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Reflexion

Gewaltlose Praxis

"Gewaltlosigkeit": ein oft verwendetes und grosses Wort. Doch was steckt eigentlich hinter diesem Ausdruck? Und wie drückt sich Gewaltlosigkeit im alltäglichen Handeln aus? tif-Mitglied Urs Müller hat sich darüber einige Gedanken gemacht.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Ich habe mich schon des Öfteren gefragt, was „Gewaltlosigkeit“ im praktischen Sinne bedeutet und was hinter diesem oft verwendeten und grossen Wort eigentlich steckt. Ein Wort, das man fast ausschliesslich positiv braucht und dessen Inhalt für den Menschen als erstrebenswert gilt. Auf diese Frage möchte ich nachfolgend versuchen, eine Antwort zu geben und ich wage mich deshalb an eine Definition von Gewaltlosigkeit, die mir sinnvoll erscheint.

Was ist Gewalt und wem kann ich sie antun?

Jemandem Gewalt antun, was heisst das? Unterschieden werden normalerweise zwei Arten von Gewalt, nämlich körperliche und psychische Gewalt. Darunter versteht man die Verletzung der körperlichen oder psychischen Integrität von jemandem. Das grundsätzliche Motiv hinter einer Gewaltanwendung ist der Versuch, einem anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, und zwar gegen dessen Einverständnis.

Dabei stellt sich notwendigerweise die Frage, gegen wen man überhaupt gewalttätig sein kann. Zur Beantwortung dieser Frage gehe ich von obiger Unterscheidung zwischen körperlicher und psychischer Gewalt aus. Ich überlege mir also, wer über körperliche und/oder psychische Integrität verfügt. Anders formuliert heisst das: Welche Wesen haben ein Interesse daran, ohne Zwang und Leid ihren Bedürfnissen nachzugehen? Das sind zweifelsohne alle Wesen, die ein eigenes Wohlbefinden haben, denen es folglich besser oder schlechter ergehen kann, also alle Wesen, die Schmerz oder Lust empfinden können.

Potentielle Opfer von Gewalt sind dementsprechend alle empfindsamen Tiere. Dazu gehören nach heutigem wissenschaftlichen Stand alle Wirbeltiere – also Säugetiere inklusive Menschen, Vögel, Reptilien, Fische und Amphibien – und gewisse höher entwickelte Wirbellose wie Tintenfische oder Krebse.

Gewaltlosigkeit: eine Definition

Es fällt jetzt nicht mehr allzu schwer zu bestimmen, was „Gewaltlosigkeit“ bedeutet. Mein Vorschlag lautet:

Gewaltlosigkeit ist die Unterlassung von Handlungen, mit welchen ich einem empfindungsfähigen Wesen durch absichtliche Verletzung seiner körperlichen und psychischen Integrität, meinen Willen aufzwingen will.

Diese Definition legt Gewaltlosigkeit aber nur negativ fest (in der Philosophie werden die Begriffe „negativ“ und „positiv“ nicht wertend im Sinne von „gut“ und „schlecht“ verwendet). Das heisst, sie charakterisiert gewaltlose Handlungen lediglich durch die Nichtanwendung von Gewalt.

Allerdings impliziert Gewaltlosigkeit auch eine positive Bestimmung. Wenn ich jemandem keine Gewalt antue, weil ich damit dessen Bedürfnisse und Interessen absichtlich ignorieren und verletzen würde, bedeutet das nichts anderes, als dass ich dieses Wesen als Individuum achte.

Das positive Motiv von Gewaltlosigkeit ist also die Achtung vor dem Wohlbefinden und der Selbstbestimmung des anderen, denn eine gewalttätige Handlung verletzt diese Achtung.

Gewaltlose Praxis

Wie drückt sich Gewaltlosigkeit im alltäglichen Handeln aus? Meiner Meinung nach sollte man sich zunächst fragen, mit welchen Handlungen man im Alltag Gewalt gegen andere ausübt. Dazu gehört selbstverständlich auch indirekte Gewaltausübung. Wenn ich jemanden dafür bezahle, dass eine mir unliebsame Person verprügelt wird, dann bin ich der Auftraggeber einer Gewalttat und deshalb ebenfalls gewalttätig.

Nun gehören ja, wie bereits gezeigt, nicht nur Menschen zu den möglichen Gewaltopfern, sondern auch alle anderen fühlenden Tiere. Ich frage mich folglich also, in welchen Handlungen des Alltags man auch nichtmenschlichen Tieren direkt oder indirekt Gewalt antut, zum Beispiel im eigenen Konsumverhalten. Man wird merken, dass sich der Konsum von Fleisch und allen anderen Tierprodukten wie etwa Milch, Eier oder Leder mit dem Konzept von Gewaltlosigkeit nicht vereinbaren lässt, weil für deren Herstellung massenhaft Individuen gezüchtet, eingesperrt, gequält und getötet werden. All das stellt eine fundamentale Missachtung jener Individuen dar, die als Wesen mit eigenem Wohlbefinden Achtung verdienen.

Ebenfalls unvereinbar mit den Grundsätzen der Gewaltlosigkeit ist der Konsum von Produkten, die von Menschen in Entwicklungs- oder Schwellenländern und vereinzelt auch in Industrieländern unter schlimmsten Bedingungen hergestellt werden. Dazu gehören zum Beispiel Billigkleider, gewisse Früchte-, Kaffee- und Schokoladenmarken.

Ist diese Praxis praktikabel?

Zum Schluss erscheint es mir wichtig zu sagen, dass ein gewaltloser Lebensstil keineswegs utopisch, sondern ohne weiteres möglich ist, und zwar ziemlich einfach und ohne grössere Einbussen. Natürlich wird es immer Situationen geben, wo man sich nicht bewusst ist, dass man mit seiner Handlung direkt oder indirekt Gewalt ausübt. Aber das ist kein Argument, nicht so gut es geht gewaltlos zu leben.

Denn es lohnt sich, und zwar nicht nur für all die Menschen und anderen Tiere, die deshalb nicht wegen uns Leiden oder gar Tod erfahren müssen, sondern auch, weil man dadurch ein wichtiges Zeichen gegen Gewalt und Unterdrückung setzt und andere Menschen damit zum eigenen Hinterfragen ihrer Handlungen führt.

Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die Menschheit es bitter nötig hat.

Urs Müller ist Aktiv-Mitglied von tier-im-fokus.ch (tif) und studiert gegenwärtig an der Uni Luzern Philosophie. Weitere Artikel von ihm:

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1 Kommentar

Susi Sonnenschein
vor 13 Jahre

Ich möchte bei diesem Thema auch den Begriff der _Gewaltlosen_ Kommunikation_ in die Runde werfen. Das betrifft nur unsere Spezies intern, finde ich aber beim Thema Gewaltlosigkeit dennoch essentiell.

Ich finde tatsächlich, dass jeder, der beruflich sozial interagiert (Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte, aber auch jeder Chef), sollte das Buch von Marshall Rosenberg gelesen haben. Für werdende Eltern sollte es zur Pflichtlektüre gehören.

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