.“

Adriano Mannino studiert Philosophie, ist tif-Mitglied und engagiert sich in der Juso und SP, bei der Décroissance und den Freidenkern. Er kandidiert auf der Berner Juso-Liste für den Nationalrat.

Weitere tif-Materialien zum Thema

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5 Kommentare

Stefan
vor 11 Jahre

Vielen Dank für diesen grundlegenden Text. In meinem Blog verweise ich sehr häufig auf ihn und wüsste gar nicht recht, was ich ohne ihn machen würde.

Beat Stocker
vor 12 Jahre

Als ich vor ca. zehn Jahren Veganer wurde, war ich noch in der SP. Als meine vegane Lebensweise
in der Partei bekannt wurde, bezichtigte mich eine Parteikollegin (Gemeinderätin) der Menschenverachtung, des Rechtsextremismus und hielt mir einen Weltwoche-Artikel unter die Nase. Die Logik war folgende: Wenn ich Tieren gleichwertig das Leben zugestehe wie dem Menschen, hiesse das ja, dass ich nichts gegen die Heuschreckenschwärme, die in Afrika den Menschen das ganze Getreide wegfressen, unternehmen würde. Tja, so simpel ist das.

Waldemar Santi
vor 12 Jahre

Solange es Schlachthäuser gibt wird es Schlachtfelder geben. Tolstoi

Fridolin Fröhlich
vor 12 Jahre

Lieber Adriano,

vielen Dank für diesen überaus weitsichtigen Beitrag. Mögen ihn möglichst viele Menschen rezipieren und bedenken. Endlich einmal jemand, der mir aus der Seele spricht! Danke, vielen Dank!

Liebe Grüße aus Heidelberg.

Dänu
vor 12 Jahre

I like it, Adriano! 😀

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