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Nutztierhaltung

Die Spitze des Horns

Immer wieder führt die Enthornung von Kälbern zu hitzigen Debatten. Ein notwendiges Übel, sagen die einen, absolut ungerechtfertigt, meinen die anderen. In einem sind sich die beiden Lager aber einig: das Wohl der Tiere hat Priorität, beteuern sie. Und lenken vom Thema ab. Von Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

Und schon wieder scheiden sich am Enthornen der Kälber die Bauerngeister. Dieses Mal geht es um den Zeitpunkt: Das Schweizerische Bundesamt für Veterinärwesen (BVET) meint, die dafür beste Gelegenheit seien die ersten drei Lebenswochen. Die Wunde sei dann klein und dem Kalb zumutbar. Das mag zwar sein, doch gebe es Rassen wie Holstein und Limousin, die in diesem Alter noch über keine Hornknospen verfügen, kontern die Bauern. Sie wollen deshalb eine Frist von bis 12 Wochen. Doch Heinrich Binder, Leiter in Sachen Tierschutz beim BVET, lässt den Einwand nicht gelten: Für ein drei Monate altes Kalb wäre die Belastung zu gross. Zudem sei bei ausnahmslos allen Kälbern der Hornansatz nach spätestens drei Wochen spürbar, man brauche ihnen bloss die Haare vom Kopf zu scheren.

Horn oder nicht Horn?

Ein Streit zwischen Theorie und Praxis? „Die Frage ist doch, wie ich die Kälber am freundlichsten enthorne, ohne dass sie mich danach böse angucken“, meint Peter Fankhauser in der Bauernzeitung (vom 22. Juli 2011). Für ihn ist bei dieser ganzen „Kalberei“ das Tierwohl zu beachten, das habe Priorität.

Das sieht auch KAGfreiland so und zieht ganz andere Konsequenzen: Die Enthornung sei eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des tierlichen Wohlergehens und daher gesetzeswidrig. Für das ganze Prozedere würden nämlich vorab wirtschaftliche Gründe sprechen, denn Kühe ohne Hörner brauchen weniger Platz. Also mehr Kühe auf demselben Fleck. Die natürlichen Bedürfnisse der Tiere würden dabei ignoriert, ist die Nutztierschutz-Organisation überzeugt. Und lancierte 2010 mit Horn auf! eine landesweite Kampagne gegen die alljährliche Enthornung von 200.000 Kälbern.

In Portionen das Sozialverhalten ausleben

Dass die Enthornung tatsächlich eine Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens darstellt, wird niemand mehr ernsthaft bestreiten wollen. Von einem Eingriff, der „massiven Schmerz erzeugt“ und für das Kalb Stress bedeutet, spricht auch Binder. Nicht weniger selbstverständlich ist die verengte Perspektive, die solchen Debatten über das Wohlergehen der Tiere zugrunde liegt.

So wird zwar das natürliche Sozialverhalten der Rinder herbeizitiert, das durch eine Enthornung nachhaltig gestört werde. Davon aber, dass auf fast allen Schweizer Bauernhöfen die Kälber ihren Müttern schon kurz nach der Geburt weggenommen und daraufhin einzeln in „Iglus“ gesperrt werden, damit sie sich nicht gegenseitig besaugen, ist nicht die Rede. Und das, obschon die innige Beziehung zwischen Kühen und ihren Kälbern schon lange dokumentiert ist.

Bio macht da im Übrigen keine nennenswerte Ausnahme: „Manche Bauern trennen die Kälber sofort nach der Geburt von ihren Müttern, andere nach ein paar Tagen“, sagt Denise Marty von KAGfreiland, und fügt hinzu: „Der Trennungsschmerz wird nach längerer gemeinsamer Zeit schlimmer“. Liesse man die Kälber zweimal täglich vor dem Melken an den Kühen saugen, könne das u.a. „Einbussen hinsichtlich der lieferbaren Milchmenge“ zur Folge haben. Eine Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens aus bloss ökonomischen Gründen?

„Für uns am wichtigsten ist es, dass alle Tiere täglichen Auslauf haben“, sagt Marty. Und zwar von klein auf. Gewöhnlich sind das Gruppen von Gleichaltrigen, im Jargon redet man auch vom „Kälber-Kindergarten“. Was, wenn es denn um das Sozialverhalten von Rindern geht, allerdings beschönigend klingt. Denn Rinder sind Herdentiere mit straffen Hierarchien und würden auch im domestizierten Zustand in „nichtanonymen Sozietäten“ leben, wie diese Gruppen von männlichen und weiblichen Tieren unterschiedlichen Alters und Ranges in der Verhaltensforschung genannt werden.

Dass eine intakte soziale Ordnung die Voraussetzung bildet für den Zusammenhalt, die gegenseitige Pflege sowie Gesundheit der Tiere und damit unabdingbar ist für deren Wohlergehen, räumt auch Marty ein: „Ideal wäre sicher, wenn Tiere unterschiedlichen Alters miteinander gehalten werden könnten.“ Im richtigen Nutztierleben ist das aber (von wenigen Ausnahmen abgesehen) schon aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht vorgesehen: Die Kälber werden bereits nach wenigen Wochen nach Geschlecht sortiert, die einen kommen in die Mast, die anderen werden künstlich besamt und zu Milchkühen gemacht.

Profit über Wohlergehen

Profitüberlegungen beschneiden praktisch immer das Wohl der Tiere, Verstümmelungen wie das Kupieren von Schwänzen bei Lämmern, das Weglöten der Schnabelspitze bei Hühnern oder die Enthornung von jungen Rindern ist nur die äusserste, sichtbarste Spitze.

Dahinter steht ein penibel durchdachtes System, das die Tiere als wirtschaftliche Grösse begreift und ihnen entsprechende Rollen zuweist: „Milchkühe“, „Mastschweine“ oder „Legehennen“ zum Beispiel. Und hier wie dort wird ihr natürliches Verhalten an ökonomische Bedingungen angepasst, die zumeist unhinterfragt bleiben. Hinter der Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens zum Zwecke der Milchgewinnung, der Fleisch- oder Eiproduktion stehen offenbar menschliche „Erhaltungsinteressen“, die als notwendige Bedürfnisse durch das Gesetz geschützt sind und damit als „gerechtfertigt“ ausgewiesen werden.

Über Alternativen, die es in Wohlstandsländern wie der Schweiz durchaus gibt, wird hingegen kaum offen diskutiert. Dabei wäre eine sachbezogene Debatte etwa über eine Ernährung ohne tierliche Produkte nicht nur zeitgemäss, sondern auch Teil der vom Gesetzgeber vorgesehenen Güterabwägung zwischen menschlichen und tierlichen Interessen. Denn was am Beispiel der Enthornung zu Recht hinterfragt wird, muss auch im Grossen gelten dürfen: Ist eine Beeinträchtigung tierlichen Wohlergehens tatsächlich notwendig? Oder gibt es Alternativen?

Auf der Suche nach dem Hörnerstar

Derweil machen sich Biobauern in diesen Tagen auf die Suche nach dem Hörnerstar 2011. Chancen haben nur wenige, denn inzwischen sind auch hierzulande 9 von 10 Kühen „oben ohne“, wie man so sagt. Odysseus jedenfalls, der im Emmental sein Leben verbringt, kommt nicht in die Kränze. An Hörnern fehlt es dem 15jährigen Schwarzen mitnichten, nur dürfen bei diesem nationalen Wettbewerb bloss weibliche Rinder teilnehmen.

Was ja naheliegt: Die männlichen Kälber werden innert Jahresfrist auf mehrere hundert Kilogramm hochgemästet, dann sind sie – Hornansatz hin oder her – bereits schlachtreif. Und landen beim Metzger. Ob auch ein möglichst langes, selbstbestimmtes Leben zum Wohlergehen der Tiere gehört?

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1 Kommentar

manuel
vor 12 Jahre

guter Artikel 🙂
Vor allem die letzte Frage scheint mir besonders wichtig.

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