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Rezension

„Angewandte Ethik“ (D. Fenner)

Die Philosophin Dagmar Fenner hat eine übersichtliche und gut verständliche Einführung in die Angewandte Ethik geschrieben; das Spektrum der behandelten Themen reicht von Medizinethik über Naturethik bis hin zu Medienethik. Das Buch richtet sich an alle, die sich für die Anwendung moralischer Prinzipien auf konkretes menschliches Handeln interessieren. Eine Rezension von Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Dagmar Fenner, Einführung in die Angewandte Ethik,
UTB 2010, ca. CHF 35.–

Nach ihrem Buch über Positionen der philosophischen Ethik (UTB 2008) hat Dagmar Fenner nun auch eine Einführung in die Angewandte Ethik verfasst. Neben der Metaethik, die sich mit den ethischen Grundbegriffen und Begründungsmethoden beschäftigt sowie der deskriptiven Ethik, die Wertvorstellungen und Normen in kulturell-gesellschaftlichen Gemeinschaften beschreibt, befasst sich die normative Ethik traditionell mit der Frage des moralischen Handelns. Eine Teildisziplin dieser normativen Ethik bildet die Angewandte Ethik, die allgemeine Moralprinzipien auf konkrete Problembereiche „anwendet“. Das Spektrum dieser Bereiche reicht von Medizinethik über Naturethik bis hin zu Medienethik.

Zielpublikum

Fenners Buch bietet auf über 400 Seiten eine umfassende Übersicht über die zentralen Themen der Angewandten Ethik. Die Kapitel bilden in sich geschlossene Einheiten und können einzeln gelesen werden. Dabei gelingt es der Autorin durchs Band, komplexe Problemstellungen allgemeinverständlich zu erläutern. Besonders hilfreich sind die zahlreichen Tabellen und Grafiken, mit denen die unterschiedlichen Positionen zusammengefasst werden. Überdies arbeitet Fenner häufig mit Beispielen aus der Alltagspraxis, was zusätzlich dazu beiträgt, dass dieses Buch nicht bloss für Studierende geeignet ist, sondern ein breites Publikum anspricht, das sich für die Anwendung moralischer Prinzipien auf konkretes menschliches Handeln interessiert.

Inhalt

In der Einleitung befasst sich Fenner mit allgemeinen, aber überaus hilfreichen Reflexionen über den Gegenstandsbereich der Ethik, einer Standortbestimmung der Angewandten Ethik sowie mit dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, das sich grundsätzlich auf zweierlei Art charakterisieren lässt: Während im deduktiven oder top-down-Modell konkrete Handlungsanweisungen aus allgemeinen Moralprinzipien abgeleitet werden („deduzieren“), geht es im induktiven oder bottom-up-Ansatz darum, solche Prinzipien allmählich aus praktischen Situationen herzuleiten („induzieren“).

Im Anschluss daran widmet sich Fenner eingehend den unterschiedlichen Bereichen der Angewandten Ethik:

Kapitel 1 behandelt die Medizinethik mit Schwerpunkten u.a. in Sterbehilfe und Suizidbeihilfe, Schwangerschaftsabbruch und Fragen der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Ein weiteres Kapitel hat die Wissenschaftsethik zum Thema, die sich mit dem verantwortungsvollen Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt, wobei Fenner konkrete Anwendungsbeispiele wie Humanexperimente und Stammzellenforschung diskutiert. Im Rahmen der Technikethik geht es um ethische Schwierigkeiten bei der Herstellung, Nutzung sowie Entsorgung der vom Menschen erzeugten technischen Mittel; auch hier spielt Verantwortung die zentrale Rolle, wie am Beispiel der Gentechnik veranschaulicht wird. In einem umfangreichen Kapitel zu Medienethik werden die mannigfaltigen Probleme der Gewinnung, Aufbereitung und Rezeption von Informationen besprochen, die über die (Massen-)Medien vermittelt werden; Fenner unterscheidet zwischen der Produzentenethik, welche die ethische Beurteilung von Nachrichten, Unterhaltung und Werbung umfasst sowie der Rezipientenethik, die den verantwortungsvollen individuellen sowie sozialethischen Umgang mit Medien betrifft. Der Abschnitt über Wirtschaftsethik behandelt ethische Probleme, die sich bei der Erzeugung, Verteilung und Nutzung materieller Güter zum Wohlergehen der Menschen ergeben.

Nebst den genannten Bereichen widmet sich Fenner auch ausführlich der (für uns besonders interessanten) Naturethik. Die Autorin richtet ihre Darstellung an den beiden Eckpfeilern der Debatte aus: Während nach anthropozentrischer Lehre allein dem Menschen moralische Bedeutung zukommt (griech. „anthropos“ = Mensch) und der Rest der Natur allenfalls instrumentellen Wert aufweist, hat nach radikal physiozentrischer Auffassung die Natur als Ganzes moralischen Status (griech. „physis“ = Natur).

Zwischen diesen Positionen ist der Pathozentrismus angesiedelt, der die Empfindungs- oder Leidensfähigkeit von Wesen als moralisch relevantes Merkmal auszeichnet (griech. „pathos“ = Leiden); er wird heutzutage von fast allen Ansätzen innerhalb der traditionellen Tierethik vertreten. Wie Fenner zu Recht hervorhebt, bietet die moralische Beschränkung auf die Vermeidung von Leiden den (meisten) empfindungsfähigen Wesen nicht automatisch auch einen Schutz oder gar ein Recht auf Erhaltung des Lebens. Diese Forderung wird üblicherweise vom Biozentrismus formuliert, der das Leben als das entscheidende, moralisch relevante Charakteristikum ins Zentrum der Ethik stellt (griech. „bios“ = Leben).

Kritik

  • Fenners Buch zeichnet sich durch einen klaren, an den einzelnen Bereichen der Angewandten Ethik ausgerichteten Aufbau aus. Dabei ist die Autorin um eine ausgewogene Präsentation und Gegenüberstellung der einzelnen Positionen bemüht. Ihre Auswahl beschränkt sich weitgehend auf traditionelle Ansätze, was das Diskussionsspektrum bisweilen einschränkt. Im Kapitel zur Naturethik beispielsweise charakterisiert Fenner den Kontraktualismus als Ansatz, der (anders als der Pathozentrismus) nicht auf Gemeinsamkeiten, sondern auf Unterschiede zwischen Menschen und Tieren fokussiert. Das allerdings dürfte in in dieser Allgemeinheit nicht zutreffen, sobald man neuere Versionen der Vertragstheorie wie etwa jene von Mark Rowlands mitberücksichtigt. Ebenfalls lohnend wäre in diesem Zusammenhang die Diskussion des Ansatzes von Gary L. Francione, der pathozentrische und tierrechtlerische Ideen fusioniert und damit u.a. konkret auf den von Fenner erwähnten Punkt reagiert, dass PathozentristInnen das Töten von Tieren gegenüber der Frage des Leidens nicht zwingend als isolierte Problematik auffassen sollten.
  • Dass Fenner eine möglichst neutrale Darstellung der Positionen anstrebt, bedeutet nicht, dass sie ihre eigenen Auffassungen ausklammert. Leider kommen sie häufig aber zu kurz oder werden bloss angetippt. Beispielsweise bekundet die Autorin zu Beginn des Buches eine gewisse Sympathie für die von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel entwickelte Diskursethik. Die Beschränkung dieses Ansatzes auf sprach- und handlungsfähige Wesen sollte nach Fenner insofern aufgehoben werden, als „nicht diskursfähige“ Wesen wie z.B. Tiere in einem „advokatorischen“ Diskurs vertreten werden. Tatsächlich taucht diese Idee u.a. auch im Zusammenhang mit der Tierethik wiederum auf. Nur bleibt weitgehend unklar, wer überhaupt als AdvokatIn der Tiere in Frage kommt bzw. was eine solche Person gegenüber wem genau vertreten soll oder kann: Sind es die Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Wesen oder ist es ‚bloss‘ deren „Schutzwürdigkeit“, die von den AdvokatInnen geltend gemacht wird?
  • Für die LeserInnen hilfreich wäre ein Schlusskapitel gewesen, das die zentralen Herausforderungen der gegenwärtigen Angewandten Ethik über die einzelnen Bereiche hinaus noch einmal zusammenfasst sowie Perspektiven für eine zukünftige Auseinandersetzung mit diesen Themen entwirft.

Ungeachtet dieser kritischen Bemerkungen bietet Fenners Buch eine sehr gut zugängliche Einführung in die Anwendung ethischer Normen auf konkrete Handlungsweisen und ist als zuverlässige Übersicht über die gängigen Positionen der Angewandten Ethik unbedingt zu empfehlen.

Dagmar Fenner ist Titularprofessorin an der Universität Basel und Dozentin an der Universität Tübingen. Ihre Schwerpunkte liegen in Anthropologie, Ästhetik, Ethik und Angewandte Ethik. Sie hat zahlreiche Aufsätze und Bücher verfasst, so u.a. Das gute Leben (2007), Suizid (2008) und Ethik (2008).

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