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Interview

„Das Tierschutzgesetz stellt lediglich die Grenze zur Tierquälerei dar“

Im Februar 2016 hat tier-im-fokus.ch (TIF) Material aus einer Hühnermast im Berner Seeland veröffentlicht. Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) hat in der Folge die Behörden eingeschaltet. Tobias Sennhauser wollte von der Juristin Michelle Richner (TIR) wissen, wieso.

Text: Tier im Fokus (TIF)

TOBIAS SENNHAUSER: Haben Sie die Aufnahmen erstaunt? MICHELLE RICHNER: Nein, leider nicht. Solche Bilder sind zwar immer wieder erschütternd. Dennoch gehören sie zu unserem Alltag, in dem wir immer wieder mit den Schattenseiten der Mensch-Tier-Beziehung konfrontiert sind. Das Schweizer Tierschutzgesetz gilt als das strengste seiner Art. Wieso herrschen dennoch solche Zustände? Ja, zwar ist das Schweizer Tierschutzrecht im Vergleich mit dem Ausland sehr streng, jedoch wurden vom Gesetzgeber vor allem bei den Nutztieren viele Kompromisse zu Lasten der Tiere gemacht. Das Verbesserungspotential ist auch hierzulande noch immer sehr hoch. Zu bedenken ist ausserdem, dass das Tierschutzgesetz lediglich die Grenze zur Tierquälerei darstellt. Werden die Mindestvorgaben nicht eingehalten, befinden wir uns im strafrechtlichen Bereich. Entsprechende Verstösse sind zu ahnden. Es ist ferner zwischen Tierhaltungen zu unterscheiden, die dem Gesetz nicht genügen und jenen, die zwar den rechtlichen Mindestvorgaben entsprechen, aber gemäss unserem Empfinden nicht tierschutzkonform sind. Zum Beispiel? Stossend ist für mich beispielsweise, dass Rinder generell angebunden oder Kälber einzeln gehalten werden dürfen. Auch das Kürzen des Schwanzes von Lämmern oder Touchieren der Schnäbel bei Haushühnern ohne Schmerzausschaltung ist meiner Meinung nach nicht tierschutzkonform. Oder die für Katzen vorgesehene Mindestfläche von sieben Quadratmetern entspricht nach meinem Gefühl nicht einer artgerechten Haltung. Zurück zu den Hühnern. Die TIR hat beim Berner Kantonstierarzt Reto Wyss sowie bei der Kantonspolizei eine Meldung eingereicht. Was ist aus tierschutzrechtlicher Sicht zu bemängeln? Die Aufnahmen legen die Vermutung nahe, dass der Hühnermastbetreiber seine Tierhalterpflichten verletzt hat. Art. 6 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes (TSchG) verpflichtet Halter unter anderem, ihre Tiere angemessen zu pflegen. Wer seine Tierhalterpflichten verletzt, erfüllt bereits den Tatbestand der Vernachlässigung und begeht damit eine Tierquälerei im Sinne des Gesetzes. Im vorliegenden Fall wurden die Hühner offensichtlich nicht ausreichend gepflegt, was zu ihrer Vernachlässigung und möglicherweise auch zu ihrem qualvollen Tod geführt hat. Medial zu reden gaben insbesondere die vielen toten Tiere. Tatsächlich ist die hohe Mortalitätsrate in der Hühnerindustrie ein offenes Geheimnis. Tangiert das nicht die Würde des Tieres? Doch, eine Haltungsform mit einer hohen Mortalitätsrate tangiert die Würde der Tiere offensichtlich. Indem die Tiere in ihrer Gesundheit und damit in ihrem Wohlergehen so stark beeinträchtigt werden, dass eine bestimmte, einkalkulierte Menge an Tieren stirbt, würdigt man das individuelle Leben eben gerade nicht. Damit liegt ein klassisches Beispiel einer übermässigen Instrumentalisierung vor. Und das ist gesetzeskonform? Leider ja. Diese Form der Würdeverletzung wird durch überwiegende gesellschaftliche Interessen an der Fleischgewinnung gerechtfertigt. Natürlich ist diese vermeintliche Rechtfertigung aus tierschützerischer Sicht stark zu kritisieren. Nun werden also die Behörden eingeschaltet. Nun moniert die TIR immer wieder, dass der Vollzug bei Tierschutzdelikten mangelhaft ist. Lohnt es sich überhaupt, Tierschutzverstösse den Behörden zu melden? Ja, Tierschutzverstösse sind auf jeden Fall zur Anzeige zu bringen. Nur wenn TierquälerInnen für ihre Taten auch bestraft werden, kann eine abschreckende Wirkung auf künftige TäterInnen erzielt werden. Wir setzen uns deshalb neben der Verschärfung des Vollzugs, was insbesondere in Form einer Sensibilisierung der zuständigen Ämter und Personen geschieht, auch für eine Sensibilisierung der Bevölkerung ein. Denn Zivilcourage kommt letzten Endes den betroffenen Tieren zu Gute. Die Stiftung für das Tier im Recht feierte jüngst ihren 20. Geburtstag und verlieht erstmals den Tierschutzrecht Award.

Tierquälerei melden

Sind Sie Zeuge oder Zeugin einer Tierquälerei geworden und möchten die Behörden einschalten? Die TIR hat dazu eine Checkliste verfasst. Nützlich ist auch die Vorlage für eine Anzeige (S. 41) des Schweizer Tierschutz. Beide Dokumente liefern gleichzeitig eine Einführung in das Tierschutzrecht.

Weitere TIF-Materialien

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