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Interview

«Es gab kein milderes Mittel, um den Tieren zu helfen»

Drei Aktivist*innen betraten 2013 heimlich eine Schweinefabrik und dokumentierten die Zustände. Nun wurden sie vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen. Tobias Sennhauser (TIF) sprach mit der Angeklagten Sandra Franz. Heute ist sie Mediensprecherin der Tierrechtsorganisation Animal Rights Watch (ARIWA), die die Bilder damals veröffentlicht hat.

Text: Tier im Fokus (TIF)

TOBIAS SENNHAUSER: Wie begründet das Gericht sein Urteil?
SANDRA FRANZ: Das Oberlandesgericht Naumburg hat uns (wie zuvor zwei andere Gerichte) nach § 34 StGB «Rechtfertigender Notstand» freigesprochen. Das Gericht sah das Rechtsgut Tierschutz in der Anlage mit 63.000 Tieren in einer Art verletzt, die den begangenen Hausfriedensbruch rechtfertigte.

Der Richter befand, dass durch das Filmteam schwerste Missstände aufgedeckt wurden und dass die Untätigkeit der Veterinärbehörden das Handeln der Aktivist*innen rechtfertigte. Es gab kein milderes Mittel, um den Tieren zu helfen. Die Zustände wurden gefilmt und veröffentlicht, um so den nötigen Druck für eine staatliche Verfolgung aufzubauen. Der Richter sah das Handeln der Angeklagten als vollauf gerechtfertigt an, um dem Rechtsgut Tierschutz zur Durchsetzung zu verhelfen.

Wieso blieben die zuständigen Kontrollorgane untätig?
Die lokalen Veterinärämter als Kontrollbehörden bleiben aus unterschiedlichen Gründen untätig: Zum einen existiert eine kommunale Nähe zwischen Veterinäramt und den Betreibenden, welche die Veterinär*innen ungewollt befangen machen kann. Man möchte niemandem Probleme bereiten, den man vielleicht auch mal in der Kneipe trifft. Zum anderen müsste sich ein Veterinäramt, wenn es Verstösse entdeckt, gleichzeitig selbst Versäumnisse attestieren. Denn oft sind Verstösse baulicher Natur (z.B. zu schmale Kastenstände), die auch bei vorhergehenden Kontrollen hätten auffallen müssen.

Und sonst?
Die Amtsveterinär*innen verlieren mitunter den Blick für eine objektive Einschätzung, da sie tagtäglich den gesetzlich legitimierten Quälereien tatenlos zusehen müssen. Dazu kommt eine hohe Arbeitsbelastung, da Veterinärämter systematisch und chronisch unterbesetzt sind. Zudem erwartet sie Gegenwehr der Betreiber: langwierige Rechtsstreitigkeiten und Schadensersatzforderungen.

Aber wir müssen ausserdem ganz klar sagen: auch ohne Rechtsverstösse – bei Einhaltung der absurd niedrigen gesetzlichen Mindeststandards  – leiden die Tiere bereits in einem unvorstellbaren Ausmass. Von daher könnten Kontrollbehörden sowieso nur ein zusätzliches Leid reduzieren. 

Was bedeutet dieses Urteil für die Tierrechtsbewegung?
Auch wenn es erst mal nur ein Einzelfallurteil ist, hoffen wir, dass es die rechtliche Bewertung von Tierrechts-Recherchen grundlegend beeinflussen wird. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass damit ein hohes Gericht in Deutschland anerkannt hat, dass eine Behörde, nämlich das Veterinäramt, bei der Verfolgung von Gesetzesbrüchen versagt. Ein solches Versagen ist für die juristische Fachwelt eigentlich undenkbar. Das Urteil könnte einen Paradigmenwechsel einleiten.

Inwiefern?
Indem das Tierschutzrecht von deutschen Gerichten und Staatsanwaltschaften zumindest ernster genommen wird. Trotzdem wäre es eine Illusion zu glauben, dass die immense Tierausbeutung durch eine etwas tierfreundlichere Rechtsprechung grundlegend geändert würde. Das schaffen wir nur über eine vielfältige und kreative soziale Bewegung, die den Grundsatz, dass Tiere für den Menschen da seien, auf lange Sicht in die gleiche historische Mülltonne fegt.

Letztendlich spiegelt das Urteil ja bereits den Kulturwandel wieder, für den die Tierbefreiungsbewegung seit Jahrzehnten kämpft. Dass Richter unsere Sicht teilen, dass Tiere so nicht behandelt werden dürfen – das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Dass selbst in deutschen Gerichtssälen ein starkes Unwohlsein zum gegenwärtigen Mensch-Tier-Verhältnis herrscht, ist das Verdienst einer bewundernswerten sozialen Bewegung. Es macht Mut, dass wir in Zukunft weiter auf diesen gesellschaftlichen Errungenschaften aufbauen können.

Wie kam es eigentlich zur Anzeige?
Nachdem die verdeckten Aufnahmen im Fernsehen ausgestrahlt worden waren und wir die Verantwortlichen der Schweinezucht wegen Verstosses gegen das Tierschutzgesetz angezeigt hatten, hat der Betreiber im Gegenzug Anzeige gegen Unbekannt erstattet.

Die Polizei hat bei ARIWA nachgefragt, wer die Aufnahmen erstellt hat, und wir haben uns entschieden, mit unseren Namen dazu zu stehen. Wir wollten eine Klärung der juristischen Frage, ob ein Hausfriedensbruch in eine Tieranlage in einem solchen Fall wirklich ein Rechtsbruch ist. Denn wir haben massive tierschutzrechtliche Verstösse aufgedeckt, die vorher vom Veterinäramt gedeckt worden waren, danach aber alle durch eine unangekündigte Kontrolle von höherrangigen Behörden bestätigt wurden.

Das Strafverfahren gegen den Betreiber wurde Ende 2015 eingestellt. Gegen uns wurde weiter ermittelt und wir bekamen Strafbefehle, gegen die wir dann Einspruch eingelegt haben. So kam es zu der Reihe von Prozessen über alle Instanzen hinweg, da die Staatsanwaltschaft sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hat, um gegen die erstinstanzlichen Freisprüche vorzugehen.

Welche Reaktionen auf das Urteil habt ihr erhalten?
Das Urteil hat insgesamt hohe Wellen geschlagen. Alle Medien haben ausführlich berichtet, das Urteil wurde in juristischen Fachforen und von vielen Tierrechts- und Tierbefreiungsgruppen diskutiert. Auch haben sich ausländische Aktivist*innen gemeldet, die in ähnlichen Situationen sind.

Riesiges Medieninteresse, als das Urteil verkündet wurde. | Foto: zVg

Auch in der Agrar-Fachpresse wurde das Urteil ausgiebig besprochen.
Genau. Vertreter*innen der Tierindustrie sprachen von «Selbstjustiz», «Skandal» und einer «Bankrotterklärung». Wie gewohnt wurden wir angegriffen und es wurde eine strengere Strafverfolgung gefordert, statt sich mit der Kritik an der Tierhaltung auseinanderzusetzen und nach Lösungen zu suchen.

Empört wurde verkündet, dass das Eigentumsrecht der Landwirt*innen vorgehe und dass die Tierschützer*innen die Tiere gefährden würden. Dabei sind es die Tierhalter*innen, die den Schweinen tagtäglich Leid zufügen. Auch wurde betont, dass Veterinäre für die Kontrolle von Tieranlagen zuständig seien. Dabei tun die eben ihre Arbeit oft nicht, was alle Gerichte bis zuoberst bestätigt haben.

Auch wurde uns vorgeworfen, Recherchen dienten nur dazu, Spendengelder zu akquirieren. Lustig ist, dass der Vorwurf aus der milliardenschweren Branche kommt, die ein eindeutig finanzielles Interesse daran hat, dass solche Bilder nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Diese Äusserungen zeigen, dass der Gegenseite keine vernünftigen Argumente einfallen.

Im September 2012 veröffentlichte der MDR Videomaterial von ARIWA aus mehreren Bio-Legehennen-Anlagen in Ostdeutschland. Die Aufnahmen zeigten erschreckende, aber weitgehend legale Zustände. Der Betreiber klagte deshalb gegen die Veröffentlichung. In letzter Instanz hat am 10. April 2018 der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass die Ausstrahlung zulässig ist. Worin liegt die Bedeutung von diesem Urteil?
Das Urteil ermöglicht eine ehrlichere Debatte über die Nutztierhaltung, bei der massives Tierleid auch in rechtskonformen Ställen an der Tagesordnung ist.

Wie meinen Sie das?
Nach unserem Freispruch im Februar macht nun auch das BGH-Urteil deutlich, dass das Leid der Tiere keine Privatsache der Stallbetreiber ist. Die Veröffentlichung von Undercover-Recherchen ist vielmehr ein «Beitrag zum geistigen Meinungskampf» in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage: Was wird Tieren wirklich angetan, und zwar ganz legal? Die beiden Urteile geben den Medien bessere Möglichkeiten, das System Tierindustrie zu durchleuchten, und bedeuten eine wichtige Anerkennung unserer Arbeit. Wie wichtig die beiden Urteile sind, zeigt die erklärte Absicht der Bundesregierung, eben diese Arbeit gezielt zu kriminalisieren.

Die Bundesregierung, bestehend aus SPD und CDU, schrieb in ihren Koalitionsvertrag, dass sie «Einbrüche in Tierställe als Straftatbestand effektiv ahnden» wollen.
Genau. Wir gehen auch davon aus, dass der Satz das Resultat von Lobbydruck ist. Das ist ein Versuch, die Tierindustrie zufriedenzustellen und durch Abschreckung das Aufdecken von Tierschutzverstössen zu verhindern. Die Überbringer*innen der schlechten Botschaft sollen kriminalisiert werden, um von den eigentlichen Problemen abzulenken.

Aus juristischer Sicht ist die Schaffung eines neuen Straftatbestandes jedenfalls irrsinnig. Denn wer widerrechtlich in Ställe eindringt, macht sich bereits strafbar (§ 123 StGB, Hausfriedensbruch). Es sei denn, es greifen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe, etwa ein rechtfertigender Notstand wie im Fall des OLG-Urteils. Hieran würde auch ein neuer Straftatbestand nichts ändern.

Wie reagiert ARIWA darauf?
Wir warten ab. Ob der Gesetzgeber tatsächlich tätig wird, muss sich noch zeigen. Wir hoffen, dass er sich nicht von den eigentlichen Problemen ablenken lässt.

Nämlich?
Die Betreiber solcher Anlagen schaffen es tatsächlich, die sowieso bereits absurd niedrigen Minimalvorschriften nochmals zu unterbieten und die Tiere zusätzlich leiden zu lassen. Die Veterinärbehörden schauen erwiesenermassen tatenlos zu. Das ist ein Totalversagen. Wer sich mit der Branche auskennt, weiss, dass dieses Handeln System hat.

Fast jeder tierhaltende Betrieb liesse sich wegen Tierschutzverstössen anzeigen. Solange diese Verdrängungsmentalität der Agrarbranche bleibt, wie sie ist, werden sich immer mehr Menschen von dieser tierfeindlichen Industrie abwenden, und so lange wird es auch Menschen geben, die diese Zustände aufdecken.

Sie waren bei den Recherchen im Jahr 2013 persönlich dabei. Woran erinnern Sie sich ganz besonders?
Am eindringlichsten ist mir der Bereich mit den Abferkelboxen im Gedächtnis. Dort werden die Sauen um den Geburtstermin herum in einem Abferkelkorb fixiert, während die neugeborenen Ferkel um sie rumtapsen, nach den Zitzen und nach Wärme suchend.

Ich weiss noch, dass ich lange vor einer Box gekniet habe, in der ein Ferkel versucht hat, unter die Wärmelampe zu kriechen. Es zitterte stark und war so schwach, dass es nicht laufen konnte. Ich habe es aufgehoben und unter die Lampe gelegt. Ich wollte diesem kleinen flaumigen rosa Würmchen helfen.

In dem Moment wurde mir meine eigene Hilflosigkeit bewusst: ich konnte nichts tun. Es würde die nächsten Tage nicht überleben. Wahrscheinlich wurde es bereits am nächsten Tag getötet.

logo_ariwa

Über Animal Rights Watch e.V (ARIWA)

ARIWA macht das Leid der Tiere für die Menschen sichtbar. Mit sorgfältigen Recherchen, fundierten Informationen und innovativen Aktionen engagieren sie sich gegen Verschleierung und Verdrängung – und für die Anerkennung von Tierrechten. Sie fördern Alternativen wie die bio-vegane Landwirtschaft.

Weitere TIF-Materialien zum Zivilen Ungehorsam in der Tierrechtsbewegung

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